|
Die akademische Zeit ist dem Zeitraum nach kein Stufenjahr. Es gibt aber wohl manchen studierten Mann, der mit dieser ersten Sprosse auf der Freiheitsleiter auch die oberste erklommen hat, und keinen einzigen wird es geben, dem, wenn er schon lange Jahre den Berg des Lebens abwärts steigt, nicht ein Rosenflor der Jugend die welken Wangen überflöge, sooft Gedanke oder Rede rückwärts schweifen auf die kurze Spanne, wo er das Gaudeamus sang und Unsinn Weisheit nannte.
Und da will uns denn bedünken, als ob das Wertzeichen des Zustandes, welchen wir einen glücklichen nennen, weit weniger der Genuß sei, welchen er gewährt, als die Erinnerung, welche er hinterläßt. Denn, ach, wie bleiern drückte oftmals die Gegenwart, die im Gedächtnis so goldig leuchtet! Wie viele freie Musensöhne gab es – und gibt es vielleicht auch heute noch –, denen, wenn sie abends im engen Dachstübchen matt und müde sich auf ihr schmales Federbett niederwarfen, der Kopf geraucht hat nicht nur von den unlösbaren Problemen der Weisheitsschulen, sondern weit mehr noch von den Pauklektionen, in welchen sie den Tag über noch manch dickhäutigeres Haupt als das eigene rauchen machten; die, nur halbsatt vom Freitisch im Konvikt und vom barmherzigen Wandertisch, nach dem Bierseidel und der Knasterpfeife, den mundstopfenden Mächten des knurrenden Magens, vergeblich schmachteten; wie viele, denen, wenn sie sich morgens die bedenklich ausplatzenden Stiefel wichsten und am fadenscheinigen Rock die abgesprungenen Knöpfe festnähten, wenn sie die Kragen und Manschetten, welche das einzige Wochenhemd schamhaft verhüllen sollten, auf die umgekehrte Seite wendeten, denen dann wiederum der Kopf geraucht hat über das Problem der fälligen Wäschgroschen und Schustertaler! Ach, wie viele freie Musensöhne, die – ade, Humor! – sehnsüchtig[349] des goldenen Handwerksbodens daheim gedachten, mit Seufzen die Bissen berechneten, die Vater und Mutter für dieses Martyrium der Gelehrsamkeit dem eigenen Munde absparten, und die dann, »grollend schon in Blütentagen«, ausriefen: »O du Galeere, du Sklavenmarkt von Welt!«
Ja, groß war auch in des Hirtensohnes von Werben Zeit und Zone die Zahl dieser Märtyrer der Wissenschaft, welche die beste Jugendkraft verbrauchten, die Dornen und Steine aus ihrem Wege zu räumen, um dann, vom Bücken gekrümmt, ihre Straße sachte bergan zu schlendern und erst beim Rückblick aus weiter Ferne das Haupt wieder zu heben und zu rufen: »Es war doch schön!« Aber der glückliche Hirtensohn und Stipendiat von Werben gehörte nicht unter diese Zahl.
Auch er kehrte abends in ein Dachstübchen zurück; aber es hatte, wie seine heimische Kammer, einen freien Horizont; und schon im zweiten Semester ragte es über die Baumkronen des schönen Gartens, der die Sternwarte umgab, hinweg, und er hatte seinem Hausherrn, dem jetzt urgreisen Chaldäer, statt des Zinses nicht mehr als diesen und jenen Handlangerdienst in seiner Wissenschaft zu entrichten. Auch er hatte sich mit dem Überschwang des Bejahens und Verneinens in den antagonistischen Theologen- und Philosophenschulen abzufinden; aber er zermarterte sich nicht Herz und Hirn über den festen Punkt, an den er sich in diesem Wirrsal zu klammern habe, denn er wußte eine Ausflucht, wo ihm der ewige Gottesgedanke in ursprünglicher Reine entgegenleuchtete, und war er dann und wann übersatt von unverdaulicher Buchstabenspeise, so ward der Durst nach jenem Born, aus welchem wohl Probleme, aber keine Kontraste rieseln, doch niemals gestillt;[350] sei es, daß er sich morgens unter dem mathematischen Katheder ernüchterte, sei es, daß er nachts durch mächtige Refraktoren eine neue Welt im Himmelsozean auftauchen sah.
Auch er gab in freien Stunden Lektionen und Repetitorien, aber in dem Gebiete, das ihm das geläufigste war, und nur an so weit Vorgeschrittene, bei denen er, indem er lehrte, noch zu lernen vermochte. Auch er setzte dann und wann die Füße unter den Tisch einer freundlichen Studentenmutter; aber nur als geladener, gern gesehener Gast. Er brauchte nicht mit Manschetten und Hemdskragen zu knausern, denn das Waschhaus in der Werbener Pfarre war ein flottes Institut, und wenn er auch seine Stiefel eigenhändig wichste und seine Kleider eigenhändig bürstete, Knöpfe und Bänderchen brauchte einer, der sich Frau Hanna Blümels Sohn nannte, sich nicht eigenhändig anzunähen.
Er war ein kerngesundes Blut, das mit sechs Stunden festen Schlafes übergenug und darum von vierundzwanzigen achtzehn freie Zeit hatte für die Verrichtungen, zu denen der Mensch wache Sinne braucht. Er hatte sich keiner der neuzeitlichen gottesgelehrten Verbindungen eingereiht, war auch weder Burschenschafter noch Korpsbruder irgendwelcher Couleur; demnach ein Kamel, aber doch ein kreuzbraver Kamerad und nach wie vor Peter Kurzens, des standfesten Teutonen, spezialster Spezial, sein zweiter Freund; denn der erste war, »natur- und vernunftgemäß«, Peter Kurze selbst. – Er hat sich wenig in Fechthut und Paukhandschuhen auf der Mensur geübt, aber die Flinte lernte er während seiner freiwilligen Dienstzeit gleich im ersten Jahre handlich regieren. Er hatte eine durstige Studentenleber, für alle Tage indessen doch nur auf klaren Born, und durfte er sich auch nicht der Charakterstärke rühmen, die das Übel und Weh der ersten Knasterpfeife mit stoischem[351] Gleichmut überwindet, um es in der Fertigkeit des Giftverdampfens so weit als möglich zu bringen, ein Spaßverderber war er darum nicht. Er konnte sonder Widerwillen Tabaksqualm riechen und mit Lust einen Salamander reiben helfen, konnte singen, allenfalls auch springen und ließ den Spitznamen des »stillvergnügten Hünen« sich gefallen, als ob es ein Ehrentitel gewesen wäre, würde auch schwerlich Blut darum vergossen haben, wenn ein witzboldiger Kumpan den Hünen in einen Philister umgetauft hätte. Alles in allem: er gehörte auch in dem akademischen Stufenjahre zu den Glücklichen, die schon in der Gegenwart rufen: »Es ist doch schön!«
Ach, die köstlichen Sonntagsstunden, wenn er nach einer Sternennacht und dem Morgengottesdienst den allerneckischsten Röschenbrief erbrach, in Gedanken die vergangene Woche Hand in Hand mit dem lieben Kinde nachlebte und am Abend den Gegengruß, berechnet für das Ohr der gesamten Familie, im allerehrbarsten Dezemsstil niederschrieb! Und dann jene allerköstlichste Zeit – zusammenaddiert ein volles Viertel des Jahres –, die er als alter Pfarrdezem in der Heimat verlebte! Fand er die herrlichen Eltern nicht jedesmal wohlauf und frohmütig wie zuvor? Schienen sie nicht von ihrem Seelenfrieden geschirmt wie von einer Glocke, die sie absperrte gegen den zerstörenden Altershauch? Und fand er nach jeder Pause sein Röschen nicht immer lockender zur Rose erblüht? Klopfte das Herz ihm nicht immer bänglicher, wenn er schied? Wußte er aber nicht auch, daß die Liebeshütte, an der er geschäftig baute, kein leeres Luftschloß war?
Ging er dann freilich aus der Pfarre hinunter in das Schloß, da durchschauerte ihn, je länger je mehr, ein frostiger Odem, als ob er aus einem blühenden Garten in einen[352] sonnenlosen Kreuzgang träte, und das Bild, das er von der ersten Idealgestalt seines Lebens in sein Studentenstübchen zurücktrug, beunruhigte ihn wie ein Rätsel, dessen Lösung dem Klarheit suchenden Sinne nicht gelingt.
Lydia war kaum minder schön als während der kurzen Wochen, da der Schmelz der Liebe ihre Wangen überhauchte; ja vielleicht schöner; klassischer würde ein Künstler gesagt haben; das Auge erweitert, die Haltung majestätischer, die Konturen gefesteter, marmorbleich und marmorgleich. Aber er sah in ihr nicht mehr einen Verheißung blinkenden Stern, und unwillkürlich erneuerte sich nach jeder Begegnung in des Jünglings Seele der Eindruck jener Vollmondsnacht, die als lebhaftestes Ereignis aus seinen Knabenjahren ragte. Die Blicke haften an der stilleuchtenden Scheibe wie an einem friedreichen Menschenangesicht; da jählings breitet der Erdschatten sich über sie, und als sie vor dem hundertfältig geschärften Auge wieder auftaucht, starrt er auf ein versteinertes Landschaftsbild mit weißen Graten und dunklen Abgründen zwischen ihnen, aber ohne belebenden Strahl und Strom: eine erstorbene Welt oder eine werdende? Das ist das Rätsel.
Was fehlte Lydia? Der Vater, vor dem sie sich lebenslang gebeugt? Der Geliebte, der sie ein paar Frühlingswochen hindurch umfangen hatte? Gibt es für solches Entbehren keine ausgleichende Macht, nicht einmal die der Zeit? Schritt sie nicht unwandelbar auf einer ihrer Natur gemäßen Bahn? Hatte sie nicht das Bewußtsein unerschütterlicher Treue, das ja Genügen geben soll? Hatte sie nicht einen tiefgewurzelten Glauben, der ja beseligen soll? Ihr Haus glich einem Kloster. Aber spricht man nicht von kindlich stillen, glücklichen Nonnenaugen? Auch Lydias Augen waren still, aber glückliche Kinderaugen waren es nicht.[353]
Was fehlte Lydia? fragten mit dem Jüngling auch die Freunde in der Pfarre, für welche das herrliche Menschenbild, ebenso wie für ihn, fast unnahbar geworden war.
»Freude fehlt ihr,« schalt Röschen, »nichts als Freude. Wozu ist einer auf der Welt, als seines Lebens froh zu sein und andere sich seiner froh zu machen?«
»Wo das Herz traurig ist, hilft keine Freude,« sprach Vater Blümel dem weisen Salomo nach.
»Die liebe Eitelkeit fehlt ihr, nichts als die liebe Eitelkeit,« brummte Peter Kurze.
»Und das soll ein Mangel sein?« entgegnete lächelnd Pastor Blümel.
»Wenn es der pure, blanke Hochmut ist, der dieses lebenspendende Fluidum – universal verbreitet wie der Sauerstoff der Luft! – aufsaugt, mehr als ein Mangel, Papachen, ein Frevel gegen die menschliche Gesellschaft und eine spontane Verkümmerung des eigenen höchst werten Ich,« eiferte Peter Kurze; und setzte erläuternd, mit einem galanten Kratzfuß gegen Schönröschen hinzu: »›Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten‹, hat der – na, der unsterbliche Wieland gesagt.«
»Beschäftigung fehlt ihr, ausfüllende Tätigkeit,« meinte Mutter Hanna, und ihr Konstantin dagegen: »Ja, was soll sie denn tun?«
Ja, was sollte sie tun? Sie tat, was sie vermochte, oder was ihr zu tun gestattet schien. Der Hausstand war nach wie vor in der Mutter Hand verblieben, aber sie sorgte für ihre Familie wie ein Vater, und da es seit dem Vermächtnis Fräulein Thusneldens in der Gemeinde wenig Notleidende mehr gab, ein wohltätiges Eindringen in das Einzelnleben daher unstatthaft geworden war, förderte sie in den Nachbarstädten die Vereine, welche unter dem Namen[354] der inneren Mission allmählich, wenn auch nur schwächlich in Aufnahme kamen. Mit besonderem Eifer, weil durch eine Persönlichkeit angeregt, widmete sie sich aber den Interessen der äußeren Mission.
Einer der getreuesten Freunde ihres Vaters, der Bruder des Professors Hildebrand, hatte, nachdem er seiner Pfarrstelle verlustig geworden, gefolgt von Weib und Kind, sich der englischen Missionsstation in Palästina angeschlossen und daselbst in religiösem wie in ethnographischem Betracht einen ausgiebigen Wirkungskreis gefunden. Sein »Palmental« war der jungen Freundin vertraut wie eine Heimat geworden, aus seiner Seele zog in die ihre das Verlangen, dem protestantischen Deutschland eine bis dahin schlummernde Teilnahme für die Heilsbestrebungen der englischen und amerikanischen Stammes- und Glaubensgenossen an dieser hehrsten Stätte anzuregen. Sie las, korrespondierte, spendete, sammelte für diesen Zweck, sie schrieb zu seiner Förderung sogar in Zeitschriften, die ihm zu dienen geeignet waren, und da ein verwandtes Streben gleichzeitig in höchstgestellten Kreisen wach geworden war, wurde der Name Lydias von Hartenstein zu einem weithin genannten, während doch ihre Person in fast unnahbarer Zurückgezogenheit verharrte. Eine fürstliche Frau bot ihr einen Wirkungskreis in ihrer unmittelbaren Nähe, mit vom Hofleben befreienden Befugnissen an. Lydia lehnte ihn ab. Die Pflicht, der sie ihr Glück und ihren Herzensfrieden zum Opfer gebracht hatte, war noch nicht erfüllt; sobald sie es sein würde, hegte sie den Plan, in dem neuerrichteten evangelischen Krankenhause der Hauptstadt abschließend einen Beruf zu suchen. Auch bewog sie ihre Schwester Priszilla, in der Zwischenzeit für sie einzutreten.[355]
»Nicht,« wie sie dem abmahnenden Pastor Blümel sagte, »nicht, daß das lebensfrohe Kind in diesem schweren Dienst eine dauernde Aufgabe finde, nur eine Schule, wie jedes Mädchen sie durchmachen sollte, um der ernstesten und wichtigsten weiblichen Aufgabe gerecht zu werden.«
Und bevor ein Jahr ablief, hatte das schöne, lebensfrohe Kind aus dieser ernsten Schule einen allerseits befriedigenden Ausschlupf gefunden. Ein Kranker, den sie gepflegt, ein nicht mehr ganz junger Beamter, mäßig mit Glücksgütern gesegnet, aber von guter Familie und strenggläubiger Richtung, daher voller Aussicht zu einer gedeihlichen Laufbahn, bot ihr seine Hand. Sie wurde von Herzen angenommen, und Phöbe, eben herangewachsen, rat an der Schwester Stelle, um nach kaum Jahr und Tag denselben natürlichen Ausweg zu finden. Ja, vielleicht könnte es sich heute noch zutragen, daß einem jungen Fräulein, zumal wenn es sanft und schön wie die Hartensteinschen ist, leichter im Krankensaal als im Ballsaal die Myrte blüht.
Als Dezimus Freys Studienzeit zu Ende lief, lebte Lydia mit der Mutter auf dem Schlosse allein; sie lebten würdig, friedlich und einig nebeneinander, wenn auch nicht miteinander oder ineinander. Frau von Hartensteins Tage waren nach Bedürfen ausgefüllt. Sie schrieb viel mütterliche und empfing viel kindliche Briefe; sie hatte Aussteuern herzustellen, Hochzeiten auszurichten, endlich ein erstes Enkelkind zu wiegen. Was braucht eine Ottilie mehr? Lydia aber, glich ihr Leben denn nicht dem »der hohen freien Geister«, für welches ihr Vater sie zu bilden gehofft hatte, erhaben über die gemeine Not? Und dennoch sagte Konstantin Blümel in jener Zeit von ihr zu seinem Sohn: »Sie siecht an ihrem Ideal!«[356]
Vor keinem Menschen hatte Lydia jemals den Namen ihres einstigen Verlobten wieder genannt; auch Sidonie würde für sie eine Verschwundene gewesen sein, wenn Pastor Blümel, dem die Aussöhnung der Familie eine Herzenssache war, sie ihrem geistigen Gesichtsfelde nicht beharrlich genähert hätte. Die erste Anknüpfung bot der folgende Brief, welchen Dezimus an seinem nächsten Geburtstage erhielt.
»Da die vorjährigen guten Wünsche uns in der Kehle steckengeblieben sind, erhalten Sie, wertgeschätztes Johanniskind, die Dosis heuer verdoppelt. Ich sehe im Geiste Sie umschichtig sich erlaben an den Tafeln der Leviten und Chaldäer und rufe ehrlichen Glaubens: Wohl bekomms! Ein braver Hirtenmagen verträgt sauer und süß.
Nächstdem sollen Sie gebeten sein, sooft Sie etwas zu schreiben wissen, mir einen Brief zu schreiben, frisch von der Leber weg, sonder drapierende Gazewolken, die in unserem biderben Deutsch die Welt allemal gleichsam mit Brettern verschlagen und für geschmackvolle Leute, wie Sie und ich, vollständig aus der Mode gekommen sind. Auch sollen Sie gleiche Gunst von ihrer Rose erbitten; unter dem lockigen Strudelköpfchen blüht manche Blume auf, deren Duft mich erquicken würde.
Ich grüße die gemütliche Pfarrfreundschaft in corpore; die heilige Schloßfreundschaft nicht einbegriffen; denn ich grüße nur solche, mit denen ich es gut meine, und gut meine ich es mit meiner sublimen Sippe noch immer keineswegs. Aber nicht mehr wegen der Johannisoffenbarung vom vorigen Jahr und ihren Konsequenzen. Aus reiner Idiosynkrasie. Der Lilienduft ist für meine Nerven zu stark. Im übrigen verweise ich, konform dem Gesetz der reinen Vernunft, auf Mama Brigittens Deklaration und rechne darauf,[357] daß der Reverend Primrose Numero zwei mich mit seinem Notpfennig aus dem Werbenschen Opferkasten fortan in Frieden lasse. Sela.
Ein Stücklein von Held Martin muß ich indes doch noch zum besten geben, bevor ich hinter die feindliche Basenschaft ein Punktum mache; ein Romanstreich, unverkennbar seiner spezifischen Phantasie entsprungen und doch korrekt ein pröpstlich Hartensteinsches Bravourstück. Vernehmen Sie also, daß er mir in optima forma seine tapfere Hand angetragen hat. Mir sage ich, und bin heilig davon durchdrungen, daß er mit diesem Mir nicht Papa Mehlborns gelegentliche Erbin, sondern die von seiner Familie gekränkte Unschuld im Sinne gehabt hat, wie ich gleicherweise davon durchdrungen bin, daß er unter dem Druck des erhaltenen Korbes nicht an Herzbrechen sterben wird. Und so möge sein ritterlicher Wille ihm mit einer Lorbeerkrone vergolten werden.
In Parenthese und zu Ihrem Nutz und Frommen, hoffnungsvoller Candidatus theologiae und matrimoniae: es gibt keine zärtlichere Paarung, als wo das Fräulein klug und mit einem kleinen Verdruß irgendwelcher Art behaftet, das Männlein statt dessen mäßig gewitzigt, aber schön und womöglich ein Jahrzehent jünger ist. Umgekehrt, will sagen: das weibliche Anwesen jung und einfältig und der Gespons ältlich und hell, da mag der Engel mit dem feurigen Schwert immerhin schon ein wenig auf der Lauer stehen. Wo aber der göttliche Intellekt halbiert ist und Adam dem Evchen, Evchen dem Adam mit gleichscharfen Augen auf die Finger passen, die nach der verbotenen Apfelfrucht langen, da ist der Weg vom Paradies zum Infernum ein Katzensprung; wennschon es auch von dieser Erfahrungsregel gesegnete Ausnahmen gibt, wie ich selbiges[358] an dem philosophischen Konsortium, zu dem ich neuerdings in Kindschaft getreten bin, Tag für Tag erfreulich wahrzunehmen habe.
Nun aber endlich zu den Fragen, mit welchen ich die hochwürdige Blümelei im Chorus mich bestürmen höre: ›Wie treibts die kleine Sidi? Wie geht es, wie gefällt es ihr in der arktischen Zone, nach welcher sie urplötzlich aus Arkadien verschlagen wurde?‹ Ei nun, leidlicher und lustiger, Freunde, als Ihr es Euch träumen lassen mögt; wennschon es ein eigen Ding bleibt, sich die Kindlichkeit anzugewöhnen in einem Stadium, das sich die Würden einer Respektsperson gefallen lassen könnte. Meine Mutter ist keine von den Musen und Grazien, die ich als Nonplusultra der Weiblichkeit zu verehren gewöhnt worden bin; aber eine gescheite, grundredliche, grundtüchtige Frau. Ich merke mit Staunen, wieviel von ihrem Blute in meinen Adern rinnt. Ja, hätte ich mich ihrer physischen Naturkraft zu erfreuen, wer weiß, ob ich nicht im allereigentlichsten Sinne ihre Tochter geworden wäre. Aber diese Natur! Freund Peter Kurze möge hören und staunen! Nie im Leben hat ihr ein Finger weh getan; ich bin überzeugt, daß sie uns Kinder vom Baume geschüttelt hat; nie im Leben hat sie einen Nerv zucken gespürt; härter noch als ihr Wille ist ihre Haut. Stellen Sie sich vor, daß sie bis tief in den Herbst hinein in unserem See badet, während mir mitten im Sommer die Hand abstirbt, wenn ich sie eine halbe Minute aus dem Boot in das eisige Wasser tauche. Reines Nixenblut!
Der Professor – er prätendiert nicht, daß ich Papa zu ihm sage, sondern begnügt sich mit dem guten Freund – ist ein Ehrenmann. Gentleman würde in gewissem Sinne viel zu wenig und in einem anderen ein wenig zuviel für ihn sein. Kurzum wir vertragen uns, sonder anstrengende[359] Toleranz. Das Land sagt mir zu; wenn nicht in Italien, wüßte ich nicht, wo ich lieber leben möchte. Für meinesgleichen kommt gleich nach der hohen Kunst die hohe Natur und die hohe Gesellschaft erst ein weites Spatium hinterdrein. Indessen ist es auch mit der letzteren nicht ganz so eidgenössisch nüchtern, wie ich gefürchtet hatte, bestellt. Wir verkehren fast nur – wennschon nicht absolut aus freier Wahl – mit Ausländern, will sagen zumeist Deutschen: Flüchtlingen, Mißvergnügten, Phantasten, Narren, aber auch etwelchen tüchtigen und vielen gebildeten Köpfen dermang. Frau Brigitte Zacharias spielt unter diesen Römern in spe die Rolle einer inspirierenden Egeria; ihr Fräulein Tochter die einer preußischen Volumnia oder dergleichen. Will sagen, die kleine Sidi spielt die Patriotin im Ernst. Die schwarzweiße Kokarde ist ja ihr einziges Hartensteinsches Erbe. Leider, daß sie es nicht mit ihrem Bruder teilen kann. Sie wissen ja aber wohl, wie man dem armen Jungen im Vaterlande mitgespielt hat.
Doch ich bin noch nicht mit der kleinen Sidi zu Ende, da ich ja kein Wort von ihrem wesentlichsten Ingredienz, der edlen Musika, erwähnt habe. Und da hat das Blatt sich denn so kurios gewendet, daß sie, in Ermangelung von fertigen Meistern, mit sehr unfertigen Schülern fürliebnimmt und – hört, hört! – und – na dreist heraus! – Klavierstunden gibt; Tag für Tag vier bis sechs Stück à vier bis sechs Frank, wobei sie sich das Jahr netto auf tausend Taler steht. Wie die alte Harfenmuhme vor Lachen sich schütteln wird, wenn sie aus hohem Himmelsfenster dieses Treiben einer Werbenschen Geschlechts nach folgerin erspäht! Denn bis zur reifenden Traurigkeit, Papa Blümel, wird sie es binnen Jahr und Tag dort oben wohl schwerlich gebracht haben. Tat sie sich doch noch in ihrer letzten Stunde etwas[360] darauf zugut, in diesem irdischen Jammertale eine Achtzigerin geworden zu sein, ohne, es sei denn im Wickelbunde, eine Träne vergossen zu haben.
Item, es ist ein gutes Geschäft bis auf die rebellischen Nerven. Ihrethalben bin ich indessen schon wiederholentlich auf den Einfall gekommen, in meine sogenannte Heimat zurückzukehren und mich allda redlich, aber etwas gesundheitlicher zu nähren, indem ich mit dem Material Papa Mehlbornscher Kuhställe eine Molkerei im großen begründete. In der Schweiz lernt sich so etwas, und fertig brächte ich allenfalls auch das. Die klügste aller Pfarrmütter hatte, irre ich nicht, schon vorig Jahr, etwas derart mit mir im Sinn. In jenem sturmflutigen Zustand war es zu früh dazu, und heute wahrscheinlich auch noch. Wenn Mama Blümel mir indessen im Milchkeller des Talgutes jährlich tausend Taler verbürgen könnte – denn auf das liebe Geld bin ich ein Vogel, der es Vater Mehlborn wettmacht –, wer weiß, ob ich nicht die patriotische Paukmamsell in der Diaspora aufgäbe und Euch das idyllische Rührstück vorführte: Sidonia in der Käserei!
Und nun zu guter Letzt noch einen Blick auf den, dessen Stern, ist er gleich aus der Region Ihrer regierenden Jungfrau gestürzt, Ihnen, getreuer Hirtensohn, denke ich, doch immer noch anziehender leuchten wird als der, welcher über dem Haupt der Melkerin der Zukunft kulminiert. Nun, auch mein Mäxchen läßt es sich gefallen, so wie er es treibt, treibt er es auch just nicht so, wie Sie und andere Leute es für ihn in Aussicht genommen hatten. Der Mensch zieht ja nun einmal einen Mißstand seiner Wahl dem Wohlstande vor, den sein bester Freund für ihn ausgeklügelt hat, und nennt seine Freiheit das, was er im Grunde seine Unfreiheit nennen sollte. Kurz und gut: das Mäxchen ist[361] auf dem Wege nach Rom in Paris hängengeblieben – dem rechten Platze, häßliche Erfahrungen zwar nicht zu verwinden, aber zu vergessen –, und er schwingt allda tapfer nicht bloß die Adlerfeder des Poeten, sondern, wie tutti quanti, auch die Hahnenfeder des Publizisten. (Falls sein jüngster Ruhm noch nicht bis in Ihre Pflegstätte deutscher Wissenschaft gedrungen sein sollte, erlasse ich Ihnen, denselben auszuposaunen.)
Mag er! ›Singt er sich auch nicht in eine Fürstengruft‹, wird der Huf seines Pegasus auch keine Republik der Gleichheit und Brüderlichkeit aus unserem biderben vaterländischen Boden stampfen, solange er bei diesem oder irgendwelchem anderen unschuldigen Zeitvertreib sich frei fühlt und froh, wird frei und froh sich fühlen auch der kleine Trabant, der, nur mit bewaffnetem Auge erkennbar, sich um diesen bis jetzt noch sehr veränderlichen Stern bewegt. Woher kommt denn alles Glück, freilich auch alles Unglück in der Welt, als daß wir, coûte que coûte, uns an ein Individuum hängen müssen, oder sei es meinetwegen an ein Ding? Bleiben Sie darum den hohen Himmelsaugen treu, Hirtensohn. Sie riskieren mit ihnen weniger von Ihrem Johannissegen als mit allen, die Ihnen hienie den blitzen und blinken würden. Solches wünschend verbleibe ich meines standfesten Freundes Polarius gleicherweise standfeste Freundin Sidi.«
Die Freunde in der Pfarre spürten zwischen den scherzhaften Worten manchen unterdrückten Seufzer und manche unterdrückte Träne heraus; und wenn es eine gute Art des Mitleids ist, anderen Mitleid ersparen zu wollen, so wurde die Absicht hier nicht erreicht.
Der Eindruck wiederholte sich bei jedem der späteren Briefe, die regelmäßig am Johannistage eintrafen und in[362] Text wie Ton nicht wesentlich anders lauteten. Sie wurden gleich dem ersten von der gesamten Familie, in verteilten Gebieten, ausführlich beantwortet, so daß die Entfernte in ihrer sogenannten Heimat wohl orientiert bleiben durfte. Dezimus, als Auswärtiger, begnügte sich mit dem Referat über seine eigene bescheidene Person und die Zustände seiner Akademie. Vater Blümel, der Versöhner, behandelte den Artikel: Lydia.
Das liebe Röschen hatte sich Held Martin als Gegenstand auserkoren und freute sich, schon im nächstjährigen Briefe durch folgende Eröffnung auf einen interessanten Effekt rechnen zu können.
»Den alleruntertänigsten Gratulationsknicks zu der Krone, welche meines lieben Fräuleins Sidi verehrlicher Herr Vetter und Freier sich schon in jungen Tagen erworben hat; wenn es vorderhand auch nur eine Myrtenkrone ist. Binnen weniger Wochen feiert er im Werbenschen Ahnensaale Hochzeit mit einem verwaisten Fräulein, das sich zweiunddreißig reiner Ahnen und des erforderlichen ›Kommißvermögens‹ – seine, des Helden Bezeichnung, nicht meine! – zu erfreuen hat. Ein hochnäsiges, blasses Spürrippchen, nach unserem ländlichen Dafürhalten! Der bravste der Braven gab einem gewissen schwarzlockigen Strudelköpfchen nicht undeutlich zu verstehen, daß er kein weibliches Wesen seinem Ideal so gänzlich entsprechend gefunden haben würde als eben besagtes Strudelköpfchen; daß er aber, auch abgesehen von dem Kommißvermögen, als ein Hartenstein Rücksichten zu nehmen habe, welche gewöhnliche Leute Vorurteile nennen. Ei nun, Spürrippchen oder Strudelköpfchen, einmal unter dem Pantoffel, ist er der Held, der mit diesem oder jenem in ein Himmelreich kommt. Mein Dezem gehört, wenn auch aus einigermaßen[363] abweichenden Gründen, zu der nämlichen Couleur, mit der wir Mädchen uns eigentlich gar nicht einlassen sollten. Denn wenn ein Mann durch uns nicht unglücklich werden kann, wie soll er denn durch uns glücklich werden, oder wir durch ihn? Versucht wird es mit dem Dezem aber doch wohl werden müssen.«
Jedem dieser Briefe wurde allerseits eine herzliche Einladung in das Pfarrhaus beigefügt. Am dringlichsten von Mutter Hanna, wenn sie es auch ablehnen mußte, die Bürgschaft für eine auf dem Talgute zu errichtende Schweizerei so wiet zu übernehmen, daß durch ihre Erträge einem Freiheitsdichter in der Metropole des Genusses die Adlerfeder mit feinem Golde überzogen werde. Über Papa Mehlborn, ihre briefliche Spezialität, konnte Mutter Hanna von Termin zu Termin lediglich berichten, daß er rüstig weiterwirtschafte und nur sein Augenlicht immer bedrohlicher im Abnehmen sei. Er stände ja aber auch hoch in seinem achten Jahrzehnt.
Philipp von Hartensteins Vormund war ein gewissenhafter Herr. Wenn er unter den Hörern seines Kollegs einen gefunden hätte, dessen mathematische Beflissenheit der exegetischen nur annähernd ebenbürtig gewesen wäre, würde er, ohne auf heimische Beziehungen Rücksicht zu nehmen, den Zögling des toleranten Pfarrers von Werben ebenso fern von seinem Zögling gehalten haben, als jener sich schon seit dem zweiten Semester fern von des keineswegs toleranten Herrn Professors Privatissimum hielt. Da außer dem Studiosus Frey solch ein närrischer Kauz, der die Mathesis pura als genußreiches Nebenstudium der Exegese betrieb, nun aber einmal nicht aufzutreiben war, und da der Schematist von Staat nun einmal einen[364] gewissen Grad der Mathesis pura für einen zukünftigen Jünger Doktor Martin Luthers unerläßlich fand, da endlich auf diesem neutralen Gebiet konfessionelle Widersprüche nicht zu befürchten waren, machte er aus der Not eine Tugend und wendete dem armen Hutmannssohne von Werben für wöchentlich vier Pauklektionen wöchentlich acht gute Groschen zu. Denn sotane Lektionen aus landsmannschaftlicher Gefälligkeit gratis anzunehmen, dieses hoffärtige Ansinnen konnte dem armen Hutmannssohne selbstredend nicht zugestanden werden.
Nun, wenn auch dafür abgelohnt, machte es Dezimus Freude, seines weißen Fräuleins erziehende Aufgabe, die in bezug auf den Knaben eine schwere war, um ein Bruchteil zu erleichtern, und er nahm es geduldig in den Kauf, daß, bevor das Buch aufgeklappt wurde, regelmäßig ein Sturm leidenschaftlicher Klagen und ein Strom von Tränen, Tränen der Wut, beschwichtigt werden mußten.
Philipp hatte sich während des Siechtums seiner leidenschaftlich geliebten Mutter darein ergeben, dem vom Vater erwählten Tutor zu folgen, und es war im Grunde ja auch nur eine häuslich strenge Regel, welche er mit der anderen vertauschte. Aber es ist ein Unterschied, ob das Haus, in welchem solche Regel waltet, in lachender Landschaft gelegen ist oder in einer halbdunklen, rauchigen Stadtgasse; ob Andachten und Choräle in hohen Sälen erklingen oder in einer engen Gelehrtenstube, ob Benedikte und Gratias an einer völlig besetzten Familientafel gesprochen werden oder vor und nach dem bescheidenen Mahle eines Professors mit dreihundert Talern Gehalt und den Kollegiengeldern eines Privatissimums, das die Zahl der Musen selten erreichte; ob man in den Freistunden sich auf blühender Gartenterrasse – wenn auch nur in Gesellschaft von ein[365] paar Schwesterchen – austummelt oder sterbensseelenallein in einem mauerumragten Hinterhof; vor allem aber, ob eine zärtliche Mutter wie Frau Ottilie das weibliche Element der Familie vertritt oder eine ältliche, emsige, kinderlose Schaffnerin wie die Hausfrau des Professors Hildebrand.
Hatte schon daheim Magister Klein seine liebe Not mit dem Stillsitzen des lebhaften, nicht unbegabten, aber widerwillig lernenden Knaben gehabt, so war diesem jetzt nun alles und jedes zuwider, sträubte gegen alles und jedes sich sein Hartensteinsches Blut. Unter den Augen seines Zwingherrn saß er mucksmäuschenstill, mit verbissenem Grimm; in der Klasse verstopfte er sich gleichsam die Ohren, um wegen Ungelehrigkeit und Trotz je eher je lieber von der Schule gejagt zu werden. Vor seinem »lieben guten Dezimus« aber tobte er sich aus wie ein unbändiges Füllen. Er wollte fort aus dem Pfaffenhause, in das Kadettenkorps, in die weite Welt, gleichviel wohin, nur fort, fort! Er wollte kein Schwarzrock, er wollte Soldat werden wie alle Hartenstein, sogar sein Vater, als er noch jung gewesen. Warum hatte Martin werden dürfen, was ihm gefiel? Wer gab einer Schwester das Recht, ihren Bruder zu zwingen in ein Verhältnis, das ihm widerstand?
Bei jedem Ferienbesuche brachte er die nämlichen Klagen und Beschwerden auch den Seinigen zu Gehör, wenn auch in abgedämpften Tönen. Denn der Mutter erweckten sie nur unstillbare Seufzer und Tränen, und vor Lydia scheute er sich, da in ihrer Hand ganz allein – das einzusehen war er klug genug – sein Schicksal lag. Wenn er aber niemals eine andere Antwort erhielt als: »Es ist deines seligen Vaters Wille gewesen, harre aus!« dann stürmte[366] er verzweifelnd in die Pfarre, wo er in Röschen eine offene, in Mutter Hanna eine heimliche Verbündete gegen den Gewaltakt, der an ihm verübt ward, fand, und was Pastor Blümel zur Begütigung dagegen redete, redete er in den Wind. Nicht in den Wind, sondern wie gegen einen ehernen Wall redete Pastor Blümel aber auch zu dem Herzen der väterlich geliebten Lydia, sooft er sich ihr gegenüber zum Anwalt ihres Bruders aufwarf. Sie fragte ihn, ob er in seinem Pflegesohn die Neigung zu einem diesem angemessen dünkenden Beruf nicht gleichfalls niedergehalten habe?
»Nur die Entscheidung dafür bis zu der Zeit seiner Reife,« antwortete Pastor Blümel.
»Mehr fordere auch ich nicht,« versetzte Lydia. »Sollte für einen halbwüchsigen Knaben die Zeit der Reife aber schon gekommen sein? Und was geht Philipp ab? Würde er in einem Alumnat, wie Sie es vorschlagen, größere Freiheit haben?«
»Keineswegs, und diese würde auch keineswegs zu wünschen sein. Aber eine jugendlich gesellige Sphäre, in welcher er sich nicht in das Extreme getrieben fühlte. Bei jedem zu bildenden Menschen muß mit seinem Temperament gerechnet werden.«
»Er ist als jüngstes Kind durch übergroße Liebe verwöhnt; strenge Zucht tut ihm not. Das Leben ist kein bequemes Schaukelbett. Er steht unter Obhut der gewissenhaftesten Pfleger, der treuesten Freunde seines Vaters. Er wird eines Tages arm sein. Je einfacher seine Lebensweise geregelt ist, um so leichter wird er künftige Beschränkungen ertragen. Jedes Kind soll erzogen werden gemäß der Lage, welche sein von Gott berufener Hüter für ihn voraus zu berechnen vermag. Mein seliger Vater[367] hat bitterlich gelitten, weil, wie er glaubte, diese Erkenntnis ihm zu spät gekommen ist.«
Was sollte Pastor Blümel diesen logischen Folgerungen entgegenhalten? Er seufzte. Aber der Seufzerhauch machte nicht, wie der Dichter es will, »ihm der Seele Spiegel klar.« Eine deutliche Stimme warnte ihn, daß dieses seltene Mädchen an seiner wichtigsten Aufgabe scheitern werde, indem es sie überspanne, und daß ihr eigener Frieden schwerer als der des anvertrauten, leichtblütigen Knaben bedroht sei. Lydia krankte an ihrem Ideal, und dieses Ideal war der Glaube an vollkommenen Menschenwert. Sie hatte ihre Liebe zu Max als eine Irrung erkannt, aber als eine Irrung, von der sie nicht zu genesen vermochte, und eben darum war sie hart mehr noch gegen sich selbst als gegen den Bruder, in welchem sie einen Bluts-und Geistesverwandten des Geliebten mit nur weit schwächerer Begabung sah. Selbst ihr Vater stand vielleicht nicht mehr ganz so hoch wie einst auf dem Piedestal in ihrer Brust.
Indem Pastor Blümel diese sorglichen Erwägungen in des Sohnes Seele ergoß und dessen Bitten um eine angemessenere Behandlung seines jungen Freundes mit ihnen abfertigte, fühlte sich nun aber der Jüngling weit mehr als der Greis der ersten Idealgestalt seines Lebens innerlich entfremdet. Die kindliche Vertraulichkeit hatte mit Maxens Dazwischentreten ja aufgehört; Dezimus sah Lydia seit Jahren nur noch gleichsam aus der Ferne; Erinnerung und Phantasie jedoch arbeiteten an dem weißen Fräulein geschäftig weiter, bis allmählich und immer dichter zum Herzen hinan ein kalter Nebelbrodem sich zwischen sie und ihren jugendlichen Bewunderer drängte.
Je schattenhafter nun aber das Bild des weißen Fräuleins[368] in seiner Seele verblaßte, um so wesenhafter gestaltete sich die Neigung zu der süßen Rose, deren Duft er nach jeder Trennungspause begehrlicher in sich sog. Er dachte gar nicht mehr daran, nach Ablauf seines Trienniums sich noch einmal zu abstrakten Messungen auf die Schülerbank zu setzen; er dachte nur so rasch als möglich ein fertiger Mann, ja durch Aneignung des besten Teiles seines Selbst erst recht zum Mann zu werden. Dezimus, Dezimus, hüte dich! Du bist bisher sonder Hast noch Rast, wie es einem Glücklichen eignet, deine Bahn gewandelt. Hüte dich vor den Dämonen, Jüngling! Laß es mit deinen Sternen nicht deinen Stern dich kosten!
Peter Kurze war es, der jezeitige Doktorand, welcher, etwas weniger euphemistisch ausgedrückt, diesen Warnungsruf vernehmen ließ. »Stillvergnügter,« sagte er, »das Kandidatenfieber ist bei dir ausgebrochen!«
Aber Dezimus lächelte nur ob dieser Prognose. Die Sache lag nicht entfernt so bedenklich, wie der Medikus in spe erachtete. Keine Spur von Fieber. Peter Kurze war selber verliebt, daher nicht klarsichtig; in das liebe Röschen verliebt, daher eifersüchtig; viel stärker verliebt als Dezimus, weil ein paar Jahr älter und obendrein Mediziner, will sagen ein Praktikus des Natürlichen und keine Spur von Idealist. Wächst solch ein Kandidatenparoxismus zwanzig Jahre lang aus der Wiege heraus? Trägt Dezimus an seinem Finger ein Ringlein, das zu einer künftigen Kette den Anfang bildet? Hat er dem schwarzen Strudelköpfchen eine einzige Locke geraubt? Sammelt er Vergißmeinnicht oder Busenschleifen? Begnügt er sich nicht mit dem Lichtbild in seinem Herzen, statt auf ihm eines zu tragen, wie der fortschreitende Erfindungsgeist seit kurzem sie an Stelle der mühsam mit dem Storchschnabel entworfenen[369] Schattenbilder unserer Väter im Umsehen von der Zauberin Sonne zeichnen läßt? Von all diesen Liebhabermerkmalen kein einziges! Nicht ein Wort ist zwischen dem Studenten und seinem Röschen gefallen, das der Kandidat und seine Rose hätten einlösen müssen. Endlich aber die Hauptsache: was hätte es denn verschlagen, wenn das Kandidatenfieber ausgebrochen wäre? Nur in der Ordnung würde es gewesen sein.
Hieß er denn nicht schon seit Monden Herr Kandidat? Hätte er nicht Predigten halten können, so viel ihm und seinen etwaigen Zuhörern beliebte, ohne daß ein gewogener Professor sein Approbatum darunter setzte? Und ist dieser Abschnitt nicht lediglich darum unerwähnt geblieben, weil er im Grunde ein Abschnitt nicht war und das Aufhören des Trienniums und Stipendiums in seinem Tageslauf so gar wenig geändert hatte! Statt gottesgelahrte Kollegia zu hören gibt er etliche Unterrichtsstunden in einer höheren Lehranstalt, sitzt aber nach wie vor zu Füßen seines herrlichen Chaldäers und arbeitet in der Zwischenzeit mit Feuereifer an der Vorbereitung zu dem Examen pro ministerio, nach welchem der Ordination nichts mehr im Wege steht. Bei dem bevorstehenden österlichen Ferienbesuche wird er seinem Vater erklären, daß im Gestritt der Schulen das, was not tue, ihm unverkümmert geblieben und daß er freudig gewillt sei, dem Vater zur Seite zu treten, sobald dieser ihm sagen wird: »Ich bin müde geworden, mein Sohn. Stehe mir bei, die Seelen unter meinen Augen ein wenig höher gen Himmel zu richten.« Warum soll der Kandidat daher nicht so gut wie jeder andere an Hüttenbauen denken?
Ja, er lachte den Doktoranden recht stillvergnügt ob seiner Diagnose aus. Bei alledem aber lachte er noch viel[370] stillvergnügter, als besagter Doktorand und Rival ihm erklärte, daß er der verflixten Promotion halber sich heuer den Appetit auf Mutter Blümels Osterfladen verkneifen müsse, um ohne Gefühlspause über der Pathologie einer Fettleber, seiner schriftlichen Probearbeit, zu büffeln. Es rann in Freund Dezems Adern kein Othelloblut; absolut ohne Dämonen geht es aber auch in der stillvergnügtesten Brust nicht ab. Die Osterwanderung ohne seinen besten Freund kam ihm noch einmal so vergnüglich vor.
Aber noch ein zweites, leider wenig frohstimmendes Anliegen sollte während ihr erledigt werden. Sämtliche Repetitorien, bis auf das seines jungen Landsmannes, waren aufgegeben worden. Jetzt mußte auch dieses wenigstens beschränkt werden. Die Examenansprüche drängten, und ein erster schriftstellerischer Versuch, ein astronomischer Leitfaden, den er unter der Ägide seines getreuen Himmelsführers unternommen hatte, sollte womöglich noch vor jenem Abschluß vollendet werden. Es galt daher, die Zeit gründlich auszukaufen. Und Philipp hätte doch mehr denn je nicht bloß einer fördernden Nachhülfe, sondern auch eines hingebenden Umgangs bedurft.
Er war zum zweiten Male nicht nach Prima versetzt worden und bäumte sich mit äußerstem Trotz gegen den aufgedrungenen Schülerberuf. Da ihm, als Strafe für seine Lässigkeit, die österliche Ferienreise untersagt worden war, hatte Dezimus sich vorgesetzt, sein Fürsprecher bei Lydia zu werden, um ihre Zustimmung zu der ersehnten Soldatenlaufbahn zu erwirken. Der brave Hirtensohn! Eine Ader Don Quixotes spukte doch wahrlich in seinem mathematischen Kopf. Sich zu unterfangen, woran Konstantin Blümel, der Versöhner, gescheitert war!
Am Nachmittag vor der Reise saß er bei dem Artikel[371] »Sternschnuppen«, einem Leibartikel, über seinem Leitfaden, als Philipp in das Stübchen stürmte und sich lautjubelnd ihm in die Arme warf. Die Decke in seines Professors Rauchneste war zusammengestürzt, es mußte ein Umbau und eine Neuordnung der Bibliothek vorgenommen werden; der unbequeme Hausgenosse wurde daher bis nach den Festtagen zu seiner Mutter entlassen. Dezimus hatte die Eisenbahn, die zwischen der Universitäts- und der Werbenschen Kreisstadt schon seit Jahren fertiggestellt war, noch niemals benutzt; er schritt mit Lust von Zeit zu Zeit einmal tüchtig aus. Dem jungen Faulpelz war nun als Strafe diktiert worden, die Reise statt wie bisher per Dampf diesmal per pedes mitzumachen. Was doch dieser gelehrte Professor für ein Menschenkenner war! Die erste Fußreise, eine Wanderung mit seinem lieben guten Dezimus – eine Strafe! Ach, wenn er doch die ganze Welt mit ihm hätte durchwandern können! Das große Kind hatte sich bereits probeweise Ränzchen und Botanisiertrommel umgehängt, auch einen gewaltigen Knotenstock zugelegt. Er glich dem Vogel, dem die Käfigtür geöffnet worden ist, er sang und pfiff vor heller Lust, krähte wie ein Hahn und wieherte wie ein Roß. Es war ja ganz unmöglich, daß er je wieder in das grauliche Nest zurückkehrte. Wenn nur sein lieber guter Dezimus ihm tapfer beistände, mußte Schwester Lydias steinhartes Herz ja endlich erweicht werden. Der mütterlichen Zustimmung war er längst gewiß. Zum Winter trug er den bunten Rock.
Während dieses wohligen Flügelschlagens erdröhnten die Treppe herauf wuchtige Tritte, die Tür wurde aufgerissen, und in ihrem Rahmen erschien eine Gestalt, die sich bücken mußte, um nicht anzustoßen; halben Kopfs höher als der Hüne unter den Musensöhnen und mindestens[372] noch einmal so breit, wennschon besagter Hüne sich auch keiner Wespentaille zu rühmen hatte. Ein Prachtstück von Mann mit seinem rötlich gelockten Haar und Bart, dem wetterbraunen Gesicht und den weitgeöffneten meerdunklen Augen. Er kam Dezimus bekannt vor, obgleich er doch wußte, daß er ihn niemals gesehen hatte; so wie ihn hatte er sich seinen Vater vorgestellt, seinen armen Vater, ehe er bis zur Hutmannshütte herabgesunken war.
»Na, wer von euch Jungen ists denn?« rief der Fremde mit hauserschütterndem Baß; als aber die »beiden Jungen« verwundert schwiegen, brach er in ein schallendes Gelächter aus und sagte, indem er sich mit der Faust vor die Stirn schlug: »Dummrian! der winzige Piepmatz kanns doch nicht sein!« Dabei kriegte er den Großen beim Kopf, schmatzte ihn auf beide Backen, preßte ihm die Hände, daß ihm, der sonst bei einer Kraftäußerung just nicht zimperlich war, ein »Au!« entfuhr, und erst nach dieser tatsächlichen Begrüßung stellte er sich vor mit den Worten: »Ich bin Bruder Klaus!«
Da gab es denn viel lautes und stilles Vergnügen, dann aber gewaltige Neugier und gewaltigen Durst. Den letzteren von seiten des Steuermanns, die erstere nur von seiten der beiden Jungen. Denn Bruder Klaus wuße ja aus zweilangen Schreibebriefen, wie es dem Zehnten des Hutmannshauses gegangen war, und hätte er es noch nicht gewußt, würde er es ihm an den Augen angesehen haben: nämlich gut, und weiter brauchte Bruder Klaus nichts zu wissen; denn Jahr aus Jahr ein zwischen Wind und Wellen, gewöhnt einer sich das Fragen ab. Dahingegen liebte er es, wenn er einmal auf dem Trockenen saß, seinen Lungen durch Erzählen Motion zu machen; und so tat er denn seinen Mund auf und nicht eher wieder zu, bis die Punschterrine, welche die[373] Haushälterin des alten Sternenprofessors gefällig besorgt hatte, bis auf den letzten Tropfen geleert und das, was das Herz anfüllte, für heute wenigstens genügend ausgeschüttet war.
Der erste große Schreibebrief, dessen Eintreffen der Inselpastor mit der Bemerkung, daß der Steuermann Frey auf einer Indienfahrt begriffen sei, angezeigt hatte, war Jahr und Tag vor des Adressaten Heimkehr angelangt; die erbetene Antwort aber aus guten Gründen unterblieben. Mit dem Buchstabenmalen hatte Bruder Klaus es schon unter Kantor Beyfußens Fuchtel nicht gar zu weit gebracht, und während der zwanzig Jahre, daß er kreuz und quer die Wasserwelt durchsteuerte, war es ihm »rattenkahl« abhanden gekommen. Auch seine Frau, Stina hieß sie, verstand sich auf diese Fingerkunst nur schwach; kontrarie der Inselpastor, der sich sogar bis zum Bücherschreiben auf sie verstand, würde die Sache doch nicht so ausgedrückt haben, wie es der Klaus mit leibhaftigen Worten getan. »Besser,« hatte er zu seiner Stina gesagt, »besser, ich mache bei gelegener Zeit einmal hinein.«
»Denn, nicht wahr,« so fragte er lachend, »bei euch zulande wird immer noch wie sonst allerwegens gemacht, wo bei uns Strandleuten hingesegelt wird?«
Weil Bruder Klaus nun aber erst noch verschiedentliche große und kleine Touren abzusteuern hatte, war er erst gestern dazu gekommen, zum Dank auch noch für den zweiten Schreibebrief, den der neubackene Kandidat in sein Inselhaus geschickt, sich in Hamburg zum ersten Male im Leben auf eine Eisenbahn zu setzen; mußte auch binnen fünf Tagen schon wieder in seinem Hafen sein, um eine Kaffeeladung aus Brasilien zu holen. Dann aber hatte er sich eine Landpause vorgenommen und gedachte, wenn er es nämlich[374] so lange aushielt, den Winter über bei Frau Stinen und dem kleinen pausbäckigen Matrosen zu bleiben, der während jener vom Pastor gemeldeten Indienfahrt in dem Inselhause eingesprungen war. Neckischerweise dieser erste Bube an einem Tage mit dem erwähnten Bruderbrief, dem ersten Schreibebrief in Mutter Stinas Ehestande. Der Inselpastor hatte ihn ihr im Wochenbette vorgelesen, dann hatte sie ihn selber durchstudiert, und zwar so oft, bis sie ihn auswendig konnte von A bis Z. Der Inselpastor aber hatte beim Kirchgange der Wöchnerin eine Predigt über den Bruderbrief gehalten und das Gleichnis vom Säemann, das just an der Reihe war, so erbaulich ausgelegt, wie noch keinmal zuvor. Denn das Korn, das der Säemann ausstreute, hatte er für gewöhnlich Gottes Wort genannt, heute aber nannte er es Menschenkind. Und von zehn Körnern, die aus einer Mutterähre gefallen, wären sieben auf die sandige Düne und die dürre Geest geweht und von den Vögeln gepickt worden und nur zwei, die, als der Schnitter mit der Sense kam, bereits weitab zwischen Dornen und Steinbrocken Wurzel geschlagen hatten, wären schlecht und recht fortgekommen. Das zehnte Korn aber sei auf guten Marschenboden gefallen, sei darin angewachsen und werde, so Gott wolle, Frucht tragen für die verlorenen sieben mit. Denn die Ordnung der Natur sei es wohl, daß eine Kreatur die andere verdränge, um sich das eigene Leben zu fristen; die Ordnung des Geistes aber und unseres ewigen Heilands Gebot sei es, daß ein Menschenbruder für den anderen einstehe und einbringe, was der andere ledig gelassen habe. Und diese Ordnung im Gottesreiche nenne man die Liebe.
Um dieser erbaulichen Auslegung willen hatte die Steuermannsfrau den unbekannten Schwager im Binnenlande[375] als Paten ihres Erstgeborenen in das Kirchenbuch eintragen lassen und darauf bestanden, daß der Bube auf den Namen Dezimus getauft werde; sie rechnete aber stark auf die nachfolgenden Neune, von denen jeder einen so schönen Schreibebrief zustande bringen lernen sollte, daß sein Pastor eine Predigt darüber halten konnte, wie die von dem zehnten Korn. Und was die Steuermannsfrau sich einmal in den Kopf gesetzt, das setzte sie auch durch. Bis jetzt waren es der Buben drei. Der allerinständigste Wunsch, den der Buben Mutter seit der Zeit aber im Herzen hegte, war der, daß der schöne Briefsteller, Schwager und Gevatter sie einmal in ihrem Hause, das das allersauberste der Insel war, besuche, und darum hatte sie ihrem Steuermann keine Ruhe gelassen, bis er sich auf die Eisenbahn gesetzt, die Einladung anzubringen.
Dezimus schlug in die mächtige Bruderhand mit dem Versprechen, gestattete es Gott, nach zurückgelegter Prüfung seinen ersten weiteren Ausflug in das saubere Haus seiner Inselschwägerin zu nehmen, und gestattete es deren Herr Pastor, seine erste Predigt in der Kirche zu halten, wo der Erstling aus dem zweiten Geschlecht, das dem armen Hutmannshause entstammte, auf den Namen und in der Hoffnung des zehnten Kornes getauft worden war.
Weniger froh stimmend als das Inselidyll lautete der Bericht, welchen Bruder Klaus zu geben hatte über das zweite Korn, das just oberflächlich Wurzel geschlagen, als der Schnitter die Mutterähre mähete. Bruder Friede hatte sich von amerikanischen Agenten zur Auswanderung anwerben und das, was man Zufall nennt, ihn später mit seinem Ältesten in einem brasilianischen Hafen zusammenstoßen lassen. Aber Bruder Friede trug ein Lumpenkleid.
»Er hätte im Heimlande bleiben und auf den Unteroffizier[376] dienen sollen,« meinte der Steuermann. »Er war von jeher von einer Gemütsartigkeit, die man bei euch zulande demide oder feige nennt. ›Der blöde Friede‹ hat er schon auf Kantor Beifußens Schulbank geheißen. Unter den Soldaten aber heißt es parieren, was zu der Feigigkeit paßt; drüben in Amerika kontrarie heißt es sich rühren und riskieren, was zu der Demidigkeit ganz und gar nicht paßt. Von wegen des Parierens hätte er nun allenfalls auch zum Matrosen getaugt; aber da war nun wiederum der Umstand mit der Seekrankheit, die dem armen Kerl ganz heidenmäßig mitgespielt und vor der er einen Respekt ärger als vor dem gelben Fieber hatte.«
Einmal wird der blöde Friede es aber doch noch mit dem spaßigen Würgengel auf der Salzflut riskieren müssen. Bruder Klaus weiß ihn zu finden, wenn er nämlich noch am Leben ist, und wird ihn auf der Retour von seiner nächsten Spritzfahrt nolens volens in das Schlepptau nehmen, ihn in sein Inselhaus transportieren und während seines faulen Winters sich nach einem Schlenderposten für den armen Burschen umtun. Also hat Mutter Stina, in Erinnerung an das zehnte Korn, es dekretiert. Und mit Mutter Stina ist nicht zu spaßen; denn ein Ehemann, der durchschnittlich von zwölf Monaten elf das Schiffssteuer führt, hat natürlicherweise das häusliche Steuer auch im zwölften Monat seiner Ehefrau zu überlassen.
Im Haupte des Bruders Kandidaten war dieser Schlenderposten bereits entdeckt. Das Hutmannshaus, jetzt keine elende Herberge mehr, stand wieder einmal ohne Anwärter, da für eingeborene Ärmlinge in der Grabesstraße überflüssig gesorgt war und eine Gemeinde, die wie die Werbener auf sich hält, sich wohl hüten wird, auswärtige Ärmlinge an ihren Benefizien teilnehmen zu lassen.[377] Bruder Friede mag in dem Hause sich nach Belieben die Zeit vertreiben, bis über kurz oder lang – Schäfer Kunz hat seine Siebenzig auf dem Rücken – der Hutmannsposten erledigt wird. Wie aber wird die gute Mutter Hanne sich freuen, wenn sie eines Tages aus hohem Himmelsfenster herniederschauend den einen ihrer Zehne die Weideherde und den anderen die Seelenherde in ihrem Dorfe führen sieht!
Nichts hätte dem Steuermann willkommener sein können als der Wanderplan der beiden Jungen. Natürlich trabte er mit in das alte Nest. Bevor der Hahn gekräht hatte, waren sie seelenvergnügt auf dem Wege, und der Kandidat ließ sich auch die Laune nicht verderben, als wider die Abrede vor dem Tore sein guter Freund und Nebenbuhler aus dem dreiblätterigen Klee ein Vierblatt machte. Das geistliche Blut hatte sich zu guter Letzt in dem Doktoranden geregt und das Gewissen ihm geschlagen, die heilige Osterzeit durch die Vertiefung in eine Fettleber zu entweihen. Da überdies ein mäßiger Grad persönlicher Kurzatmigkeit und ein hoher Grad kaum stillbaren Durstes von jener am unrechten Orte abgelagerten rechtmäßigen Substanz hergeleitet werden durften, mußte es dem Doktoranden nicht nur gesundheitlich, sondern auch ärztlich von Wichtigkeit sein, wenn er den abmindernden Einfluß einer energischen Muskelbewegung auf sotane Substanz an seiner persönlichen Leber ausprobierte. Beide Motive leuchteten ein.
Munter ging es nunmehr die pappelgesäumte Straße entlang, welche vor vierzehn Jahren der Held des Glücks als Abenteurer auf dem Bocke und dann zu Füßen der weiland Harfenkönigin mit einem Viergespann dahingerollt war. Bruder Steuermann führte das Wort; der Doktorand wurde übertönt und versenkte sich in die stille[378] Erwägung, ob sein Weizen ihm nicht etwa als Schiffsarzt blühen könne, oder etwa die Pathologie des gelben Fiebers in dessen endemischer Zone zu studieren sei?
Philipp hatte sich an des Matrosen nervigen Arm gehenkelt, und seine Hartensteinschen frohen Augen hafteten leuchtend an dem wetterbraunen Mannsgesicht. Die Kinderstube auf dem Schlosse von Werben war eine von den wohl seltenen, in welcher Campes Robinson nicht gelesen worden; nun war dem Achtzehnjährigen zumute wie einem Achtjährigen, wenn ihm dieser unersetzliche Liebling der Kinderwelt zum ersten Male unter die Augen gerät. Alles war der jungen Landratte neu: Seeleben und Strandleben, Schiffe und Fische, Wogen und Winde, die gesamte weite, freie Gotteswelt, die jenseit seines grauen, buchgefüllten Kerkers lag. Seine Brust schwellte sich von wollüstigem Sehnen.
Aber auch Dezimus erntete sein Teil von Robinsonfreude, und auch seine Brust schwellte sich von wollüstigem Sehnen. Denn die unstete Woge zu seinen Füßen beherrschen, ist es ja nicht allein, was der Segler auf hohem Meere lernt; auch der Ozean zu seinen Häupten muß ihm ein Vertrauter werden; er muß das Steuer nach den ewigen Gestirnen lenken lernen. Und wie der Freund dieser ewigen Gestirne nun zum ersten Male aus eines Zeugen Munde den Eindruck schildern hörte, den der Weltumschiffer empfängt, wenn er in der Nacht, wo er die Zone überschritten hat, plötzlich eine andere Himmelswelt im Strahlenfeuer der Tropen leuchten sieht und er sich nun vorkommt wie auf einer anderen Erdenwelt, da überrieselten Schauer des Jünglings Leib, und tief aus dem Herzen lockte eine Stimme: Erst einen Blick auf das südliche Kreuz und dann Hütten bauen unter dem Richtstern des Nordens![379]
Mit kräftigerem Baß war noch kein Osterlied in der Kirche von Werben gesungen worden als von dem Steuermann Klaus Frey; so voll Wunder und Stolz Haus bei Haus in der Gemeinde noch kein Heimatskind willkommen geheißen als der Weltumsegler Klaus Frey. Selber die bleichen Wangen in der klösterlichen Schloßkemnate überflog wieder einmal ein Anemonenhauch. Die Angelegenheit des blöden Friede erledigte sich sonder Bedenken, denn wo es ein Werk der Barmherzigkeit galt, waren Lydia und Konstantin Blümel jederzeit eines Sinnes. Als nach ein paar frohen Tagen Bruder Steuermann aus seinem alten Neste schied, erneuerte Bruder Kandidat das Versprechen, im Verlauf des faulen Winters in dem sauberen Inselhause einzukehren und den Bruder Amerikaner heim in das elterliche Hirtenhaus zu führen.
Nun erst kam die Reihe an Philipps freiheitliches Anliegen. Der arme Philipp! Er hatte das heitere Zusammenleben von der ersten Stunde bis zur letzten hoffnungssicher geteilt; nun traf ihn seiner Schwester Schiedsspruch wie ein Donnerschlag. Es war seit nahezu vier Jahren zum ersten Male, daß Dezimus für länger als eine Begrüßung unter Lydias Augen trat, um als Fürsprecher ihres Bruders diesem den ersehnten Eintritt in den Militärdienst zu erwirken. Lydias strenges Urteil über den Knaben und ihre Weigerung, seiner Lust zu willfahren, waren unüberwindlich.
»Auch zum Soldatwerden,« sagte sie, »gehört tüchtiges Lernen, das heißt lernen wollen; denn Sie selber geben zu, daß Philipp es vermag. Zunächst aber Gehorsam lernen. Mein Vater hat in seinem nächsten Zusammenhange erlebt, bis zu welchem Äußersten ein ungezügeltes Temperament vornehmlich in diesem Stande führt, und er hat an sich selbst[380] erlebt, wie erneuernd Gottes Wort und eine strenge Zucht auf ein Gemüt voll ungestümer Begierden wirken. Eines Vaters Weisheit hat für den Sohn gewählt, er muß unter straffem Zügel ausharren, bis er zur Selbstführung fähig geworden ist.«
Lydia geleitete ihren Bruder persönlich in das Haus zurück, das er seinen Kerker nannte. Da er die unumstößliche Weisung erhalten hatte, nicht früher als nach bestandenem Primanerexamen in die Heimat zurückzukehren, mußte auch während der großen, sommerlichen Erholungsvakanz in unzerstreuter Arbeit stillgesessen werden. Der Knabe, dessen Phantasie eben erst die Fühlhörner in ein Reich der Freiheit ausgestreckt hatte, folgte dem eisernen Willen starr und stumm, in verbissenem Grimm.
Dezimus verhehlte sich nicht, daß Lydia dem Wesen nach das Richtige gesagt hatte und es tat; aber die Weise, in der sie es sagte und tat, beklemmte ihm das Herz. Hätte der Vater an seinen Sohn die gleiche Heischung gestellt, würde selbst Konstantin Blümel sie gebilligt haben. Es rumorte ja ein gefährlich unstetes Blut in diesem Geschlecht. Das Beispiel Hilmars von Hartenstein und in anderer Richtung auch das seines Sohnes warnten laut. Nun aber, da es ein Weib war, ein junges Mädchen, das die Heischung stellte, eine Schwester, die sich Vaterrechtanmaßte, nahm die gemütliche Familie im Pfarrhause samt und sonders gegen sie Partei. Vater Blümel sah mit tiefem Seufzen das Bruderherz sich gegen das Schwesterherz empören und den allzu straff gespannten Bogen brechen; seine Hanna beklagte die arme Mutter, deren Tränen so für gar nichts geachtet wurden; Röschen schüttelte unwirsch die schwarzen Locken und schalt wie ein kleiner Rohrsperling auf die tyrannische Nonnenseele im Schloß. Sie würde in[381] Peter Kurzen, natur- und vernunftgemäß, einen Sekundanten gefunden haben, auch wenn er nicht zufällig ihr zärtlicher Anbeter gewesen wäre. Nun aber, da er es war, verdoppelte sich im Schwelgen von Rosendüften die Idiosynkrasie, welche der nervenstarke Mediziner mit der nervenschwachen Klaviermeisterin gegen das Arom der weißen Lilie teilte. Er nannte sie schlechtweg nur »die Belladonna« und dozierte mit naturwissenschaftlicher Unfehlbarkeit:
»Ein Gramm Blutshoffart, zwei Gramm Heiligenhoffart von der Mutterbrust an stündlich eine Prise voll eingeschnupft, und mit dem Kuckuck müßte es zugehen, wenn aus einem weiblichen Wickelkinde in mannbaren Jahren nicht ein Individuum reif für die Zwangsjacke werden sollte.«
Diese allseitige Schilderhebung hatte plötzlich des Kandidaten eigene feindselige Position verändert; er lief spornstreichs in das andere Lager hinüber und brach für sein weißes Fräulein die allerritterlichsten Lanzen. »Es gewährt die Liebe gar oft ein schädlich Gut, wenn sie den Willen des Fordernden mehr als sein Glück bedenkt,« zitierte er und fand in der Bewunderung von Lydias aufopferndem Streben wenigstens in dem Vater einen standfesten Verbündeten. Des Doktoranden giftige Analyse der hehren Lilie reizte ihn aber Wort um Wort zu weit gewaltigerem Zorn, als die Qualen der Eifersucht auf die liebliche Rose ihn fertiggebracht haben würden, und so muß es als ein Segen gepriesen werden, daß die Pathologie einer Fettleber wieder so mächtig in Peter Kurzen wurde, um ihn schon am zweiten Osterabend in seine Doktorandenklause zurückzutreiben. Wer weiß, ob die Jünglingsstufe eines Glücklichen sonst nicht mit einem blutigen Konflikt abgeschlossen hätte.[382]
Gottlob! der Störefried war fort! Und nunmehr allein im trauten Familienkreise, kam des Kandidaten eigenstes Anliegen an die Reihe der Aussprache. Er eröffnete dem Vater seinen freien und festen Entschluß und hoffte im stillen stark, daß der Vater ihm entgegnen würde: »Salve, mein Sohn! der Greis wird allgemach müde, spute dich!«
Der Greis lächelte aber nur und sagte: »Bene vixit, qui bene latuit! Indessen, mein Sohn, die Stunde der Entscheidung hat noch nicht einmal ausgehoben.«
Für den Kandidaten aber hatte sie vernehmlich ausgeschlagen und für sein liebes Röschen, so schien es, auch. Sie umgaukelte ihren Mus wie der allerzierlichste Schmetterling; hing sich im Garten an seinen Arm und flatterte vor ihm her, als er, den Platz zu einem Tempelbau für das Rohr der Zukunft auszuwählen, die Treppe zum Boden hinanstieg. Natürlich wollte Röschen es nicht dulden, daß um des dummen Rohres willen ihre lieben Täubchen aus dem Schlage vertrieben würden, und wenn ihr alter Dezem ihr handgreiflich demonstrierte, daß die lieben Täubchen über dem warmen Kuhstall ja weit behaglicher logieren würden, da erklärte sie ihrem alten Dezem, daß Kuhdunst sie übel mache und daß sie doch wahrhaftig um der langweiligen Sterne willen nicht auf den Besuch ihrer Lieblinge verzichten könne. Und so stritten sie sich hin und her über Taubenschlag und Observatorium, wohl auch über noch mehr dergleichen wichtige Objekte; lachten aber dabei, gingen Hand in Hand und blickten sich wie die allereinträchtigsten Menschenkinder in die Augen.
So schied denn Dezimus, wie er hoffte, zum letzten Male als Feriengast, aus dem Elternhause. Sein Gewissen war leicht, voll sein Herz, auch der Nerv, welcher bisher beunruhigend auf sein Hirn gedrückt hatte, in das Gleichgewicht[383] gesetzt, seitdem er sich seinem frühesten Zusammenhange wieder eingefügt sah. Frohgemuter als er ist schwerlich ein Kandidat seiner Amtsprüfung entgegengeschritten.
Wer aber überdächte den Lauf auch des glücklichsten Menschenlebens, ob es sein eigenes oder das eines Vertrauten sei, ohne daß in jedem Stufenjahr, ja auf jeder Jahresstufe einer, an welchem sein Blick mit Anteil gehangen oder der, wenn auch nur mittelbar, auf ihn eingewirkt hatte, seinem Gesichtsfelde entrückt worden wäre in das Schattenreich? Klagen und Fragen werden laut; wir fühlen eine Lücke; rasch aber weht die Zeit; Klagen und Fragen verstummen; binnen Wochen oder auch nur Tagen ist die Lücke ausgefüllt, junges Licht verdrängt die Schatten; bald ist es, als hätten wir das, was war, nur geträumt. Das stärkste Menschenherz hat nur für wenige Schmerzen die Kraft, sie treu bis in das Grab zu tragen.
Auch in des Hirtensohnes von Werben engumschriebenem Jugendkreise bewegte sich, wie wir sahen, Stufe um Stufe ein Leichenzug, als dessen Zeuge er klagen und fragen hatte hören, wohl auch bescheidentlich mitgeklagt und mitgefragt, bis, wie ein Windeswechsel, ein Hochzeits- oder Kindtaufszug ihn verdrängte. Und so sollte er auch seine Studienstufe nicht vollenden ohne solchen ebbenden und flutenden Strom.
Noch im Frühling traf ihn die Todeskunde von seines Freundes Martin junger Frau. Sie war im ersten Kindbett erlegen; Dezimus hatte sie nicht gekannt; ihre kleine Waise wußte er an Frau Ottiliens Herzen mütterlich geborgen; so dauerte ihn denn wohl der arme Witwer, er schrieb ihm auch einen herzlichen Beileidsbrief, und dann[384] war Lisbeth von Hartenstein zu den Schatten geweht – vielleicht nicht bloß für ihn.
Tiefer griff für viele und auch für Dezimus selbst, ebenso unerwartet, ein anderes Scheiden während der sommerlichen Zeit.
Sidoniens kürzlicher Johannisbrief hatte des Persönlichen wiederum wenig Neues gebracht. Sie sprach mit wachsender Anerkennung von ihrer Mutter und deren Gatten, obgleich sie den letzteren noch immer nicht Vater nannte. Ihre früheren Heimatspläne hatte sie niemals wieder erwähnt; sie mochten wohl mehr Scherz als eine Fühlung gewesen sein.
Eingänglich und mit geistvollem Humor behandelte sie dagegen das politische Gestritt, das, durch den langer Hand vorbereiteten Sonderbundskrieg in nächster Nähe gesteigert, ihr an Harmonien gewöhntes Ohr als krauses Charivari umschwirrte. Da gab es rings um die kleine Musikmeisterin, als der einzigen standfesten Borussin, religiöse Freigeister, staatlich konservativ, staatliche Radikale, schwärmend für eine neue Religion; Liberale aller Grade; begeisterte Polen, umstürzende Russen, italienische Verschwörer, Groß- und Klein-, Alt- und Neuteutonen, Republikaner, Sozialisten und Kommunisten im widerspruchsvollsten Miteinander und Gegeneinander. Aus der Ferne trug dann noch der französierte Bruder Poet eine Klangfarbe hinein, die zwischen Trikolore und blutigem Purpur schwankte, allemal aber ein wenig in das Hartensteinsche Wappengold schillerte.
»In meinem Mäxchen ist der Junker vom Werdetag wieder aufgewacht,« schrieb die Schwester.
Dezimus bewunderte an seiner jungen Freundin den hellen Sinn, der inmitten eines betäubenden Phrasenschwalls[385] redliche Torheit so haarscharf von gemachter Verwogenheit unterschied, ohne sich durch irgendwas oder irgendwen in der eigenen Meinung, der Billigkeit gegen alle und der Liebe gegen einen einzigen beirren zu lassen. Kritik und Neigung, die feindlichen Schwestern, gingen in ihrer Natur einträchtig Hand in Hand. Sie verstand den Menschen, hielt sich an sein Ursprüngliches und nicht an die verkehrten Äußerungen, durch welche er, in eine schiefe Stellung gedrängt, überschüssige Säfte ausgärte, leider aber auch oftmals seine wesentlichste Essenz verflüchtigte. Bei keinem Menschen aber mehr als bei ihrem Max. Über denselben sagte sie indessen auch heuer weiter nichts, als leider verständlich genug:
»Paris verdirbt ihn; das heißt die Pariserinnen, für welche ein schöner Mann ein Genie ist, auch wenn er es nicht wie in seiner Art mein Mäxchen wäre. Wer fragt beim Belvederischen Apoll nach seiner Leier? Bei aller Abgötterei, die der deutsche Lord Byron mit sich treiben läßt, glaube ich aber dennoch, daß er wahrhaft geliebt nur die einzige hat, für die er kein Genie gewesen ist, und daß er eben darum sie vielleicht heute noch liebt. Das Schwanenlied mit seinem Schmachten nach heilig kühlem Frieden ist das rührendste, was er gedichtet hat; und wahrscheinlich das einzige, das sich in den Herzen dauernd einbürgern wird. Ich habe beim ersten Lesen eine Melodie dazu gefunden, die in Paris entzücken soll; notabene, wenn der Dichter sie selbst vorträgt. Als Ehemann würde er freilich rauhe Seide mit seinem Schwan gesponnen haben. Nun, was eine Frau zur Verzweiflung brächte, eine Schwester hält es aus ohne Herzensbankrott.«
Sidoniens Brief versetzte, wie immer, Dezimus in eine prüfende Stimmung, heute aber vornehmlich nach einer[386] Seite hin, die er bisher so gut wie gar nicht in Betracht gezogen hatte. Seine Grundanlage war die der stillen Forschung und seine heimische Zone für politische Strömungen ein schwach lodernder Herd. Auch auf der Hochschule, welcher er angehörte, hatte das vorwaltend theologische Element Aktion wie Reaktion wesentlich vom staatlichen Gebiet in das geistliche gedrängt. Ein außerhalb stark bewegendes Zeitorgan mit radikalen Tendenzen hatte innerhalb nur schwachen Widerhall gefunden und war kaum vermißt worden, als es polizeilich des Landes verwiesen wurde.
Nun jedoch trafen die erregenden Schweizer Nachrichten zusammen mit denen von dem blutigen Aufstande in Polen, zusammen aber auch mit dem ersten größeren parlamentarischen Versuch in unserem Vaterlande, der von den einen hoffnungsvoll begrüßt, von den anderen vielfältig bemängelt, schließlich keinem einzigen zu genügen schien, und an jeden ernsthaften Mann trat die Frage heran, wie er sich inmitten der immer dichter zudrängenden staatlichen Probleme zu stellen, unter welchem Banner er die Aufgabe zu erfüllen habe, die auch dem Bescheidensten als Bürger und Patriot gestellt ist.
Dezimus legte sich diese Frage zum ersten Male vor, und eben darum konnte er zu einem zufriedenstellenden Abschluß, wie er ihn zwischen den theologischen Parteien gefunden zu haben glaubte, nicht gelangen. Es fehlte ihm der ausschlaggebende Drang des Moments: der Affekt. Vielleicht hat es unter den Hunderten seiner jungen Kommilitonen keinen zweiten gegeben, dessen Natur, die innerliche und die äußerliche, so durchaus eine deutsche war wie die des Hirtensohnes von Werben. In deutscher Weise glauben, denken, wollen, handeln war ihm so eingeboren[387] und unveräußerlich wie Atemholen oder der Mutterlaut; in der fremdartigsten Umgebung würde ein fremdartiger Überguß an ihm abgeglitten sein. Auch schwärmen in deutscher Jugendweise eignete ihm wohl, das heißt schwärmen nicht bloß für ein individuelles, sondern auch für ein zuständliches Ideal; aber das schwarzrotgoldene Banner, für welches die Jünglinge der ihm vorangehenden Generation geschwärmt und gelitten hatten, war für ihn kein solches Ideal. Der Faden, der in ein deutsches Reich der Vergangenheit zurückleitete, war in der Pfarre von Werben schwarzweiß übersponnen worden, und ihn grauste vor den blutigen Strömen, unter welchen allein er in ein deutsches Reich der Zukunft hinübergeleitet werden konnte; die parlamentarischen Forderungen aber, welche jene nämlichen Jünglinge jetzt als Männer stellten, schlugen chaotisch unverständlich an sein junges Ohr. In Summa: der Kulturgipfel seiner Rasse, ja vielleicht aller Rassen, ragte für ihn in einem anderen Kreise als dem staatlichen; in einem engeren für den einzelnen, in einem weiteren für die Gesamtheit. Hätte er wie Max von Hartenstein, als geborener Aristokrat und Millionär in spe, inmitten einer Metropole zeitentzündender Ideen gestanden, wohl möglich, daß die der Gleichheit und Brüderlichkeit einen lebhaften Anklang in seinem Herzen gefunden hätte. Als Sohn der misera plebs auf einem Dorfe durch die Wohltaten höhergestellter, edler Menschen herangebildet, wendete sein Gemüt sich ab von dem demokratischen Schibboleth als einer Undankbarkeit und Überhebung. Wohl dünkte die Zeit ihm herrlich, und er hoffte auf ihre Erfüllung, wo kein verzweifelnder Vater sein Kind statt eines Huhnes oder Lammes als Frönerzins in das Haus barmherziger Menschen zu tragen brauchte; wo kein Richter, wie Ehren-Hecht,[388] die Übertretungen von hoch und gering, von arm und reich mit ungleichem Maße büßen ließe; wo der Glaube eines Joachim von Hartenstein und der Zweifel eines Thomas Zacharias sonder Acht und Bann laut werden durften; für solchen würdigeren Zustand aber mitzuwirken, anders als im persönlichen Dienst seines bescheidenen Heimatskreises, trug er kein herzschwellendes Verlangen. Der Zögling Konstantin Blümels, des freiwilligen Jägers von 1813, hatte gelernt, daß es süß sei, kämpfend für das Vaterland zu sterben; daß es auch süß sei, kämpfend für einen konstitutionellen Staat zu leben, – ei nun, Held Dezimus ist ja jung, vielleicht lernt er es noch.
Der Inhalt von Sidoniens Brief klang noch in ihm nach, als Dezimus aus dem Pfarrhause die Kunde erhielt, daß die lebensvolle Frau, deren noch eben mit würdigender Anerkennung gedacht worden war, nicht mehr unter den Lebenden weile. Kerngesund hatte Brigitte Zacharias sich in die ihr so vertraute Seeflut gestürzt; als Leiche war sie an das Ufer gespült worden; der Glücklichen eine, die mit Bewußtsein in ihrem Elemente leben und unbewußt auch in ihrem Elemente sterben.
Und da wurde denn wieder einmal viel bängliches Fragen und Klagen vernommen; denn ein bedeutender Platz war unausfüllbar ledig geworden. Man fühlte die Vereinsamung des Gatten, der mit dieser Frau in der seltensten Einigung verbunden gewesen war; man fühlte die Schutzlosigkeit der verwaisten Tochter; vor allem aber fühlte man die Qual des Greises, der das letzte, ja das einzige menschliche Wesen, das er geliebt hatte, vor sich hinscheiden sah, ohne es so glücklich gemacht zu haben, wie es in seiner Macht gestanden.
Er hatte sich, nachdem die Schreckenskunde ihm von seiner[389] Wirtschafterin vorbuchstabiert worden war, in seiner Kammer eingeriegelt und ließ keinen, der ihm Trost zuzusprechen kam, vor sich, weder den alten treuen Blümel noch die neuen Prediger seiner beiden anderen Güter noch selbst den Emeritus Beyfuß, den einzigen, welchem er, als einem Zeitgenossen, sich dann und wann vertraulich näherte, und auch der einzige, gegen welchen er späterhin einmal seines Verlustes erwähnte. »Was hilft mir nun meine Gruft, wenn meine Brigitte nicht drinnen schläft?« hatte er gesagt. Ihm graute seit der Zeit vor dem Sterben, nach welchem er in den Tagen seines Grimmes sich manchmal gesehnt hatte. Vielleicht schwante ihm, daß seine Brigitte sich in jener Welt vor dem allerhöchsten Throne wiederum eine Stufe höher stellen werde als er und daß er sich in Ewigkeit ohne dankbare Tochter behelfen müsse; und in dieser Welt hatte er doch wenigstens seine dankbare Scholle.
Auch schritt er schon am dritten Tage die Raine seiner Äcker kreuz und quer wie vor der Hiobspost. Er schritt rüstig, wenn auch am Stock, und vor den Augen einen grünen Schirm. Es war ihm nur ein schwacher Lichtschimmer geblieben. Wehe aber dem, der sein Gebrechen ihm anzumerken schien und daraufhin wohl gar sich eine Ruhepause vergönnt hätte! Er kannte blindlings jeden Platz, der einem Arbeiter angewiesen war, und wähnte, für einen Sehenden gehalten zu werden, wenn er seine Stimme so laut erhob, daß seine Befehle weit in die Aue hinein gehört wurden.
»Der Bär brummt!« hieß es dann in der Gegend, und die Fröner lachten sich in die Faust, weil der alte Spürhund das faule Wesen doch nicht schnüffeln konnte. Er wußte auch recht gut, daß er auf Schritt und Tritt betrogen werde; er witterte einen Dieb hinter jedem Zaun und legte[390] aus Furcht vor Einbrechern sich nicht zu Bett. Das Reichwerden hatte dem Mann keine schlaflosen Nächte gekostet, aber das Reichsein kostete dem Greise die Ruhe Tag und Nacht. Er verfiel sichtlich.
Mutter Blümel fügte daher ihrem Trauerbriefe an Sidonie die unumwundene Mahnung bei, ihren natürlichen Platz in der Nähe des Großvaters sobald als möglich einzunehmen. Nicht nur aus Kindespflicht gegen den blinden Greis, sondern auch zur Wacht über ihr künftiges Erbe. Dringender denn je wurde die Einladung in das Pfarrhaus wiederholt und Tag für Tag auf einen zusagenden Bescheid gehofft. Tag für Tag jedoch vergebens.
Auch Dezimus schickte sich an, Sidonien ein teilnehmendes Wort, ihrem tapferen Sinne gemäß, zu sagen; unwillkürlich jedoch tönte es aus in einen weicheren Klang, als er sich vorgesetzt hatte; denn während des Schreibens überkam ihn zum ersten Male die Vorstellung, daß – und wie bald vielleicht! – er selbst einen gleichen Schmerz zu tragen haben werde, ja dem Gesetze der Natur nach ihn unvermeidlich tragen müsse, da seine Mutter ein Geschlecht vor der geschiedenen vorauszählte. Gottlob! daß ein junger Mensch solche Vorgesichte des Natürlichen nicht lange auszuhalten vermag! Aber mit einem Gefühl der Beschämung ermaß Dezimus den Unterschied des Glücks im Empfangen und Empfinden der Mutterliebe zwischen sich, der Waise, und dem leiblichen Kind; und dieses Ermessen hauchte über seine Worte eine Tränenspur. Auch wollte ihm tagelang nicht gelingen, eine ahnungsvolle Wehmut zu bannen. Endlich aber griff er mit wackerem Entschluß nach seiner Examenpräparation und der Korrektur der ersten Druckbogen seines Leitfadens, und über Präparieren und Korrigieren[391] verwehte das bängliche Ahnen mit Mutter Brigitten zu den Schatten.
Ein nachhaltigerer, weil allzu lebendiger Störenfried blieb der arme Philipp, wennschon der Kandidat ihn nur noch selten zu Gesicht bekam. Die Übungsstunden hatten aufgehört, auch darum, weil der Knabe im mathematischen Gebiet weniger einer Nachhülfe bedurfte als in dem der verhaßten alten Sprachen und diese letztere jetzt von dem Professor selbst in verdoppeltem Maße geleistet wurde. Während der großen Ferien jedoch war den beiden Heimatsgenossen dann und wann ein gemeinschaftlicher Spaziergang – selbstverständlich ohne Schenkenziel – gestattet worden; eine Vergünstigung, die Lydias Fürwort zu danken sein mochte und die der ältere ihr auch aufrichtig dankte, wenngleich er mit dem jüngeren mehr denn jemals seine liebe Not hatte.
Nach Hause sehnte sich derselbe zwar keineswegs; denn die Mama saß fern in des verwitweten Martin Kinderstube, und die ausschließliche Gesellschaft seiner hartherzigen Schwester mutete ihn noch graulicher an als die des Horaz und des Professor Hildebrand. Überhaupt genügte ihm die stille Heimstätte von Werben jetzt nicht mehr; ja, es gab kaum einen erreichbaren Platz, der seinem Knabentrotz genügt haben würde. Es war kein Zweifel, daß er auch bei der nächsten Versetzung nicht nach Prima aufrücken werde, und er wollte auch gar nicht hinaufrücken; er wollte nichts, was er sollte; was er aber an Stelle des Gesollten wollte, das wußte er wohl selber nicht, und Dezimus wußte es noch viel weniger. Denn wenn der Junge nach Tollkopfsart sagte: »Noch einen Winter in dem Loche halte ich nicht aus! Lassen sie mich nicht gutwillig los, dann weiß ich, was ich tue!« da dachte Dezimus: »Ja, was kann er denn tun?[392] Desperate Burschen laufen heutzutage nicht wie zu Vater Klausens Zeiten unter die Soldaten, sondern allenfalls von den Soldaten fort.« Der arme Philipp war des Kandidaten einziges Kümmernis in diesen frohgeschäftigen Sommertagen.
Das Hauptexamen war glücklich bestanden, die wichtigste Stufe zum Altar der Heimatskirche erklommen. Auch der Leitfaden lag zur Überraschung für Vater Blümel bereit, zierlich gebunden, mit kleinen Himmelskärtchen durch schossen und, was die Hauptsache war, gekrönt mit einem Vorwort von des greisen Sternenmeisters eigener Hand. Dieser teuere Gönner hatte von Haus aus, als Einführung in die Gelehrtenzunft, zu einem Versuch aus des Günstlings eigener Gedankenwelt geraten; der Günstling aber sich mit dieser Zusammenstellung für Schülerkreise begnügt. Einmal aus geziemender Bescheidenheit; zumeist jedoch aus dem Verlangen, seinen Vater auf leichtfaßliche Weise in eine Bahn zu locken, welcher der dereinstige Verweser der väterlichen nebenbei keineswegs zu entsagen gedachte. Eine zunftgemäße Abhandlung über die Meteorenschwärme, so luminöse Hypothesen er darin aufstellen mochte, würde Konstantin Blümel, den Greis, noch weniger als in jungen Jahren angemutet haben, während das vorliegende Zeugnis einer der Schule nutzbringenden Tätigkeit recht eigentlich nach seinem Sinne war.
Dezimus nahm nach der Rückkehr aus der Provinzialhauptstadt, vor deren Konsistorium das Examen geleistet worden war, sich nicht die Zeit, sich Lehrern und Freunden zu empfehlen. Binnen kurzem mußte er ja doch wiederkommen, um, je nach des Vaters Entscheidung, Abschied zu nehmen für immer oder seine Lehrertätigkeit zu erweitern.[393] Der Tag sollte aber nicht zur Rüste gehen, ohne daß die frohe Botschaft den teuersten Menschen von Angesicht zu Angesicht verkündet wurde, und darum gedachte der Kandidat, nunmehr ja ein gemachter Mann, sich zum ersten Male den Luxus einer Heimfahrt per Eisenbahn zu gestatten.
Auch das Lebewohl von Philipp wollte er sich und dem armen Jungen sparen. Der morgende Tag brachte ihm wiederum ein kaum vermeidliches Scheitern; es sollte nicht geschärft werden durch den Eindruck des eigenen Gelingens, durch den Sprung in die Heimat die eigene Gefangenschaft nicht noch empfindlicher gemacht. Als er jedoch aus dem Hause trat, um nach dem Bahnhofe zu gehen, kam Philipp ihm entgegen. Er hatte des Freundes Rückkehr erfahren und ihm Glück wünschen wollen. Nun gab er ihm das Geleit.
Er war wortkarg, ja verbissen, wie sonst immer nur in Gegenwart seines »Kerkermeisters«; er hielt die Lider gesenkt, schlug er sie aber einmal in die Höhe, dann glimmte ein seltsam unheimliches Feuer in den schönen, blauen Hartensteinschen Augen. Auch fand der Freund ihn blaß und abgemagert; er mochte harte Strafreden hören, harte Klausur haben aushalten müssen. Dezimus fragte nicht danach. Zu helfen war hier nicht, und das Mitleid eines Glücklichen ist ein so schwacher Trost.
Im Vorübergehen trat er bei einem Uhrmacher ein, dem er am Morgen sein stolzes Erbkleinodium zu einer leichten Reparatur übergeben hatte, und es ist der Biograph verdienten Tadels gewärtig, weil er dieses einzigen Wertstückes seines Helden erst bei so später Gelegenheit Erwähnung tut. Denn der Werbensche »Erbsackseiger« war ein vielbemerkter Gegenstand unter der Studentenschaft gewesen, hier der Bewunderung, dort des Witzes; am häufigsten wohl des[394] Neides, da, wenn auch nicht ein Stutzer, so doch jeglicher Altertümler ein erkleckliches Sümmchen dafür geboten haben würde.
Umschlossen von einem standfesten Goldgehäuse, näherte das Kunstwerk sich der Kugelform und bildete demnach in des Trägers Westentasche eine Aufbauchung, welche einem Uneingeweihten das Leidwesen von Peter Kurzens Doktorandenvorwurf befürchten lassen durfte; dem Eingeweihten erhöhte selbstverständlich das Gehäuse des Pretiosums Wert; wurde nun aber gar auf der Rückseite ein freiherrliches Wappen augenfällig, mit einer Krone darüber, in deren Perlen sieben kleine Diamanten eingelassen waren, so konnte der Hirtensohn, wenn er sich etwa späterhin auf Reisen begeben sollte, sich dreist für einen Baron ausgeben, ja für einen Krösus gehalten werden, falls er auch noch die kurze Kette mit dem faustdicken Berlockenbündel daranhängte, die er, ein Feind alles Übermuts, bis jetzt in seiner Schieblade verborgen hielt. Auch schätzte Dezimus sein nutzbringendes Pretiosum hoch, vergaß beim Aufziehen – jeden Morgen seine erste Tat – niemals, der großmütigen Testatorin in Dankbarkeit zu gedenken; und wenn er, ausnahmsweise, in der Nacht einmal aufwachte, ließ er die Uhr repetieren, lediglich aus dem Grunde, um sich durch den kräftigen Schlag, dessen kein heutiges Werk sich rühmen dürfte, an die energischen Akzente der alten Harfenkönigin erinnern zu lassen. Die Kluge hatte den rechten Mann für ihr Erbstück gewählt.
Die unbedeutende Herstellung war von dem Meister versäumt worden; binnen einer Stunde hätte sie erfolgt sein können; aber der Kandidat durfte keine Minute zögern, wenn er den letzten Zug noch erreichen wollte. Er mußte sich bis zur Rückkehr von seinem Regulator trennen; für[395] einen an Pünktlichkeit gewöhnten Sternenschüler und Musterjüngling ein verdrießliches Ding. Aber halt! hatte – leider Gottes! – Doktor Peter Kurze ihm nicht erklärt, daß er nicht ermangeln werde, sich morgen zum Ministeriumsschmause in der Pfarre einzustellen?
»Holen Sie, lieber Philipp, bitte, die Uhr vor Abend ab, und tragen Sie sie zu Doktor Kurzen, der sie mir morgen nach Werben mitbringen wird,« sagte der Kandidat und erhielt ein williges Versprechen.
Hastig ging es nun vorwärts; denn zufällig war auch Philipp heute ohne Uhr, und ein eiliger Mensch ist ohne Uhr doppelt eilig. Während Dezimus sein Billett löste, bemerkte er, daß sein junger Freund an den Beamten eines anderen Schalters eine Erkundigung richtete, deren Bescheid ihn auffällig verstörte. Was hatte der Junge vor? Dezimus durfte sich mit Fragen nicht aufhalten, da die Glocke zur Abfahrt läutete. Im Begriff in das Coupée zu steigen, fragte ihn Philipp mit niedergeschlagenen Augen:
»Hätten Sie wohl zehn Taler übrig, um sie mir vorzuschießen?« Und als er nicht augenblicklich eine Antwort erhielt, setzte er dunkelerrötend und stammelnd hinzu: »Ich – ich bin – ich habe – eine Schuld – –«
»Ich habe so viel nicht bei mir,« versetzte Dezimus; »aber in ein paar Tagen bin ich zurück, und dann wollen wir die Sache in Ordnung bringen.«
Der Schaffner drängte zum Einsteigen. Philipp warf sich mit Ungestüm in des Freundes Arme.
»Behalten Sie mich lieb, guter Dezimus,« schluchzte er und wendete sich dann rasch ab, seine hervorstürzenden Tränen zu bergen. Er lief den Perron entlang, als werde er gejagt.
Dezimus war tief betreten. Wäre der Zug nicht bereits[396] im Rollen gewesen, er würde dem Knaben nachgeeilt sein, ihn ausgeforscht, ermutigt haben; er wäre morgen dann mit viel leichterem Herzen heimgereist. Ohne Zweifel trug der Arme sich mit dem Plan, nach verfehltem Examen zu seiner Mutter und Martin zu flüchten. Und auch Schulden hatte der Unglücksmensch! Freilich kein Wunder, denn der Vormund hielt ihn knapp, und er war nicht knapp gewöhnt; auch mochte die Mutter heuer nicht, wie sonst in der Ferienzeit, sein Beutelchen heimlich gefüllt haben. Dezimus nahm sich vor, des Knaben Lage noch einmal recht ernstlich mit Vater Blümel und sogar mit Fräulein Lydia zu besprechen. Seine vorgeschrittene geistliche Würde machte ihn schier verwegen.
Das ist wohl etwas Großes, wenn ein Kandidat, reif zum Amt und obendrein als gedruckter und honorierter Schriftsteller, zum ersten Male einkehrt in ein pfarrliches Elternhaus, in welchem ihm eine sorgenlose Zukunft und köstlicher Segen gesichert ist. Da gibt es Lachen und Weinen und Beten und Singen und Händedrücken und zärtliches Umfangen; da gibt es eine schlummerlose Nacht unter Luftschlösserbauen und buntem Erinnern. Aber die glücklichste von allen ist doch die Mutter! Wie gestern erlebt steht vor Hanna Blümels Seele die Stunde, wo sie das arme nackte Dezemkind von ihres Konstantin Schoße nahm und es in ihres Töchterchens Wiege legte mit dem Gelöbnis, ihm eine Mutter zu werden. Dazumal glänzte ihr Haar noch wie eitel Gold; heute ist es ein Silberscheitel, und blühen die Wangen auch noch rosenrot, glatt und gleich sind sie nicht mehr, sondern in hundert krause Greisenfältchen zusammengezogen. Aber ihr Ziel ist ja auch erreicht und so froh erreicht. Wie oft begegnet ihr denn einer Mutter, die im siebenten Jahrzehent, von acht Kindern nicht um ein einziges[397] Herzeleid oder gar ein Trauerkleid getragen hätte? Die sechs Töchter glücklich in das Leben gestellt hat und nun die siebente am allerglücklichsten gestellt weiß, Herz an Herz mit dem einzigen Sohn! So inbrünstigen Dankes voll wie in dieser Nacht hat Hanna Blümel wohl noch nie an ihren Gott gedacht.
Und die Herzenslust währte noch den ganzen anderen Tag; und wie wurde sie laut in Sang und Schwank, als gegen Mittag Peter Kurze zum Ministeriumsschmause einsprang! Ein redlicher Freund war er, Peter Kurze, das müßte der Feind ihm lassen, wenn er einen hätte. Sonder Falsch noch Neid! Beim eigenen Doktorschmause war er nicht fideler gewesen. Freund Kandidat konnte vor lauter Jokus es nicht ein einziges Mal zu einer eifersüchtigen Wallung bringen.
Wo hatte Peter Kurze denn aber die Uhr? Den Erbsackseiger? – Peter Kurze wußte von ihm nichts.
Ach, nur zu natürlich, daß Philipp in seiner Not das Abholen vergessen hatte. Der arme Junge! Zwischen Mitleid und lustiger Torheit fehlte dem Kandidaten das gewohnte Picken auf seiner Leberseite aber doch. Ein Mittelmaß von Gewöhnsamkeit – geniale Leute schimpfen sie Pedanterie – gehört, so scheint es, zu der Substanz eines Glücklichen.
Just um dieser Substanz willen mußte nun aber nach dem Jubeltag der Werkeltag der Pflicht wieder in seine Rechte treten. Und da war es denn zunächst Peter Kurze, der ein ernsthaftes Dilemma zu allseitigem Gehör brachte.
Peter Kurze nannte sich Herr Doktor, laborierte aber, wie die Mehrzahl junger Anfänger seines Zeichens, kläglich am Patientenfieber, und gering war zurzeit die Aussicht auf ein stillendes Labsal in seiner heimatlichen Provinz, der er den Segen seiner Kunst doch vorzugsweise gegönnt haben[398] würde. In einer anderen Provinz dahingegen hatten Mißwachs, Hunger und Not eine böse Seuche gezeugt, von welcher die Zeitblätter ein grauenvolles Gesamtbild entwarfen. Noch grauenvollere Einzelnschilderungen waren in die Pfarre gedrungen durch Lydia, die ein Kind dieser Gegend war und mit ihr noch in manchem Zusammenhange stand. Von verschiedenen Universitäten, und auch von der unseren, waren junge Mediziner zu freiwilligem Helferdienst aufgerufen worden. Sollte Peter Kurze nun diesem Rufe folgen?
Sein väterlicher Freund Blümel sagte mit Entschiedenheit: »Ja«, und sein brüderlicher Freund Dezimus wenigstens nicht mit Entschiedenheit: »Nein«. Das liebe Röschen sagte gar nichts, denn das liebe Röschen war gleich bei dem Worte »Typhus« aus der Ratsstube gelaufen. Mutter Blümel aber sagte achselzuckend: »Ja, mein Junge, wenn du nur ein Tischchendeckedich in deinen Arzneikasten packen könntest!«
Und da saß eben der Haken! Peter Kurze war Arzt mit Leib und Seele, und Arzt sein heißt das Gegenteil von einem Hasenfuß. Er dachte nicht an Ansteckungsgefahr, und er schmachtete nach einem ernsthaften Duell mit dem Würgeengel Tod. Aber wo blieb die Ehre der Wissenschaft? wo der Erfolg? und wo der Lohn, dessen ein braver Arbeiter doch allemal wert ist, insofern er mit dem Pflasterkasten nicht zugleich einen Brotschrank aufzuschließen hatte? »Erst wenn die Hungerleider satt gemacht sind, kann der Vielfraß ausgehungert werden,« sagte er und zog schließlich ab mit der Entscheidung, die Sache erst noch ein paar Wochen mit anzusehen, ehe er in den saueren Apfel beiße. Privatim versprach er Freund Dezimus noch, den armen Philipp ins Gebet zu nehmen und umgehend über den[399] Ausfall des Examens Bericht zu erstatten; sich auch gelegentlich nach der Uhr umzutun.
Nun aber saßen im geistlichen Gemach Vater und Sohn allein sich gegenüber zum Ratschluß über die beiden Wege, die vor dem letzteren geöffnet lagen. Auf jeden von ihnen zog ein Magnet, und jeder von ihnen bedingte einen schweren Verzicht. Entweder Altersruhe für den Vater und Rosenwonne für den Sohn; dann aber blieb die Chaldäerforschung ein Fragment. Oder die Chaldäerforschung fortgesetzt bis zu einem zünftigen Grad und statt der Rosenwonne Hangen und Bangen. Und wie entschied der väterliche Berater?
»Ich fühle mich noch nicht fertig, und du bist es noch nicht, mein Sohn. Lehre und lerne weiter wie bisher. Wenn es not tut, werde ich dich rufen.«
Was aber war das Hauptmoment bei dem Entscheid, das Moment, aus welchem der Greis auch keineswegs ein Hehl machte? Nun eben die ersehnte Rosenwonne.
»Keine Jünglingständelei, mein Sohn, aber auch keine Jünglingsehe. Mannesreife – –«
Bei diesem Worte stockte er; denn die Tür wurde hastig aufgerissen, und wie in des Sohnes erster Lebensstunde stürzte ein verzweifelter Mensch in das geistliche Gemach. Lydia, die stille, unbewegliche Lydia! Bleich wie ein Geist, schauernd und bebend über den ganzen schönen Leib, sank sie in den Stuhl, von welchem Dezimus entsetzt in die Höhe gefahren war, und reichte ihm, keines Wortes mächtig, ein Blatt, das sie zusammengeknittert zwischen ihren fliegenden Händen hielt. Ein Brief, an Dezimus adressiert, aber erbrochen. Philipps knabenhafte Züge.
»Ich fliehe, Dezimus. Wohin? sage ich Ihnen nicht, weil Sie es nicht verschweigen würden, wenn Lydia Sie fragt. Ich will mich nicht langsam zu Tode quälen lassen.[400] Ich will leben oder meinetwegen auch sterben; aber ordentlich sterben; wie ein Hartenstein, nicht wie ein Sklave. Ich schreibe in Ihrer Stube. Wenn Sie den Brief finden, bin ich lange dort, wohin ich will. Dezimus, guter Dezimus, ich habe Sie beraubt. Ich hätte es keinem anderen getan; aber ich weiß: Sie schimpfen mich keinen Dieb. Ich konnte nicht anders. Den ganzen Sommer habe ich gespart, bei Mama und den Schwestern gebettelt, nur bei Lydia nicht, weil die mir doch nichts gegeben hätte. Aber ich weiß gar nicht, es wurde immer wieder alle, und ich mußte immer wieder von vorn anfangen. Nun habe ich alle meine Sachen und Bücher heimlich verkauft, aber es reichte doch noch nicht. Und Sie kommen nicht drum, lieber Dezimus. Lydia gibt es Ihnen wieder; der Schande wegen. Aus Liebe für mich hätte sie es nicht getan. Und wenn wir uns einmal wiedersehen, lohne ich es Ihnen tausendfach; denn dann kann ich es. Lange wirds freilich dauern. Und vielleicht sehen wir uns auch gar nicht wieder. Aber dann glauben Sie mir, Dezimus, daß ich in meiner letzten Stunde an Sie gedacht habe als an den, der außer meiner Mama es auf der Welt ganz allein mit mir gut gemeint hat. Ach, meine liebe, liebe Mama! Aber sie hat ja nun die kleine Tili, und sie wußte ja, wie schrecklich unglücklich ich gewesen bin. Sobald ich angekommen, schreibe ich ihr und Ihnen auch.
Philipp.
P. S. Die Uhr hat Aaron Kalb. Sie ist nur versetzt; für zehn Taler kriegen Sie sie wieder. Meine eigene habe ich verkauft um ein Lumpengeld, weil sie nur von Silber war. Und ich könnte sie auf der Reise so gut brauchen. Ach! Wäre ich nur erst fort!«
Was war für eine Lydia der Bruch mit dem Geliebten, was selbst der Tod des Vaters gegen dieses Erleben! Angeklagt[401] der härtesten Lieblosigkeit, gehaßt von dem Bruder den Gott als Kind an ihr Herz gelegt hatte; verzweifelnd in einen Abgrund, vielleicht in den Tod durch sie getrieben dieses Kind, das einzig auf ihren Schutz gestellt gewesen war!
»Mörderin!« stand es geschrieben in ihren wahnsinnstarren Augen.
»Wo – wo soll ich ihn suchen?« rang es sich aus ihrer Brust.
»Nicht Sie; überlassen Sie es mir,« sagte Dezimus, selbst erschüttert bis auf den Grund; und sie darauf wie belebt:
»Ja, ja, gehen Sie mit mir. Ich bin so fremd in der Welt.«
Pastor Blümel aber und auch der Vormund, welcher während der letzten Worte eingetreten war – das erstemal, daß er diese geistliche Schwelle überschritt –, widersprachen ihrem Vorhaben. Sie sei körperlich zu angegriffen, um einem rastlos Eilenden zu folgen; die Rücksicht auf eine Frau könne ihn nur aufhalten und hindern.
Sie senkte das Haupt bis auf die Brust. »Den, welchen er geliebt hat, läßt Gott ihn vielleicht finden – mich nicht!« Laut gesprochen hat sie diese Worte wohl kaum; aber Dezimus las sie in ihrer gemarterten Seele.
Er vernahm nur Bruchstücke der Erläuterungen, welche der Vormund nunmehr über das Entweichen seines Pfleglings gab. Hier war so wenig zu sagen wie zu hören, nur Eile tat not, fliegende Eile! Der alte Herr hatte die Schilderung seiner Ängste, seines Harrens, Forschens und Suchens, der vergeblichen Anfragen nach allen Seiten, auch seiner Fehlgriffe und falschen Schritte, die laut machten, was geheimgehalten werden mußte, bis zur endlichen Erspürung[402] des Briefes und dem Aufbruch nach Werben noch nicht vollendet, als Dezimus reisegerüstet in das Zimmer zurückkehrte. Nicht einmal den Abschied von seinem irgendwo umherschweifenden Röschen hatte er sich gegönnt; der nächste Zug durfte nicht verfehlt werden. Die günstige Fügung, daß die Mutter die Sparsumme des königlichen Patengeschenkes, deren er zum Zweck etlicher Anschaffungen bedürftig geworden war, kürzlich erhoben hatte, befreite ihn auch hinsichtlich des wesentlichsten Reisebedürfnisses von zeitraubenden Weitläufigkeiten.
»Was darf ich Ihrem Bruder von Ihnen sagen, wenn es mir gelingen sollte, ihn aufzufinden?« fragte er, indem er zum Abschied Lydia die Hand reichte.
»Was das Herz Sie heißt!« hauchte Lydia und bedeckte in Angst und Qual dann wieder das Gesicht mit ihren bebenden Händen. Ihr Bruder, ihr Kind: ein Landstreicher, ein Dieb! seine Spur erforscht von einem Fremden, den er geliebt hatte und sie – sie gehaßt!
Um die Mittagsstunde erreichte Dezimus die Universitätsstadt. Er hatte während der Fahrt mit so kaltem Blute, als er das seine abzudämpfen imstande war, den spürenden Blick auf das Ziel gerichtet, das dem Flüchtigen vorgeschwebt haben konnte, und was ist solch ein anstrengendes Erstreben anderes als ein Gebet um Erleuchtung von oben? Bei seiner Mutter oder einem der Geschwister war der Knabe nicht, und den heimischen Militärdienst – so viel mußte ihm klar sein – verscherzte er durch sein heimliches Entweichen. Was kannte er aber, und was gab es außer diesem Dienst Lockendes für ihn in der Welt? Der Weg nach Rußland, wohin sein Vetter Hilmar geflüchtet, war langwierig und schwierig, die Grenze unentdeckt kaum zu erreichen; ohne Empfehlung, ja ohne Legitimation die bescheidenste[403] Stellung nicht zu erwarten. Amerika? Aber da galt es zu arbeiten mit Axt und Pflug, die Freiheit, die dort zu finden, war nicht die, welche ein junger Brausekopf suchte. Die Fremdenlegion in Algier? Nein doch, nein! Der Franzosenhaß lag allen Hartenstein seit Generationen im Blute, und Freund Philipp gebärdete sich gern wie ein kleiner Marschall Vorwärts. Aber halt doch, halt! Ein Werbeplatz für die holländischen Kolonien!
Das war so eine von den luminösen Hypothesen wie die beim jüngsten Meteorenschwarm, und: »jegliche Entdeckung ist einmal Hypothese gewesen,« hatte sein weiser Sternenvater gesagt.
Wie Schuppen fiel es dem Freunde plötzlich von den Augen. Er sah des Knaben glühende Blicke bei Bruder Steuermanns Wundermären von der Pracht des indischen Himmels, der Üppigkeit der Natur, dem wollüstigen Schlürfen der eingewanderten Nabobs. Möglich, daß auch noch aus weniger redlichem Munde ihm ein Brillantfeuer vorgespiegelt worden war oder daß er irgendwo gelesen hatte von den zahlreichen deutschen Landsleuten unter den geworbenen Truppen, von ihrem glänzenden Sold, dem raschen Aufsteigen, den reichen Pensionen, den Schätzen, die um den Preis des Lebens im Kampfe mit wilden Bestien und Völkerstämmen aufzuraffen sein sollten. Die Jugend nimmt manches Katzengold für echt, und was fragt ein freiheitsdurstiges Herz nach dem Freiheitspreis? Das indische Pfefferland war jener Zeit immer noch das gelobte für abenteuernde Naturen und verlorene Söhne. Die goldenen Berge, welche der arme Junge so hoffnungssicher in Aussicht stellte, bestärkten die Eingebung, daß es auch sein Kanaan gewesen sei.
Je mehr dem Freunde nun aber diese jähe Vorstellung[404] zur Gewißheit ward, um so bänglicher schlug sein Herz. Auch er, der Ältere, war im weiten Weltwesen ja noch ein Kind. Der Zufall aber hatte gewollt, daß er von einem leichtsinnig verlockten Studenten, der als Deserteur sich wieder in das Vaterland durchgeschlagen, die Wahrheit erfahren hatte über den entwürdigenden Zustand des holländischen Fremdenkorps nicht bloß fern in den Kolonien, sondern selbst auf den heimischen Drill- und Einschiffungsplätzen, und so hätte er sich Flügel anheften mögen, um den Verblendeten zu überholen und Lydias Bruder einem Elend zu entreißen, dem von zehnen neun physisch oder moralisch unterliegen.
Sein erstes war, von dem Beamten jenes zweiten Schalters die Erkundigung zu erfahren, welche Philipp neulich an ihn gerichtet hatte. Der Jüngling war eine auffällige Erscheinung, schön wie alle Hartenstein, mit Ausnahme Martins, und dieser Auffälligkeit es zu danken, daß der Beamte sich der Erkundigung noch erinnerte: der schöne junge Mensch hatte nach dem Preise eines Fahrbilletts bis zur niederländischen Grenzstation gefragt; zuerst nach dem der zweiten Klasse, dann bescheidentlich nach dem der dritten, und die unerwartet hohe Summe auch dieser dritten ihn sichtbar niedergeschlagen. Der Arglose ahnete nicht, daß diese Fragen zu einem Fingerzeig für einen praktischeren Verfolger, als sein gelehrter Vormund, werden konnten. Für Dezimus wurden sie zum Beweis, wennschon weder dieser Beamte noch irgendein anderer sich erinnerte, den auffälligen jungen Mann bei der späteren Abreise wiedergesehen zu haben. Da er an jenem Nachmittag nicht nach Hause zurückgekehrt war, vermutete Dezimus, daß er zu Fuße bis zur nächsten, nur eine Meile entfernten Station gegangen sei und von da aus den Nachtzug benutzt habe.[405]
Dezimus selbst blieben bis zum Abgang des westlichen Zuges zwei lange bange Stunden. Um sie nicht völlig nutzlos hinzubringen, begab er sich zu dem Pfandleiher und – und Kandidat, Kandidat! du fühlst dich zum Priester reif und sündigst wider Gottes heiliges Gebot? Du lügst, lügst ohne Erröten, lügst wie gedruckt, daß du in augenblicklicher Geldverlegenheit, im Begriff, eine kleine Reise anzutreten, deinen jungen Freund beauftragt habest, ein Darlehn auf deine Uhr aufzunehmen, und daß du jetzt kämest, sie auszulösen?
Da der Hüne der Studentenschaft eine wohlbekannte Persönlichkeit war und sein junger Freund ausdrücklich auf diese Persönlichkeit behufs der Auslösung hingewiesen hatte, erlitt dieselbe keinen Anstand und war dem bösen Leumund, soweit in der Eile oder leider überhaupt noch möglich Einhalt getan. Einigermaßen erleichtert trabte Dezimus, sein Pretiosum auf dem Herzen, nach dem Bahnhofe zurück, und nun, du Glücklicher, leite dich dein Johannisstern!
In der Nachmittagsstunde, in welcher er mit seinem Röschen einen Superintendentenbesuch in der Stadt verabredet hatte, dampfte er in die Welt hinein auf der Suche nach dem verlorenen Sohn. Er sah im Geiste das liebe Kind daheim unruhig hin und wieder trippeln, wohl auch ein bißchen schmollen und schmälen, und dann sah er eine andere sich die Hände wund ringen im bittersten Seelenjammer; von der weiten Gotteswelt aber, die sich zum ersten Male vor ihm auftat, sah er leider wenig, was – versteht sich in anderer Stimmung – sein Neulingsauge erquickt haben würde. Er hätte sich, wie bei seinem ersten Abenteuer eine Universität, so heute beim zweiten eine Reise anders denken können. Endlose Stoppel- oder Rübenfelder, wirres Bahnhofsdrängen[406] und Treiben, langweilige Gesichter, Gesellen ohne Reiselust wie er selbst, und bald sah er nichts mehr, denn es kam die Nacht, und mit der Nacht kam endlich auch der Genius, der selbst den Unruhigsten ruhig macht. Als des Schaffners Ruf: »Station Deutz!« den Genius verscheuchte, rang sich das erste Morgengrauen durch den Nebel, der über dem Rheinstrom brütete.
Der nordwärts führende Zug ließ ihm so viel Zeit, um über die Schiffbrücke zu gehen und einen Blick auf den Torso des Domes zu werfen, dessen Herstellung seit etlichen Jahren mit so viel Eifer betrieben wurde. Das Königswort, das dieses »Werde« rief, hatte in der Pfarre von Werben einen mächtigen Widerhall gefunden. Es deutete gleich einem Meisterspruch auf einen weit größeren und noch weit unfertigeren Bau, für welchen Hammer und Kelle zu rühren waren. Die Erinnerungen seiner glorreichen Zeit und die Entsagungen, die ihnen folgten, wurden in dem Greise jung; zum ersten Male empfing der Sohn aus dem Munde des alten Christen die Lehre des alten Heiden, daß es süß sei, für das Vaterland zu sterben.
Und dieses Lehrwort wachte an diesem Morgen in seiner Seele auf, als er in dem Irren nach einem sein Vaterland fliehenden betörten Kinde den Strom überschritt, der, von sich hebenden Dunstschleiern umflattert, glanzlos und doch majestätisch, breit und ruhig zu seinen Füßen wallte. Auch dieser Fluß galt ja als Symbol. In gärenden Zeiten wirkt alles Bedeutende als ein Deutnis, und die Zeit, in welcher Dezimus Frey ein Jüngling hieß, kennzeichnete ja durchweg ein gleichsam dichterisches Ringen aus der Vorstellung in die Darstellung.
Jählings haftete sein Blick, starrte sein Schritt. Herr der Welt! Wer ist die jugendlich schmächtige Gestalt, die,[407] bleich wie ein Schatten, mit weiten, übernächtigen Aug en, bebend und schwankend sich über das Gitter beugt, so als ob die nebelumwogten grauen Fluten sie zugleich lockten und schreckten? Der Hut ist vom Kopfe in den Strom gesunken; der feuchte Morgenwind weht durch die wirren, gelben Locken. »Philipp!« schreit Dezimus auf, und – der verlorene Sohn taumelt halb ohnmächtig in seine ausgespannten Arme.
Er zog ihn in das nächste Wirtshaus am Kölnischen Ufer; ein warmer Trunk belebte ihn, die beklommene Brust erleichterte ein Tränenstrom. Ach, dieses ungestählte Muttersöhnchen, wie bald würde es den Heischungen der Macht, die es Freiheit nannte, erlegen sein an jedem Orte, wo es sie wirklich gefunden hätte, nicht bloß sie zu finden gewähnt!
In der Verfolgungsangst und doch wieder der Seligkeit eines der Galeere Entsprungenen hatte er sich keine Raststunde gegönnt, nur immer vorwärts gedrängt von einem Haltepunkt zum anderen, bis er den Werbeplatz am Zuydersee erreichte. Was er dort zu finden hoffte? Eine deutliche Vorstellung wird er nicht gehabt haben. Aber einen bunten Schauplatz, einen lustigen Tummelplatz, vielleicht so etwas von einem preußischen Paradeplatz, auf dem man sang: »Ein freies Leben führen wir!« Und statt dessen sah er das rohe Treiben und Drillen der fremden Söldlinge – der Masse nach Deserteure, Vagabonden, Ausgestoßene aus dem Walle der Familie, der Heimat, der Gesellschaft; mancher mit einem Kainszeichen auf der Stirn –, wurde er Zeuge einer körperlichen Züchtigung, die ihm das Blut erstarren machte.
Ein wohlmeinender Bürger, mit dem er in einem Wirtshaus zusammentraf und den der Anblick des schönen,[408] betörten Jünglingsknaben rührte, belehrte ihn, daß nach den neueren Bestimmungen kein Ausländer es im Kolonialdienst weiter als bis zum Unteroffiziersposten bringen könne, – und der Knabe hatte von Generalsepauletten, von Orden und Lorbeerkronen geträumt! Der wohlmeinende Warner belehrte ihn fernerhin, daß unbärtige Bürschchen wie er fast ausnahmslos schon den Einflüssen des Klimas und seiner lockenden Bodenfrüchte erliegen, daß aber selbst abgehärtete, entsagungsstarke Männer sich nur in einem Bruchteil gegen die Strapazen des Dienstes behaupten, – und das Bürschchen hatte von lustigen Elefantenritten, von Tigerjagden in Palmenwäldern und einer Nabobsheimkehr geträumt!
Aus allen Himmeln gestürzt, entsetzt, verzweifelnd, kehrte der freiheitslüsterne Junge, wiederum ohne Atem zu schöpfen, die Straße, die er gekommen war, zurück. Die Luft war kühl und seine Kleidung noch sommerlich, sein Sparpfennig aufgezehrt. Hungernd, übernächtig, schauernd vor Frost, schaudernd vor Angst und Scham stand er nun auf der Rheinbrücke von Köln zwischen der Wahl – der Heimkehr, als Bettler und Vagabond? nein, der Heimkehr nicht; aber vor der, als Bettler und Vagabond sich bis über die Grenze zu einem Werbebureau für die französische Fremdenlegion durchzuschlagen oder durch einen Sprung in die Tiefe seinem Elend rasch ein Ende zu machen. So stand er, kaum mehr fähig zu einem Entschluß, und sehr möglich, daß die Erschöpfung den Taumelnden jedes Entschlusses überhoben haben würde, wenn der Stern der Glücklichen ihm nicht einen Wegweiser mit stämmigen Armen entgegengeführt hätte.
Dezimus erfuhr diese klägliche Robinsonade von vier Tagen erst nach und nach in weit späterer Stunde. In der[409] gegenwärtigen begnügte er sich, zu dem Ausgehungerten zu sagen: »Iß!« und nachdem er sich sattgegessen, zu dem Übermüdeten: »Nun schlaf!« Und was hätte auch ein weiserer Mentor, als der Kandidat von Werben sich zu sein vermaß, diesem willenlosen Gottesgeschöpf zur Stunde Weiseres heißen können als: iß und schlaf?
Nachdem das Gottesgeschöpf aber ausgeschlafen hatte, lange und fest wie ein Murmeltier, ließ es sich sonder Skrupel noch Unterhandlungen nach dem Bahnhofe von Deutz zurückführen; alle seine Sorge warf es, zwar nicht auf den Herrn, aber auf seinen lieben guten Dezimus, der würde es wohlmachen. Der liebe, gute Dezimus wollte und konnte zwar nichts versprechen als die Vergebung Schwester Lydias nach vorausgegangener reumütiger Buße; dennoch währte es nicht lange, und das leichte Bösebubenblut wallte so frohgemut auf wie je. Was auch über ihn verhängt werden mochte, alles war besser als die Fuchtel von Harderwyk und der Hunger auf der Rheinbrücke von Köln.
Es war spät am Abend, als sie die heimische Pfarre erreichten, unangemeldet, da Telegramme des Privatverkehrs es auf dieser Strecke zu jener Zeit noch nicht gab. Die Bewohner hielten sich schonend zurück; nach flüchtiger, freudiger Begrüßung des Sohnes überließen sie es diesem Glücklichen, seinen Findling in die eigene Bodenkammer zu geleiten und in sein eigenes Bett zu verweisen, allwo er sich denn wiederum in Bälde des Schlummers des Gerechten oder des Murmeltiers erfreute. Dezimus dagegen begab sich, so spät es war, nach dem Schloß.
Dort hatten sich infolge der Schreckenspost die gesamte Familie und deren nächste Freunde zusammengefunden: die Mutter mit ihrem kleinen Pflegling, Martin,[410] seine Schwestern und ihre Gatten, der Vormund und selber der alte, treue Magister Klein waren herbeigeeilt, um gemeinsam mit dem anerkannten Haupte der Familie, mit Lydia, zu beten, zu ratschlagen, je nachdem zu handeln, oder auch nur zu weinen und verzweifelnd die Hände zu ringen. In allen Zimmern des Schlosses brannte noch Licht; ein jeder saß angstvoll wach in seinem Kämmerlein.
Doch sah Dezimus nur Lydia. Als sie seine frohe Botschaft vernommen hatte, faßte sie seine beiden Hände, neigte ihre Stirn zu ihnen herab, und heiße Tränen, die ersten, welche den Krampf des Herzens lösten, rannen auf sie nieder. Ein vernehmliches Wort sprachen die zitternden Lippen nicht. Als sie das schöne Haupt aber wieder erhob, da stand in ihren Augen geschrieben: »Du hast mir mehr als das Leben gerettet, Freund.«
Keiner wußte besser als Dezimus selbst, wie so gar gering sein Verdienst bei dieser Rettung war, wie alles nur das Wirken jener heimlichen Macht, welche die einen Zufall nennen, die anderen Stern, und die Glücklichsten Gottes Rat. Was er im Leben aber noch von Menschenkreuz und Leid zu tragen haben mag, der Dankesblick, der in dieser Nacht aus seines weißen Fräuleins Augen strahlte, wird ihn bis in seine Sterbestunde beseligen.
Eine schriftliche Weisung des Vormunds entbot am anderen Morgen den verlorenen Sohn und »seinen edlen Erretter« – »hört, hört!« spottete das lustige Röschen – nach dem Schlosse. Ein schwerer Gang für den edlen Erretter, denn er ahnte mit Fug, kein festliches Gewand werde dem verlorenen Sohne entgegengetragen und kein gemästetes Kalb zu seinem Willkomm geschlachtet werden, dagegen ein strenger Areopag den Spruch über ihn fällen[411] und das Los über seine Zukunft werfen. Selbst wenn Lydia nach den Erschütterungen der letzten Tage mit solch einer Manifestation des Familienrechtes nicht einverstanden gewesen wäre, wenn sie im stillen Kämmerlein, wo ein Erlöster betet, zu ihrem Bruder hätte sagen mögen: »Ich vergebe dir,« würde sie über Nacht inmitten eines bluts- und wahlverwandten Kreises den hohen, feierlichen Grundton, auf welchen bei aller Abgeschlossenheit ihr Vaterhaus gestimmt worden war, haben herabstimmen können?
Auch Philipp mutmaßte eine widerwärtige Szene, und seine Stimmung war halb trotzig, halb verzagt. »An Ihnen, Dezimus, habe ich mich vergangen, das ist richtig,« sagte er. »Sie aber haben mir vergeben, haben meinen dummen Streich sogar vertuscht. Und was habe ich den anderen getan?«
»Die Ungehörigkeit gegen meine Person war bei weitem die leichtere,« entgegnete Dezimus, »wenngleich sie, nach dem Maße der Welt gemessen, schwer genug in das Gewicht fallen mag. Das bittere Herzeleid aber, das Sie Ihrer Mutter und Schwester angetan haben, kann Ihnen kein Mensch vergeben, bis Sie es durch freudigen Gehorsam gesühnt.«
»O, meine Mama, die ist bloß froh, daß ich wieder da bin,« versetzte der Leichtfuß mit obligater Torenzuversicht. »Und Lydia, was für ein Recht hat denn Lydia über mich? Und was kann sie mir am Ende denn auch tun? Legt sie mich noch zehnmal an die Kette, reiße ich mich noch zehnmal wieder los. Sie wird sich aber wohl hüten; denn mit dem Pastorwerden habe ich es – Gott sei Dank! – doch ein für allemal verschüttet.«
»Mit dem Soldatwerden aber auch,« entgegnete Dezimus.[412]
Der Leichtfuß seufzte und ließ ein Weilchen den Kopf hängen. »Sie sollen mich wie Vetter Hilmar nach Rußland schicken –« meinte er darauf. »Ich wäre von selber hingegangen, wenn es nur nicht gar zu weit gewesen wäre. Und dann wollte ich doch für mein Leben gern einmal eine große Seereise machen.«
Das Wort verhallte in diesem Augenblick eindruckslos an des Freundes Ohr; in dem Augenblick der Entscheidung aber wachte es plötzlich lebendig in dem Herzen auf, wie ein Samenkorn, das ein Insekt in einen Blütenkelch getragen hat.
Sie hatten den wenig bemerkten Eingang über die Terrassen genommen. Im Schlosse herrschte, ungeachtet der zahlreichen Insassen, Totenstille. Es galt ein heimliches Gericht; die weibliche Dienerschaft war durch verschiedentliche Aufträge für die Morgenstunden entfernt worden; nur der alte Wagner, ein Getreuer und Vertrauter aus der einstigen Heimat, zurückgeblieben, und sein auch wohl das Verdienst, jene unzuverlässigen Zeuginnen beseitigt zu haben. Schweigend mit zerwühlten Mienen öffnete er die Tür des Ahnensaales.
Dezimus hatte ihn seit der Leichenfeier für den Propst nicht wieder betreten. Dessen Bild hing wie dazumal über dem kleinen Betaltar; da, wo der Sarg gestanden hatte, stand heute eine dunkelverhangene Tafel, an welcher der Familienrat gehalten werden sollte. Die männlichen Mitglieder waren bereits versammelt; die beiden Geistlichen im Ornat, der Obertribunalsrat und der Kammerherr, die Gatten von Priszilla und Phöbe, das weiße Johanniterkreuz auf den schwarzen Leibrock geheftet; Martin im Dienstanzug, den Helm unter dem Arm. Alle standen mit den Gesichtern dem Bilde des Vaters zugekehrt[413] und schienen den Eintritt seines ungeratenen Sohnes nicht zu bemerken.
Menschen aus einem Gusse – Martin etwa ausgenommen – waren sie über die zu treffende Entscheidung eines Sinnes und der Zweck der demonstrativen Versammlung, neben dem persönlichen Genügen, wohl kaum ein anderer als der, der unglücklichen Mutter in imponierender Weise eine harte Notwendigkeit erklärlich zu machen. Denn ein so schwacher Menschenkenner, daß er erwartet hätte, durch solch feierlichen Aktus einen Philipp zur Zerknirschung und zur Umkehr zu bewegen, ein so schwacher Menschenkenner war doch wohl nur der alte, ehrliche Professor Hildebrand.
Philipp hatte beim Überschreiten der Schwelle die Lippen trotzig übereinandergebissen. Glut und Blässe wechselten auf seinem Gesicht. Er hielt des Freundes Hand fest umklammert; die seinige war eiskalt. Aber nur die Frauen waren es, vor deren Wiedersehen ihm bangte, die geliebte Mutter und die Richterin Lydia. Als er daher gewahr wurde, daß er es nur mit den Männern der Familie zu tun haben sollte und er diese Männer ihm so geflissentlich den Rücken kehren sah, hatte er Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, und drehte in Gedanken dem hohen Gerichtshof eine echte, rechte Bösebubennase.
Dezimus zog ihn in eine Fensternische, welche der Eingangstür zunächst und der Versammlung zufernst lag; und da konnte der brave Martin es denn nicht länger über das Herz bringen: er ging auf Dezimus zu, drückte ihm die Hand, zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf, schlug mit einem Seufzer vor seinem Nichtsnutz von Bruder die Augen nieder und kehrte dann schweigend zu dem schweigenden Chor zurück.[414]
Noch dauerte es eine gute Weile, in welcher Dezimus nichts als das Ticktack des Corpus delicti in seiner Westentasche vernahm. Endlich aber öffnete der alte Wagner die Tür, und in den Saal wankte, von Lydia gestützt, von ihren beiden jüngeren Töchtern gefolgt, die unglückliche Mutter, Martins Töchterchen auf dem Arm. Sie sank wie gebrochen auf den ersten erreichbaren Sessel.
Beim Erblicken dieses gramdurchwühlten, gütigen Mutterangesichts, der weiten, leeren Augen, welche in den jüngsten Tagen ihren Tränenborn erschöpft zu haben schienen, riß sich Philipp von des Freundes Hand und stürzte mit einem schrillen Aufschrei zu der Matrone Füßen. So, den Kopf in ihren Schoß vergraben, blieb er liegen während der ganzen Verhandlung. Die Mutter hatte den einen Arm um seinen Nacken geschlungen, als ob sie ihn festhalten wollte gegen den Bannspruch der Gerechtigkeit; im anderen Arme lag die schlummernde Enkelin, ein spärliches Würmchen, das während der jachen Reise unpaß geworden war und das die treue Pflegerin in all ihrer Angst und Not nicht für eine Stunde aus den Augen gelassen haben würde. Sie weinte auch jetzt nicht; nur dann und wann vernahm man ein leises Wimmern, ohne daß man unterschied, kam es aus des Kindes oder der Matrone Brust.
Die schweigende Gruppe unter dem Bilde hatte sich den Eintretenden zugewendet; der Vormund schritt auf sie zu; die drei Schwestern neigten sich bis zur Erde vor dem greisen Seelsorger und Vertreter des Vaters; sie küßten seine Hand, so wie sie beim Morgengruß die des Vaters zu küssen gewohnt gewesen waren. Die sonst so freundliche Mutter grüßte nicht einmal mit den Augen. Sie hatte nicht daran gedacht, ihren Morgenanzug mit[415] einem der Feierlichkeit entsprechenden zu vertauschen. Lydia trug, wie noch immer seit ihres Vaters Tode, ein Trauerkleid, und die beiden Schwestern hatten es ihr heute nachgetan. Es handelte sich ja wieder um einen düsteren Akt im Ahnensaale.
Der Professor bot Frau von Hartenstein den Arm, sie an den Ehrenplatz der Gerichtstafel zu führen. Sie schüttelte schweigend das Haupt und rührte sich nicht aus ihrer mütterlichen Umstrickung. Priszilla und Phöbe hätten sich wohl gern in ihrer Nähe gehalten, doch folgten sie gehorsam ihren Gatten an deren Seite.
Der Ehrenplatz blieb unbesetzt, da auch Lydia ihn ablehnte. Sie trat zur Seite in einen zweiten Fensterbogen, von welchem aus sie die Schmerzensgruppe der Mutter mit dem Sohn im Auge halten konnte. Dort stand sie aufrecht mit gefaltenen Händen, ohne sich zu regen; das, was um sie her laut ward, schien an ihrem Ohr abzugleiten, ein innerlichster Vorgang sich zur Klarheit durchzuringen, aber einer, unter welchem das gebeugte Haupt sich hob. Daß der uneingeweihte Kandidat dem Wink des ordnenden Vormunds an das untere Ende der Tafel nicht Folge leistete, sondern in seinem dunkelumhüllten Fensterwinkel verharrte, wird die Versammlung der Eingeweihten ihm als geziemende Bescheidenheit angerechnet haben.
Magister Klein setzte sich an die Orgel; das alte Lutherlied »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« wurde angehoben; Lydia sang nicht mit, auch die am tiefsten von der Not Bedrängten, Mutter und Sohn, waren nicht gestimmt zu einem Gebet mit Sangesklang. Dann trat der Professor vor den Altar und hielt eine Ansprache über das Heilandsgebot: »So dein Bruder an dir sündigt, so strafe ihn, und so er sich bessert, vergib ihm.« Gewißlich das rechte Gebot[416] in dieser Stunde und mit bewegter Seele auch ausgedeutet, wie es dem Priester gebührt: den Folgesatz an der Spitze.
Aber die schwere Aufgabe dieser Stunde war zur Erleichterung jedes einzelnen unter die Berufenen verteilt worden, und der Folgesatz hatte einen Vordersatz, dessen Klarlegung dem Rat vom obersten Gerichtshof, als Vertreter der weltlichen Gerechtigkeit, sach- und fachgemäß zustand. Daß dieser seine Aufgabe lösen werde sonder Ansehn der Person, daß er streng nach dem Gesetzeslaut deduzieren und urteln werde, durfte von einem preußischen Richter selbst in einem Familienrat vorausgesetzt werden.
Er verlas aus dem Landrecht die Paragraphen, gegen welche der Angeklagte gefrevelt hatte: durch die Aneignung fremden Eigentums, durch seine heimliche Auswanderung vor erfüllter militärischer Dienstpflicht, durch seine Flucht aus der vormundschaftlichen Gewalt. Er verlas auch das Strafmaß, das auf diese Vergehen gesetzt war, und das Maß war kein geringes.
Dies vorausgeschickt, glaubte das rechtsbeflissene Mitglied der Familie sich bei alledem – vielleicht nicht ohne gelinde Beugung seines staatlichen Gewissens – zu dem Antrage befugt: in Betracht der Jugend des Übeltäters, in fernerweitigem Betracht, daß durch den rechtzeitigen Eingriff eines Dritten die sträfliche Handlung hinsichtlich der beiden letzten Anklagepunkte beim Versuche geblieben sei: die dem Staate zustehende Pflicht der Strafe in diesem besonderen Falle auf die Familie zu übertragen; unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß eine so gläubig in sich gefestete Familie wie diese das Maß der Buße dem des Vergehens adäquat bemessen und die bürgerliche Gesellschaft vor fernerer Schädigung durch den jungen Übeltäter schützen werde.[417]
Dieser kriminalistischen Klarlegung, vorgetragen im allerernsthaftesten Ernst, angehört dagegen mit allseitig zerstreuten oder gleichgültigen Mienen, folgte eine Pause atemloser Spannung für die Mutter, ihren Sohn und dessen Freund. Wem von ihnen wäre auch nur einen Augenblick der Gedanke an die materielle Statthaftigkeit eines Rechtsschutzes und Strafaktes von seiten des Fiskus in den Sinn gekommen? Dahingegen die Frage, in welcher Weise die so gläubig in sich gefestete Familie solchen Rechtsschutz und Bußakt fordern werde, schwer die Herzen jener drei belastete. Die übrigen Familienglieder waren über diese Frage schlüssig geworden in einer schlummerlosen Nacht; auch die jungen Schwestern hatten der Entscheidung zugestimmt, wennschon mit zerrüttetem Herzen; auch Lydia, und sie sogar mit gehobenem Herzen. Es handelte sich nur noch, dem verlorenen Sohn, und vornehmlich seiner Mutter, den Beweis zu führen, daß um seiner eigenen Existenz wie um der Ehre und Ruhe seiner Angehörigen willen keine andere Wahl als die getroffene zu treffen war. Und diese Darlegung hatte der Kammerherr von Behrmann, Phöbes Gatte, übernommen. Nach dem Priester und Richter war die Reihe an dem Kavalier.
»Welch eine Zukunft,« so fragte er, »bleibt einem jungen Edelmann, der wohlbegabt und wohlgebildet, in zurechnungsfähigem Alter, von der Scheu vor geistiger Anstrengung und christlicher Zucht sich so weit treiben ließ, die natürlichsten und heiligsten Bande schnöde zu zerreißen und als Abenteurer in die Welt zu gehen? Der, um seiner eigenen Ruchlosigkeit zu frönen, unter trügerischen Vorwänden sich die erforderlichen Mittel erschwindelt, seine Habseligkeiten – gespendete Wohltat seiner schwesterlichen Versorgerin – heimlich verschleudert, ja, sich sogar an dem[418] Eigentum eines Fremden vergreift, eines dürftig von anstrengender Arbeit lebenden Heimatsgenossen, des Schützlings seiner edlen mütterlichen Ahnen? Selbst für den Fall, daß infolge vorbeugender Maßnahmen, welche die Dankbarkeit diesem braven jungen Manne eingegeben hat, der schmähliche Handel als Geheimnis in einem kleinen Kreise gewahrt bleiben sollte – was im höchsten Maße zu bezweifeln ist –, selbst für den Fall, daß, verborgen vor den Augen der Welt, sich eine Umkehr wirkende Buße hätte ersinnen lassen – was keinem seiner nächsten Angehörigen gelungen ist –, selber in diesen günstigsten Fällen: welche Laufbahn könnte in unserem Staate einer betreten, oder in welcher könnte er sich behaupten, der in seinen eigenen Augen und in denen, sei es auch nur eines Dutzend Menschen, ein Betrüger ist, ja ein Dieb? Der Jüngling hat sich auf den im Blute der Hartenstein ererbten Soldatenberuf gesteift: Leutnant von Hartenstein, kann einer dem Verbande eines Offizierkorps angehören, den, sei es auch nur ein Dutzend Menschen, als Betrüger kennen, ja als Dieb?«
Der Leutnant von Hartenstein antwortete kleinlaut: »Nein«, und daß er dabei rasselnd an seinen Säbel schlug, geschah wohl weniger, um das Nein zu verstärken, als es den Ohren des brüderlichen Betrügers und Diebes unhörbar zu machen. Der Kammerherr von Behrmann aber hatte das Nein gehört und durfte sich darauf berufen.
»Sein edler Vater,« so fuhr er fort, »hatte für den Sohn den geistlichen Beruf erwählt. Des Sohnes störriges Widerstreben trieb ihn in die Sünde. Gesetzt den Fall, die Strafe der Sünde wirke Reue, die Reue Besserung: kann einer als Gottes Priester die Gebote, die auf den Gesetzestafeln geschrieben stehen, verkünden, der weiß und von dem auch[419] nur ein Dutzend Menschen weiß, wie schwer er selber gegen mehr als eines dieser Gebote gesündigt hat?«
Die beiden Priester der Versammlung schüttelten schweigend die grauen Häupter. Da sie redliche Priester und sich wohl bewußt waren, daß schon aus manchem freiheitslüsternen Adamssohne mit der Zeit ein um so eifermütigerer Apostel geworden ist, galt ihre schweigende Verneinung gewißlich nicht der Frage im allgemeinen, sondern dem Zweifel an einer geistlichen Umkehr in diesem besonderen Fall. Und in diesem besonderen Fall stimmte ihnen der werdende Priester im Fensterwinkel aufrichtig, wenn auch nur in der Stille des Herzens bei.
»Kann einer Richter sein,« fuhr der Fragsteller fort, »Hüter des gesellschaftlichen Rechts in irgendwelchem Amt, Verwalter der Autorität oder des Eigentums seines Staates, der nur vor eines Dutzend Menschen Augen und seinen eigenen mit dem schimpflichsten Makel behaftet ist?«
»Nein, dreimal nein!« rief der Rat vom obersten Gericht mit der Energie eines Mannes, der für die Sicherheit von König und Vaterland einzustehen hat.
Die Reihe der Erwägungen war mit diesem dreifachen Nein erschöpft; von irgendeinem theoretischen Berufe konnte bei des Jünglings unstetem Temperament nicht die Rede sein und irgendein industrielles Gewerbe nicht in Betracht kommen in einem Kreise, der von allen attischen Anschauungen keine so gründlich wie die der schändenden Handarbeit in sich aufgenommen, der schändenden Handarbeit selbst für einen, den die Natur nun einmal absolut zum Geistarbeiter verdorben hat. Das Korrektiv würde schmählicher als das Übel, welches es herstellen sollte, erschienen sein. Der ritterlichen Hand geziemte das Schwert, die Feder und allenfalls noch – der Pflug.[420]
Freund Dezimus, der während der hochnotpeinlichen Argumentation wie auf Kohlen gestanden und vielleicht mehr als Inkulpat selbst Blut und Essig geschwitzt, hatte die sichere Hoffnung gehegt, daß der kammerherrliche Schwager, der in einer abgelegenen Provinz ein ihm eignendes Rittergut von mäßigem Umfang persönlich bewirtschaftete, abschließend seine Bereitwilligkeit erklären werde, den Bruder seiner Gattin als landwirtschaftlichen Eleven in seine Zucht zu nehmen, und wenn die unglückliche Mutter überhaupt eines Rettungsplanes fähig gewesen wäre, würde auch sie keinen anderen als diesen ins Auge gefaßt haben. Ihr Eidam, der diese mütterliche Hoffnung mutmaßen mochte, war daher beflissen, ihr sie mit ausführlichen Gründen zu benehmen. Nicht nur daß der zeitweilige Dienst bei allerhöchsten Personen, neben anderweitigen ritterschaftlichen Obliegenheiten, ihn außerstand setzten, eine so schwere Verantwortung wie die Korrektur und Rehabilitierung eines derartig verirrten Familiengliedes auf sich zu laden, nicht nur, daß die Zwitterstellung eines Blutsverwandten und Untergebenen fast immer eine unhaltbare ist, daß sie bei einem so zügellosen Temperament zu einem gefährlichen Beispiel für die nächste Familie wie für Untergebene werden kann: welche Aussicht bot, selbst bei soliderer Anlage, die ökonomische Laufbahn einem jungen Edelmann, der gänzlich ohne Vermögen war? Wohl geziemte der Pflug einer ritterlichen Hand; aber der eigene Pflug mußte es sein. Konnte ein Hartenstein wie Hinz und Kunz lebenslang Verwalter oder allenfalls Pächter eines Fremden sein? konnte er der von einem Privatmann besoldete Jäger oder allenfalls Unterförster sein? Eine erneuernde Arbeit in Wald und Flur blieb demnach gleichfalls von der Wahl ausgeschlossen.
Und so lautete denn – wie leider schon oftmals nach[421] einem jugendlichen Tollkopfsstreich! – der Schiedsspruch, der, in der Stille der Nacht einmütig gefaßt, nunmehr im Ahnensaale von Werben verkündet und einmütig bestätigt wurde: »Das Exil!« Nur fern von seiner Familie, seiner Heimat, seinem Staat und Erdteil, von allem, an dem er bisher gehangen, nur als Fremdling in einer fremden Zone, unter einer unfertigen Gesittung, konnte einer, der in seiner Ehre also beschädigt, in seiner Sitte also gesunken war, den Raum finden, auf dem er sich zu einem neuen Menschen umbildete. Fort in eine neue Welt! fort!
Philipp hatte bei der letzten Ausführung den Kopf von der Mutter Schoße emporgerichtet, seine Augen funkelten vor Lust und Ungeduld. Was wollten denn diese törichten Schwätzer als sein eigenes glühendes Verlangen? War die Strafe, die sie diktierten, denn etwas anderes als das Vergehen, dessen sie ihn beschuldigten? »Juchhei in eine neue Welt! Fort! fort!« rief er gleichzeitig mit dem Antragsteller.
Der Brust der Mutter aber entrang sich bei diesem bannenden und jauchzenden »Fort!« ein so markerschütternder Schrei, daß der Redner in seinem Vortrag innehielt und der Sohn den Kopf wieder in ihren Schoß sinken ließ. Alle Blicke richteten sich nach der unglücklichen Frau; Priszilla und Phöbe näherten sich ihr mit überströmenden Augen. Der Knabe war auch ihr Liebling gewesen; beide waren junge Mütter; sie hatten den Streich vorgefühlt, und sie fühlten ihn jetzt nach, der mit dem grausamen »Fort!« das zärtlichste Herz wie ein Todesstreich durchzuckte, ohne daß sie, ach! ihn abzuwehren vermochten.
Nur Lydia war auf ihrem Platze verharrt; mit weitgeöffnetem Blick starrte sie auf die bewegte Gruppe; ihre Glieder bebten unter dem faltigen Trauerkleide, selber ihre[422] Lippen waren weiß. Sie hatte den Schmerz der Trennung, die ihr Rettung hieß, nicht in dieser Muttertiefe geahnt; sie hatte das Opfer, das sie selbst befreien sollte, mehr als das bedacht, welches sie auferlegte. »Das ist dein Werk!« klagte der unerbittliche Genius in ihrer Brust sie an. Das Wort der Erläuterung, der Beschwichtigung, das Wort, welches die Strafe als eine Gnade darstellen sollte, war ihr zugeteilt gewesen; da sie es nicht auszusprechen vermochte, tat es der väterliche Freund an ihrer Statt.
Er ging auf Frau von Hartenstein zu, ergriff ihre Hand und redete ihr zu Gemüt mit bewegtem, ja fast mit zürnendem Klang. Durfte sie ihm zutrauen, daß er ein Kind, an dem er Vaterstelle vertrat, einen Sohn Joachim von Hartensteins, einen Knaben mit noch unentwickelten, selbst körperlichen Kräften, in die Fremde hinausstoßen werde, in die Irre einer ungebändigten äußeren Natur, in das Wirrsal der wüsten Gesellschaft, die jenseit des Ozeans den Boden für neue Kulturen düngt? Nimmer, nimmermehr! Der Port, in welchem ihr verirrtes Kind landen sollte, war ein Friedensport, die Hütte, die ihn bergen sollte, war eine Hütte der Liebe, die Arme, die ihn umfangen und leiten sollten, waren Vaterarme. Kannte die Mutter ihn denn nicht, hieß sie ihn denn nicht ihren Freund, den treuen Mann, der in der Zeit der Drangsal Amt und Heimat verließ, um als Sendbote seines ewigen Herrn das Licht des Heils in das Bereich nachtumschatteter Seelen zu tragen? Wirkten nicht Weib und Kind, lehrend und pflegend, frohbeglückt an seiner Seite? Hatte er nicht manchen Jünger aus seiner deutschen Heimat zu gleichem Wirken sich nachgezogen? Nannten Kirche wie Gelehrtenwelt seinen Namen nicht mit Stolz? Waren es nicht Festtage in der Familie Joachim von Hartensteins, wenn aus dem Palmentale[423] neue Kunde anlangte von dem Gnadenwunder, das die Gebete und die Opfer heimischer Bekenner in immer weiteren Kreisen falschgerichteter Seelen zeugten?
»Unser Vaterland, die Wiege des Protestantismus, hat sich in einer der erhabensten Aufgaben von seinen Tochtervölkern schmachwürdig überholen lassen. Noch wirken an der Stätte, auf welcher das Heil gezeugt, von welcher es in die Welt hinausgetragen worden ist, die deutschen Sendboten, die es in jene verdunkelte Stätte zurücketragen, unter fremder Ägide. Schon jedoch sind die höchsten und hehrsten Herzen dafür erweckt, die Säumnis einzuholen. Bald wird das Friedenskreuz auf preußischem Banner wehen und unter diesem zweifach heiligen Zeichen der dem Vaterlande verlorene Sohn demselben wiedergewonnen werden. Seine Strafe heißt Liebe dulden und seine Buße Liebe üben lernen; sein Exil ist der Boden, der jedes Christen teuerste Erdenheimat ist.«
Es war eine eingängliche Schilderung, welche nach diesen warmen Worten Professor Hildebrand von dem äußeren und inneren Gedeihen der englischen Missionsstation in Palästina entwarf; wohl nur darum so eingänglich, um der aufgeregten Mutter eine Pause der Sammlung zu gewähren. Denn weder ihr noch irgendeinem seiner Hörer wurde etwas Unbekanntes mitgeteilt. Leider auch dem nicht, auf welchen jenes Gedeihen eine Heilswirkung üben sollte. Wenn früherhin der Vormund über seines Zöglings Stumpf sinn, ja seinen Abscheu vor vertiefenden Lehrworten geklagt hatte, so war es zweifelhaft, was dem Kindskopfe gründlicher widerstand, ob die Schulexpositionen der alten Heidendichter oder die Berichte der neuen Heidenbekehrer, die ein Hauptthema der Unterhaltung in seinem »Kerker« bildeten. Was fragte der Sausewind Philipp nach den[424] Operationen der Gnade in einer Berbernseele? was nach den Rudimenten von Sprache und Sage semitischer Völkerbrocken? Die »Friedenshütte des Palmentales« war ihm nur wiederum ein Gefängnis, in welchem gesungen und gebetet wurde, abgeschieden von allem, was auf Erden lacht und lockt, noch weit einödiger als der Ahnensaal von Werben oder die Bücherklause der Gelehrtenstadt.
Während des Professors Vortrag wachte der alte Unband denn auch merkbar in ihm auf; er warf den Kopf in die Höhe, wollte aufspringen, murrte halb unterdrückte Laute. Da die Mutter aber ihren Arm immer dichter um seinen Hals schlang, ihm die Locken streichelte und in sein Ohr flüsterte: »Still, still, mein Kind, ich verlasse dich nicht,« wurde ein Ausbruch notdürftig gehindert, bis der Redner geendet hatte. Zustimmungssicher überblickte er den Kreis seiner Hörer; einer nach dem anderen neigte schweigend das Haupt; nur Lydia stand in sich versunken, und die Matrone erhob sich zu einer Gegenrede von ihrem Platz.
Eine Purpurwoge überflog ihr blasses, kindliches Gesicht; sie zitterte so heftig, daß sie die schlummernde kleine Enkelin, um sie nicht fallen zu lassen, auf ihren Sessel niederlegte und mit beiden Armen den Sohn umklammerte. Sie rang nach einem Wort, war aber so gewohnt, sich schweigend zu fügen, daß sie den Sinn nicht alsobald fand, und den Laut drängte alles, was Angst und Qual heißt, in die Brust zurück. Nach einer erwartungsvollen Pause fragte der alte Freund daher, ob sie gegen das Rettungswerk, welches er nach bestem Wissen und Gewissen, im Einverständnis mit allen den Ihrigen zum Vorschlag gebracht, einen Einwand zu erheben habe.
Sie schüttelte das Haupt. »Nein, nein,« preßte sie hervor.[425] »Aber – aber, ich verlasse meinen Sohn nicht, – ich gehe mit, wohin er geht.«
Die sanfte Frau sah danach aus, als ob sie zu dieser mütterlichen Heldentat unwiderruflich entschlossen sei. Keiner hatte diesen Zug von Energie je an ihr wahrgenommen. Eine lange Pause entstand. Die richtenden Männer blickten betroffen erst die Matrone, dann sich untereinander an. Wo blieb die Strafe und wo die Buße des verlorenen Sohnes unter diesem Geleit? Die jungen Töchter warfen sich an der Mutter Herz, entsetzt von der Vorstellung der Entbehrungen und Gefahren, welche das zarte, teuere Leben bedrohten. Auch Martins Augen waren feucht. Er näherte sich der Gruppe, hob sein Töchterchen von dem Sessel in die Höhe und legte es in der Mutter Arm, während er mit dem seinen ihren bebenden Leib umspannte.
»Und was soll aus diesem armen Würmchen werden, wenn auch du von ihm gehst, Mama?« fragte er mit schluchzender Stimme.
Die unglückliche Frau taumelte auf ihren Platz zurück. Zum ersten Male entstürzte ein Tränenstrom ihren Augen. Im Arm das schwache, mutterlose Kind, an der Hand den geächteten Sohn, schweiften ihre Blicke von jenem zu diesem und von diesem zu jenem. Welches von beiden liebte sie mehr: das schuldige Kind oder das unschuldige? Welches von beiden bedurfte der Liebe einer Mutter mehr? Ach, bewahre doch Gott in Gnaden ein armes Frauenherz vor solcher Liebeswahl! Kein Atemzug wehte durch die Schwüle des Ahnensaals.
Da nahte sich Lydia mit festen Schritten; das schöne Haupt hoch aufgerichtet, ein hehres Feuer in den Augen und auf den Wangen eine Purpurblüte. »Nicht du, meine Mutter,« sagte sie, indem sie die Hand der Witwe an ihr[426] Herz drückte. »Dein Platz ist bei diesem Kind. Mit deinem Sohne gehe ich, und ich gelobe dir, fortan mit deinen Augen über ihn zu wachen.«
Die Mutter lehnte ihr Haupt an der Tochter Brust.
»Lydia!« stammelte sie. »Lydia, du mit ihm! du! – o, mein Joachim, hast du es gehört?«
In diesem unter sich so vertrauten Kreise ahnete keiner, daß der Entschluß, welchen Lydia mit solcher Ruhe äußerte, nicht erst die Eingebung des Augenblicks sei, sondern eine vorbedachte Selbstbefreiung von schwerem Druck, – keiner als Dezimus, der einzige dem Kreise nicht Vertraute. Alle anderen sahen nur das Opfer; die Mehrzahl neben dem moralischen Opfer auch das materielle, da es ja den Verzicht auf das Werbensche Erbe in sich schloß; und gewiß berechnete mancher die Einbuße, die auch ihn mittelbar bedrohte. Aber so natürlich erschien alles, was dieses Mädchen Besonderes tat, so besonders alles, was ihm natürlich war, und so unbedingt war die Schätzung ihrer adligen Natur, daß auch nicht der leiseste Einwand gegen ihr Vorhaben erhoben wurde. Der schwere Familienkonflikt würde heute wiederum wie beim Tode des Vaters durch das Opfer der Schwester erledigt worden sein, wenn – ja, wenn nicht der gewesen wäre, welchem es dazumal einschließlich und heute ausschließlich gebracht wurde.
Der aber, der törichte Knabe, gebärdete sich plötzlich, als ob der böse Geist in ihn gefahren sei. In dem Geleit der Mutter, so aufrichtig es gemeint war, hatte er eine gütige Täuschung gesehen, einen Einfall, der ihm das Wasser in die Augen trieb, aber doch nicht viel mehr als eine Seifenblase. Wenn es auf ihn selber angekommen wäre, ei freilich, was hätte er sich denn Besseres wünschen können, als mit seinem Mütterchen eine Bußfahrt um die halbe Welt[427] zu machen, an irgendeinem hübschen Platze es zum Aussteigen zu bereden und allda seines jungen Lebens froh zu werden! Aber die anderen! Was sollte diese liebe, gute, englische Mama unter Juden, Heiden und Türken? Weit eher, als daß man sie fort ließ, ließ man ihn ja los. Die ganze Geschichte war dummes Zeug.
Nun jedoch, da Lydia an der Mutter Stelle trat, wurde die Geschichte bitterer Ernst, und die lange verbissene Wut brach jählings in dem Unband aus. Er riß sich von der Mutter Hand, ballte die Fäuste und stampfte mit den Füßen. Die Augen sprühten wie wilde Katzenaugen.
»Und ich gehe nicht mit!« kreischte er mit überschnappender Fistelstimme. »Ich kann keine Heiden bekehren, und ich mag keine bekehren. Ich bin selber ein Heide. Ja, ein Heide bin ich. Ein Heide! Ich will nicht beten und singen, zu Hause nicht und im Gelobten Lande noch viel weniger. Schleppt mich nur hin; ich laufe unter die Türken und werde Soldat. Sperrt mich nur in die Kajüte, bindet mich fest, beim Landen müßt ihr mich doch losmachen, und ich springe ins Meer und schwimme mich frei, lebendig oder tot!«
Welcher Umschlag in den Gemütern! Lydia stand starr und fahl wie ein Gespenst; alles Mitleid der jungen Schwestern war verstummt, selbst die Mutter blickte verzagt. Die Männer zitterten oder knirschten vor Empörung.
»In die Zwangsjacke mit dem Besessenen!« murmelten die geistlichen Freunde.
»In das Zuchthaus mit dem Bösewicht!« riefen die weltlichen Schwäger.
Dann eine Pause stummer Ratlosigkeit. Philipp wischte sich den Schweiß von der Stirn und den weißen Schaum von den Lippen. Die Tarantel hatte ausgebraust. Wallt[428] doch selbst in grauen Siedeköpfen die wilde Wut einen Atems auf und ab, und hat sie abgewallt, ist das Gehäus bis auf weiteres entleert. Gegenwärtigen kindischen Siedekopf aber gar, hätte man fünf Minuten, nachdem er sich als Heide proklamiert, ihn an Bord eines christlichen Missionsschiffes geführt, er würde gefolgt sein wie ein Lamm. Ja, er blickte schon wieder ganz wohlgemut dem Freunde zu, dessen Gegenwart er seit einer Stunde vergessen hatte und den er jetzt aus seinem Fensterwinkel auf die rat- und sprachlose Versammlung zuschreiten sah. Sein lieber, guter Dezimus, er würde ihn schon noch einmal aus seiner argen Klemme ziehen!
Die Blicke der weisen Richter waren denen des jungen Toren nicht ohne Befremdung gefolgt. Was wollte Saul unter den Propheten?
Wenn für ein Problem, das Tag wie Nacht hindurch Hirn und Herz zerwühlt hat, im Sturme des Affekts, jach wie ein Blitz, die Lösung uns durchzuckt, dann, nicht wahr? dann nennen wir es Eingebung? Und wenn, wiederum im Sturme des Affekts, die Eingebung einen zündenden Ausdruck findet, dann nennen wir diesen Beredsamkeit? Wirkung und Wirksamkeit solcher Art war dem glücklichen Kandidaten in dieser Stunde beschieden. Er hatte einen Einfall zu rechter Zeit, was allemal ein Treffer ist in der Lebenslotterie; einen recht einfachen Einfall, ebenso einfach wie der des Kolumbus, nicht da er Amerika entdeckte, sondern da er das bewußte Ei zum Stehen brachte.
In Parenthese: Nach Frau Hanna Blümels Dafürhalten ein weit verwunderlicheres Kunststück als die Entdeckung Amerikas, insofern das Ei weder ausgelaufen noch ein hartgesottenes gewesen sein sollte.
Diesen einfachen Einfall brachte der Kandidat nun aus[429] eigener Machtvollkommenheit der bestürmten und bestürzten Versammlung zu Gehör, aus warmem Herzen mit warmem Wort, denn er sprach als Freund. Daß er dabei nicht ohne gewisse diplomatische Rücksichtsnahmen verfuhr, wird man hoffentlich seinem redlichen Hirtensinn weder als Ironie noch als Achselträgerei auslegen. Selber von der Kanzel herab muß ein Redestück ja wohl dem Auditorium ohrgerecht zubereitet werden, wie viel mehr in einem Ahnensaal.
Unabsichtlich kunstgemäß nahm er seinen Ausgang von dem geringfügigsten Punkt, will sagen von seiner eigenen Person. Er erzählte denen, die es noch nicht wußten, und just denen galt ja seine Überredung, von seinem Bruder, einem erprobten Seemann, der den kommenden Winter in einem bescheidenen Heimwesen auf einer der friesischen Inseln auszuruhen gedenke, und daß er, der Kandidat, im Begriffe stehe, einer geschwisterlichen Einladung in dieses Heimwesen zu folgen. Unumwunden richtete er darauf an die, welchen die Entscheidung über seines jungen Freundes Schicksal zustehe, die Bitte, ihm denselben als Begleiter auf dieser Reise anzuvertrauen und, falls die Verhältnisse seinen Erwartungen entsprechend gefunden werden sollten, ihn alldort für eine Probezeit der Obhut braver, einfacher Menschen und der geistigen Führung des Predigers der Insel, dessen Name ja als der eines treuen Christen und bewährten Pädagogen weit über den Kreis seiner nächsten Wirksamkeit hinaus bekannt sei, zu überlassen.
(Erstes Zeichen rednerischen Erfolges: die beiden frommen Seelsorger neigten bei diesem Passus vom Inselpastor zustimmend die Häupter.)
»Insofern nämlich der Jüngling gewillt sei, sich dieser Probezeit ohne Sträuben zu unterwerfen und – –«[430]
»Ja, ja, ich will!« unterbrach ihn Philipp freuderot, indem er Anstalt machte, sich seinem Erretter in die Arme zu stürzen.
Der aber wehrte ihn ab. »Nicht an Ihnen ist zunächst die Entscheidung, und es ist kein Freudenleben, das Sie erwartet, törichtes Kind,« sagte er mit Mentorwürde, für welche Zurechtweisung er ein zustimmendes Neigen auch der beiden schwägerlichen Häupter erntete.
»Ein unruhig neugieriges Verlangen,« so fuhr er fort, »prickelnd in den Adern dieses Jünglings, den ich, über seine Jahre hinaus, noch einen Knaben nennen möchte, hat ihn in eine schwere Verirrung getrieben, und es ist im Kreise dieser Berufenen entschieden worden, daß unsere gesellschaftlichen Einrichtungen einem derartig Verirrten seines Standes, selbst wenn er ein anderer geworden wäre, nicht den Raum gewähren, auf welchem er sich zu einem nützlichen und glücklichen Menschen heranbilden dürfte. Mir, in meiner Stellung, gebricht wie das Urteil so die Befugnis, solchem Entscheid zu widersprechen.«
(In Mienen und Gebärden allseitige Zustimmung des Männerkreises bei diesem Zeugnis bescheidener Selbstschätzung.)
»Sollte aber nicht vielleicht für eine derartig angelegte Natur der Beruf des Seemanns in Betracht zu ziehen sein? Sollte – –«
»Ja, ja, Seemann will ich werden!« unterbrach ihn Philipp zum zweiten Male, um zum zweiten Male zur Ruhe verwiesen zu werden.
»Der maritime Verkehr unseres Vaterlandes,« so hob sein Fürsprecher von neuem an, je mehr und mehr auch von einem sachlichen Eifer beherrscht, »beschränkt sich bis jetzt auf den Handel von Privaten. Die Sehnsucht des[431] Volkes aber drängt zu Schutz, Förderung und Forschung nach einer staatlichen Ausdehnung dieses Verkehrs.«
(Seitens des Kammerherrn Zeichen der Mißbilligung, von dem Redner leider unbemerkt.)
»Und wenn diese Ausdehnung eines Tages errungen werden sollte, würde dann für einen bereits seemännisch Geschulten nicht auf eine angemessene Stellung im vaterländischen Dienst zu rechnen sein?«
(Die Nichtübereinstimmung mit dieser zweifachen Erwartung einer preußischen Flotte und eines auf ihr bediensteten Schwagers wurde jetzt auch an dem hohen Rat so augenfällig, daß der Kandidat sich beeilte, eine sympathischere Saite anzuschlagen.)
»Aber auch abgesehen von dieser zweifelhaften Zukunftsfrage, wie häufig ist es ausgesprochen worden, und wem leuchtete es nicht ein, daß das wagnisvolle Ringen zwischen Ozean und Himmel wie kein anderer Beruf geeignet sei, einen schwanken Menschen fest, einen schwachen stark zu machen; warum nicht auch diesen Jüngling, dem ein unbestimmter Drang in das Weite den Segen der Nähe verkennen läßt? Warum mit der Zeit ihn nicht auch reif für das erhabene Amt, das seine Freunde für ihn erwählten, wenn er auch heute noch nicht fähig ist, seine heiligende Bedeutung zu fassen? Schon manchen unserer wirkungsvollsten Missionare hat der Drang der Forschung, ja der Abenteuer unter die Heidenwelt getrieben, bevor das Erbarmen mit deren geistiger Armut den Eifer des Apostels in ihm zum Durchbruch brachte.
Wenn aber auch dieser höchste Segen eine Frage der Zukunft bleiben muß, so würde der Gewinn für die Gegenwart wohl in keiner Weise eine Frage sein. Ein winterlicher Aufenthalt auf dem einsamen Eiland, unter den Eindrücken[432] elementarer Allgewalt, im ausschließlichen Umgang mit Menschen, die vertraut sind den herben Entsagungen und Drohnissen des seemännischen Berufs, würde die Entscheidung für oder gegen diesen Beruf in dem Jüngling zur Klarheit bringen, würde den Seinen, wie ihm selbst, zur Wahl eines anderen die Frist gewähren; der zarte Körper würde sich kräftigen, äußere Kenntnisse und innere Erkenntnis würden gefördert, knabenhafte Einbildungen verscheucht werden, der Übermut Grad um Grad sich zu besonnenem Mannesmut abdampfen.«
Als der Kandidat mit diesen Worten seine Jungfernrede schloß, erntete er einen großen Triumph. Der verlorene Sohn hing an seinem Halse, nannte ihn seinen Retter, seinen einzigen Freund; Bruder Martin nannte ihn gar ein famoses Genie, und die beiden Schwestern umschmeichelten ihn unter Lachen und Weinen, ohne daß ihre Herren Ehegemahle darob eifersüchtig wurden. Die unglückliche Mutter aber dankte ihm wie eine zum Tode Verurteilte für die erwirkte Gnadenfrist.
»Ja, er soll mit Ihnen gehen,« schluchzte sie. »Handeln Sie für ihn, als ob er Ihr Bruder wäre.«
Und endlich die weisen Richter, was blieb ihnen übrig, als aus der Not eine Tugend zu machen und ihren Herrgott im stillen zu preisen, weil ihnen einen Winter lang vor dem bösen Buben Ruhe verschafft worden war? Keiner aber inniger als der alte Familienfreund, der vier Jahre hindurch bei seinen Vormundspflichten weit Unleidlicheres auszustehen gehabt hatte als der junge Leichtfuß bei seinen Mündelpflichten. Die Seemannsprobe unter der geistigen Obhut des wohlberufenen Inselpfarrers war eine Erlösung für den gottesgelehrten alten Herrn. Er stellte daher, einer etwaigen weichmütigen Sinnesänderung vorzubeugen,[433] auch lediglich die Bedingung, daß die Reise sobald als möglich angetreten werde; und als Dezimus sich jede Stunde zu ihr bereit erklärte, gleichviel ob Bruder Steuermann bereits in sein Winterquartier gerückt sei oder nicht – Herr im Hause war ja doch die Steuerfrau –, wurde gleich der heutige Abend zum Antritt der Bußfahrt bestimmt. Diese würde unter persönlicher Führung des treuen Vormunds vonstatten gegangen sein, wenn nicht Fräulein Lydia sich zu seiner Stellvertretung erboten hätte; ein Tausch, gegen welchen von keiner Seite Einwand erhoben wurde und von Seite des Kandidaten Frey am wenigsten.
Die unglückliche Lydia! Sie allein teilte die allgemeine Befriedigung nicht. Wohl drückte auch sie Dezimus die Hand, wie man sie einem nothelfenden Freunde zu drücken pflegt; aber die Purpurblüte war auf ihren Wangen erloschen und auf ihre Seele die Last zurückgewälzt, von welcher sie sich durch ein edles Opfer zu erlösen gehofft hatte. Keiner im Kreise ihrer Gleichgesinnten ahnete diese Last. Der einzige Fremde in diesem Kreise aber verstand und empfand sie wie einen eigensten Schmerz.
Im Pfarrhause feierte der Kandidat, der eine bängliche Schicksalsfrage so befriedigend gelöst hatte, einen zweiten außerordentlichen Triumph; wenn auch nicht gerade als inspiriertes Genie, so doch als ein Held des Glücks. Vater Blümel, der Versöhner, würdigte diese Lösung zwar als den ersten tatsächlichen Beweis, daß der Sohn über den Angelegenheiten im hohen Himmel und an demselben nicht zum Simplex und Tolpatsch in den Nöten des Menschenlebens geworden sei; Mutter Hanna aber, die eines solchen Beweises längst nicht mehr bedurfte, sah in dem bösen Buben bereits den Admiral einer in Zukunft möglichen[434] deutschen Flotte oder doch zum allerwenigsten einen wackeren Schiffskapitän; das jedoch keineswegs um seiner maritimen Begabung willen, sondern lediglich aus dem Grunde, daß die Hand ihres gesegneten Johanniskinds sich in seine Untaten gemischt hatte; und Röschen – ja freilich, das liebe Röschen schmollte und schmälte recht strudelköpfisch, bei Lichte besehen war aber auch dieses Schmollen und Schmälen ein Triumph und ein recht süßer Triumph.
Dieser alte Dezem! Kaum in das Haus, wollte er schon wieder fort, und Röschen hatte sich doch den ganzen langweiligen Sommer hindurch auf die Kandidatenvakanz, und zum ersten Male seit vier Jahren auf eine lustige Weinlese gefreut! Und wenn er noch ganz allein auf seine wüste Insel gegangen wäre! Aber in Gesellschaft eines wunderschönen Fräuleins – denn der dumme Junge zu dritt, der zählte für Null – bei Nacht und Nebel in die weite Welt hinein zu dampfen, schickte sich das? Schickte sich das ganz besonders für einen Kandidaten pro ministerio? Nein, es schickte sich nicht. Und darum wollte Röschen mit. Röschen wollte endlich auch einmal eine Reise machen, das Meer sehen, eine große Stadt und was es etwa sonst noch Hübsches bei Wege zu genießen gab.
Ja, das liebe Röschen wollte mit, absolut mit; und ihren alten Dezem, ei nun, den hatte sie bald genug herum. Fürs Leben gern hätte er sie mitgenommen. So als zehntes Korn, von Rosen und Lilien eingefaßt, oder als Dezemshuhn, von Lerche und Schwan begleitet, was hätte das für einen Einzug in Mutter Stinens Inselhause gegeben!
Der Plan scheiterte aber leider an dem Nein des sonst so nachgiebigen Papa Blümel, der seinen Liebling eine[435] kleine Törin schalt; und als nun auch Leutnant Martin sich die Vorstellung erlaubte, daß eine so schöne Dame wie Fräulein Rose doch eine gar zu gefährliche Eskorte für einen jungen Sträfling wie Bruder Philipp sein würde, und weheleidig hinzusetzte, daß er und seine beiden Schwestern sich so herzlich auf ein zerstreuendes Zusammensein mit ihrer liebenswürdigen Freundin gefreut hätten, was blieb dem lieben Röschen da übrig, als zu lachen und ihrem alten Dezem zu erklären: während er mit dem schönen Fräulein Bußpsalmen singe, werde sie, um sich seiner angemessen zu beschäftigen, es sich angelegen sein lassen, einem betrübten Witwer gründlich Trost zu spenden.
Zu welchem lobenswerten Vorsatz der alte Dezem seinen Segen gab.
Ach, es war durchaus keine Lustreise in des lieben Röschens Sinn, zu welcher die drei jungen Menschen mitten in der Nacht aufbrachen. Eine hastige, stillernste Fahrt durch Gegenden, in welchen, auch wenn die Sonne scheint, die schlummernde Seele nicht erwacht und die bedrückte sich nicht erhebt. In keiner der bedeutenderen Städte wurde geweilt; umgehend lösten Dampf- und Postverbindung sich ab. Mit schwerem Herzen durch Dunkel und Nebel nur immer voran!
Aber nicht Lydia allein, auch Dezimus fühlte sich beklommen. Von seinem Heldenstolze war eine klägliche Neige übriggeblieben. Wie ein Experimentator, ja, wie ein Abenteurer kam er sich vor, wie ein waghalsiger Spieler mit fremdem Glück. Graue Dunstschleier umhüllten das Inselhaus, das er als einen Hafen geschildert hatte; und wenn das steuerlose Boot, das er in diesem Hafen bergen[436] wollte, nun als Wrack an die heimische Küste zurückgespült wurde, wie sollte er vor dem Chor der strengen Richter bestehen, wie vor Lydias ernster Seele?
Nur der, welcher diese Zweifel um das Geratewohl einflößte, empfand von ihnen keine Regung. Nachdem er sich den Abschied von seinem Mütterchen aus dem Sinne geschlagen, schaute er so wohlgemut drein wie seit seinen Kinderjahren nicht mehr; bald genug aber drückte er, da es des Unterhaltenden weder zu sehen noch zu hören gab, seine Guckaugen zu und ließ sich in den Schlummer rütteln, der Glückliche seines Schlags auf hartem oder weichem Polster, bei gutem oder bösem Gewissen nicht lange auf sich warten läßt.
So ohne Zeugen, in stiller Nacht dem jungen Manne gegenüber, dem sie so Bedeutendes zu danken glaubte, bezwang Lydia endlich den in sich gekehrten, mitteilungsscheuen Sinn. Dezimus war ihr seit Jahren ein Fremder geworden, und schwerlich mochte sie ihn jemals in irgendeinem Sinne als ihresgleichen geachtet haben. Nun jedoch, da er in einer entscheidenden Weise in ihr eigenstes Leben eingegriffen hatte, erkannte sie sein Anrecht, ihren Nächsten zugezählt zu werden. Denn nur Vertrauen kann eine Guttat lohnen; und wie es einen Spürsinn gibt für die wahrhaftige Teilnahme, welcher der vernehmbare Ausdruck nicht genügt oder nicht gelingt, so löste sich im Sagen und Verstandenfühlen das Band, das ihre Brust zusammenschnürte, und sie redete, wie sie es seit ihrer großen Schicksalswendung nicht mehr getan hatte, in vollen, freien Herzenstönen. So gestand sie denn auch, was Dezimus von vornherein geahnt hatte, daß der Entschluß, ihren Bruder zu begleiten und sich dauernd aus allen heimischen Verhältnissen zu lösen, nicht bloß als Gewissensakt einen lockenden[437] Zauber auf sie geübt und daß seine Vereitelung ihr einen tiefen Niederschlag bewirkt habe.
»Wie oft,« sagte sie, »ist es doch die nackte Selbstsucht, welche die Aureole eines Opfers umschimmert! Ohne es mir deutlich einzugestehen, sehnte ich mich nach einer veränderten Sphäre, nach einem Anfang gänzlich neuen Lebens. Die Aufgabe, welche ich meiner Familie gegenüber zu erfüllen hatte, wäre überdies mit diesem Neuanfang erfüllt gewesen. Meine Schwestern sind versorgt, die Mutter hat in Martins Hause den ihr gemäßesten Wirkungskreis. Den durch meine Schuld verirrten Bruder glaubte ich in meines Vaters Sinne und törichterweise auch in des Knaben eigenem beweglichen Sinne auf einen guten Weg zu führen: ich durfte einen Platz räumen, auf dem ich mich allezeit als Eindringling gefühlt habe.«
Dezimus erlaubte sich, diese letzte Auffassung als eine unrichtige zu bezeichnen. Sie ließ aber seinen Widerspruch nicht gelten.
»Ich mußte,« sagte sie, »in jener äußersten Bedrängnis es als eine göttliche Fügung nehmen, die mir diese Ausflucht bot. Sie kostete mich mein Selbstgefühl; aber ich hatte keine Wahl. Nach ihrer Mutter Tode steht Sidonie heute hülfloser da als ich, und es ist mir nicht etwa Pflicht, nein, Wohltat, sie an meine Stelle treten zu lassen und das, was sie aus meiner Hand ablehnen zu müssen glaubte, dankbar aus der ihren anzunehmen. Das heißt die Mittel, welche Philipps von neuem zweifelhaft gewordene Existenz erfordert, während ich meinen eignen Weg einschlage.«
Dezimus kannte die kleine Sidi gut genug, um voraus zu wissen, daß sie auch diese in eine zu erweisende Wohltat umgekleidete erwiesene Wohltat noch ablehnen werde. Muß einer denn aber wahrlich nicht ein Johanniskind[438] sein, der auf diesem »am Golde hängenden, nach Golde drängenden« Erdenrund das seltene Schauspiel genießt, zwei gleich bedürftige und keineswegs durch Sympathie verbundene menschliche Wesen sich gegenseitig einen Goldhaufen zuschieben und gegenseitig zurückschieben zu sehen? Eine Schimäre ist das Gold leider Gottes nicht, aber hier wurde es schlechthin zur Schikane.
Während er lächelnd diese Betrachtung anstellte, war Lydia unvermerkt auf die jammervollen Einzelnheiten übergegangen, welche ihr alter Lehrer über die Heimsuchung in seiner Provinz den Freunden hinterbracht hatte. Hier wäre nun der geeignetste Platz für eine, die eine Lebensaufgabe sucht, gewesen; ungeschult, wie sie in der Krankenpflege großen Stils indessen noch war, würde sie für die gegenwärtige Not zu spät gekommen sein. Sobald sie aber zu einem einigermaßen befriedigenden Überblick über ihres Bruders neue Lage gekommen sein werde, erklärte sie sich fest entschlossen, sich zur Diakonissin auszubilden und dauernd ihren Beruf in diesem Amt zu finden. Was hätte denn auch einer Lydia angemessener sein können als solcher Entschluß?
Dennoch war Dezimus auf diese Konsequenz ihres Planes, das Vorrecht an Werben ihrer Cousine abzutreten, nicht gefaßt gewesen, und ein Krampf schnürte plötzlich seine Brust zusammen. Er fand keinen stichhaltigen Einwand, und er hätte keinen finden können. Aber Lydia fühlte ihm an, daß er nach solchem Einwand ringe, und kam ihm mit einem ehrlichen Bekenntnis zuvor:
»Meine natürliche Aufgabe war, einigen wenigen viel zu sein. In eigensinniger Verblendung habe ich diese Aufgabe verfehlt, und ich nehme es als Buße hin, fortan allen Einfluß auf des mir anvertrauten Kindes Schicksal seinen[439] besseren Freunden zu überlassen. Was könnte in solcher Lage nun aber gebotener sein als das Streben, vielen etwas zu werden, und gäbe es für eine Frau, die der Familienpflicht enthoben ist, wohl einen erfüllenderen Beruf als den, welchen wir, ziemlich hochtrabend, Samariterdienst nennen?«
Dezimus hätte wohl einen erfüllenderen Beruf gewußt; aber durfte ein dreiundzwanzigjähriger Kandidat der Gottesgelahrtheit dem allerschönsten Fräulein, das es für ihn gab, unter vier Augen raten: »Ja, einem einzigen alles werden!« Obendrein, da dieses allerschönste Fräulein schon einmal an diesem Alleswerden gescheitert war? – So sagte er denn nur kleinlaut, mit niedergeschlagenen Augen, indem er das Blut in seine Wangen schießen fühlte: »Keinen für eine, der das Ungemeine das Naturgemäße ist.«
»Warum,« rief Lydia mit einem Eifer, ja mit einem Feuer, wie sie vielleicht niemals geredet hatte, »warum soll dem Weibe nicht naturgemäß sein, was es dem Manne doch ist? Oder nennen Sie den Beruf des Arztes auch einen ungemeinen? Es müssen mehr solche allgemeine Aufgaben uns erschlossen werden. Die Erfüllung, die Sie zu meinen scheinen, liegt nicht in unserer Gewalt; wofür wir aber die zulängliche Kraft des Organs in uns erkennen, müssen wir auch das Recht haben, uns auszubilden und das Ausgebildete zu verwerten. Ich bin von meinem Vater für ernste Lebenszwecke erzogen worden. Soll ich die letzten Jahre der Jugendkraft ratlos und tatlos in einer Sinekure verträumen? Darf ich es? Und wenn ich dürfte, ich vermöchte es nicht. Nicht mehr. Seit der Stunde, wo mein harter Wille einen schwachen Knaben an den Rand des Abgrunds trieb; seit ich erkannt habe, daß das, was[440] ich für meine Reife hielt, meine Unreife war, drängt eine unwiderstehliche Gewalt mich aus meiner beengenden Stille heraus. Mir ist, als senke sich ein dichter Schleier, der mir seit Jahren das wahrhaftige Leben verhüllte, und ich sehe keine Hülfe für mich als die Hülfe einer Tat.«
Die Sonne war während dieser Rede aufgestiegen, eine goldigklare Oktobersonne. Philipp erwachte von dem Schein, der ihm plötzlich in die Augen fiel, und Lydia versank wieder in stilles Sinnen. Dezimus wechselte mit dem Jünglinge gleichgültige Bemerkungen über äußere Eindrücke; sein Herz aber war froh bewegt; auch ihm hatte sich der Schleier gesenkt, der ihm sein weißes Fräulein seit Jahren verhüllt hatte.
Nach einer ruhigen Überfahrt langten sie auf der Insel an. Die Brüder waren vor ein paar Tagen heimgekehrt; der timide Amerikaner, um – so hatte es die regierende Steuerfrau dekretiert –, bevor er in das binnenländische Hirtenhaus übersiedelte, in kräftigender Strandluft und Beköstigung sich von der läppischen Seekrankheit gründlich auszuheilen.
Die Freude des brüderlichen Wiedersehens und Sichkennenlernens äußerte sich, je nach der Art, in starken, schwachen oder auch in gar keinen Lauten; aufrichtig aber war das Willkommen, das die unbekannten Begleiter empfing. Diese seefahrenden Insulaner sind Leute, die mit allerlei Volk umzugehen lernen, und das saubere Haus am Strande war auf Gastlichkeit eingerichtet. Während der Badezeit hatte es Herrschaften, die ebenso fein waren wie die gegenwärtigen, wohl schon des öfteren beherbergt. Im Winter jedoch und aus barer Freundschaft noch nie; auch erklärte Mutter Stina, so wunderschöne Menschenbilder wie diese Hartensteinschen noch nie mit Augen gesehen zu[441] haben, nicht einmal gemalt. Der blöde Bruder Friede aber, der, wenn auch etwas abgezehrt, an Leibeslänge seinem Ältesten kaum etwas nachgab, verwendete kaum die Augen von dem lieben prächtigen Junkerchen und folgte ihm auf Schritt und Tritt, wie eine Neufundländer Dogge einem freundlichen Kinde folgt.
Die Bedingungen zu Philipps Beherbergung erledigten sich daher zu allseitiger Zufriedenheit, und daß es der kernhaften Steuerfrau, samt Steuermann, kein Hexenstück deuchte, neben ihren bis jetzt bloß drei persönlichen Buben einen freiherrlichen Wildfang zum Schiffsjungen zu dressieren, verdient schwerlich der Erwähnung.
Tiefer eingeweiht in des Wildfangs Vorgeschichte wurde der Inselpastor, ein Mann so recht von Grund aus, wie er Lydia in ihrer gegenwärtigen Stimmung not tat und für ihr dringendstes Anliegen wie geschaffen. Als Sohn eines Schiffskapitäns mit nautischer Kenntnis vertraut, war es ihm leicht, den Jüngling auf den erwählten Beruf hin zu prüfen; als vormaliger festländischer Gymnasiallehrer und als unverheirateter Mann war es ihm ein wohltuender Wechsel, sich ein paar Tagesstunden dem klassischen Unterricht zu widmen und seine Augen wachsam auf eine junge Seele gerichtet zu halten. Philipp versprach seinem Freunde Dezimus in die Hand, gehorsam und fleißig in seiner Verbannung auszuhalten.
»Und da ich Ihnen die Hand darauf gegeben,« so lautete seine Logik, »halte ich es auch. Lydia hatte ich nie etwas gelobt, warum hätte ich ihr parieren sollen?«
Es verschwand demnach von vornherein das kleinmütige Verzagen. Alles und jedes ließ sich an so, wie der Held des Glücks im entscheidenden Moment es geschaut und geschildert hatte. Er hat sich weder auf seinen Scharfsinn,[442] noch auf seine Rhetorik etwas zugute getan, die Wochen aber, welche er an der Seite seines weißen Fräuleins des frohen Gelingens Zeuge ward, hat er nicht aufgehört, zu den köstlichsten seines Lebens zu zählen, denn es waren ewige Offenbarungen, welche beider Seelen auf der stillen Insel eingegeben wurden.
Sie, wie er, feierte den ersten weiten Ausblick in die Welt; sie, wie er, fühlte zum ersten Male den starken Pulsschlag der Natur: denn sie standen am Meer. Wohl waren es nicht die hesperischen Gestade, zwischen welchen Lydia nach dem Palmentale zu segeln gehofft, nicht des Kreuz des Südens, das Dezimus sehnend sich im tropischen Ozean spiegeln sah. Es war ein kahler Strand, ein nebelgrauer Himmel, eine nordische See. Aber doch die See! Und von allen Natureindrücken wirkt keiner so überwältigend wie der des Meeres, weil es nicht nur den höchsten Sinn, sondern jeglichen Sinn des Leibes und des Geistes gefangennimmt.
Wir sehen sein Lächeln und sein Zürnen wie die einer beseelten Kreatur, wir hören den Rhythmus seiner Sprache, atmen seinen seltsam würzigen Brodem, fühlen die wogende Kühle, mit der es uns umspült. Und wie lockt es die Phantasie in seine Tiefen, wie lockt es den forschenden Gedanken in alle erreichbare Fernen, während es gleich dem unerreichbaren Firmament, das es widerstrahlt, das Ahnen und Mahnen des Unendlichen im heimlichsten Seelengrunde aufstört.
Endlich aber: es ist unser eigen! Welches Gemüt erschütterte nicht das Ringen, unter welchem die schwache Eintagsfliege, Mensch, zum Herrn über den Leviathan sich setzt? sei es, daß sein Kiel die Brandung durchfurcht, sei es, daß er mit Ameisenfleiß seine Scholle zum Schutz gegen[443] Sturm und Woge umwallt. Wie zeugt und hebt es jede Mannestugend und Kraft! Wer darf sagen, daß er das Geheimnis der Heimatliebe spüre so wie der spärliche Menschenrest auf diesen Inselbrocken, die einstmals blühender, fester Boden waren? Hunderttausende, die er genährt, hat die einbrechende Flut verschlungen, und die wenigen, die sie verschonte, hat sie jede Stunde zu verschlingen die Macht. Und doch klammern sie sich an ihn, schützen, bebauen ihn, und aus paradiesischer Üppigkeit lockt es den Seefahrer an seine rauhe, umbrandete Küste wie in einen weichumfangenden Mutterarm, und der sturmgepeitschte Wogenschlag hallt ihm wie ein Wiegenlied.
Und all diese Schauer einer hehren, herben Größe empfanden Lydia und Dezimus zu zweien so, als wären sie allein. O, was waren das für Stunden am Strand, im Boot, in dämmernder »heiliger Frühe«, bei glutdurchströmtem Tagessinken, unter dem nächtlich strahlenden Firmament! Wie weitete sich seine Brust, wie färbten sich ihre lange bleichen Wangen! Diese reine Menschenblüte, die unter rauhem Frühlingssturme ihren Kelch zusammengezogen hatte, sie öffnete ihn zu düftereichen Strömen, und die ernste Freundschaft, die sich in diesen Stunden des Erwachens schloß, die wird wohl standhalten wie am mitternächtigen Horizonte der Stern, der dem Piloten auf hoher See die Richtung gibt.
Freund Kandidat saß wieder im Giebelstübchen des Chaldäerhauses. Da der Seelenvater sich wie zuvor schon der Sternenvater für Zurücklegung auch des Oberlehrerexamens entschieden hatte, war wider Hoffen und halb und halb auch wider Verstehen die Rosenwonne in die Ferne gerückt. Indessen ließ nachts die Beobachtung gewisser[444] Lieblingsphänomene, die am novemberlichen Himmel zu schwärmen pflegen, und ließ am Tage die Rückschau auf phänomenale Meeresoffenbarungen es zu beängstigenden Schauern des Kandidatenfiebers nicht gelangen. Unter sprühenden Weltenfunken und goldenen Erinnerungen, unter Träumen von eitel Frieden und Freude flogen Tage und Wochen dem Glücklichen hin, als jach das Schicksal geschritten kam, das mit ehernem Tritt Bahnen verschüttet und Bahnen bricht.
Die mehrerwähnte böse Seuche hatte sich von ihrem ursprünglichen Herd auch über andere Teile des Vaterlandes, wo sie ein dichtgedrängtes Volk der genügenden Nahrung entbehrend fand, ausgebreitet. Für die Werbener Gegend war man jedoch außer Sorge; unter den erquicklichen Luftströmen ihres Tales und seinen der Mehrzahl nach wohlhäbigen Bewohnern hatte seit Menschengedenken selbst keine Kinderkrankheit epidemisch Fuß gefaßt. Die Cholera war vor Jahren in den nachbarlichen Auenstädten und Dörfern wie ein Würgengel aufgetreten; an der Werbener Flurmark machte sie halt. Im frommen Dank für diese Gnade hatte man dazumal in der Pfarre wie auch in diesem und jenem Bauernhofe, wo die Blümelsche Sinnesart allmählich Widerhall gefunden, für die Heimgesuchten gearbeitet, gesammelt, gespart, das Entbehrliche hingegeben, und also geschah es heuer wieder. Tropfen leider auf einen heißen Stein!
Lydia sandte unter des Kurators Zustimmung den größten Teil der aufgesparten Hälfte ihrer Rente in die bedrängten Gegenden; sie glaubte sich zu diesem Eingriff in ihre eigene Ordnung berechtigt, da binnen kurzem ja das volle Einkommen auf ihre Cousine übergehen werde.
Denn das herzstärkende Zwischenspiel am Meer hatte[445] Lydia in ihrem ernsten Zukunftsplane nur gefestigt; Sidonie war durch Freund Blümel bereits davon benachrichtigt, daß jene unmittelbar nach Philipps Entscheidung über seinen Beruf, also zum Frühling, in die große Diakonissenanstalt am Rhein eintreten werde. Sie lebte zurzeit auf dem Schlosse wieder ganz allein. Die Geschwister waren in ihre Heimstätten, die Mutter in Martins Haus zurückgekehrt.
Pastor Blümel bekämpfte ihr Vorhaben nicht; doch bangte ihm vor dessen Ausführung, weniger um ihretwillen als um seiner selber willen. Lydias Verhältnis zu ihm und seinem Hause war seit der Heimkehr von der Insel ein verändertes. Sie besuchte regelmäßig seine Kirche; von Mutter Hanna wurde sie in ihrer Einsamkeit gleich einer Angehörigen gehegt, und auch Röschen gewöhnte sich an das »In die Höhe blicken« und »Schweigenhören«, wie sie es nannte; der Vater aber liebte sie mehr denn je wie ein eigenes Kind, ja wie ein im Greisenalter erfülltes hehres Traumbild der Seele. In seinem Erinnerungskalender aus jener Zeit steht, offenbar in bezug auf Lydia, die Bemerkung:
»Wie gewisse stark organisierte Körper sich erst völlig entwickeln nach einem Fieber, das die in der Ruhe stauenden Säfte in Umschwung bringt, so gibt es hochgerichtete Seelen, in denen erst durch einen Irrtum, ja durch ein Fehl ein Gleichmaß der Wirkungen hergestellt wird. Hier wie dort ringt die unterdrückte Natur sich aus ihrem Bann.«
Auch mit Dezimus war Lydia in Briefwechsel getreten. Der Austausch der immer zufriedenstellenderen Nachrichten von der Insel gab den Anlaß dafür, wenn auch nicht seinen einzigen Stoff. Da aber neben jenen Nachrichten die Außenwelt[446] ihnen wenig Erfahrungen zutrug, tauschten sie die immer reichlicher strömenden ihres inneren Lebens gegeneinander aus, und Dezimus genoß die volle Seligkeit, in die Seele einer Freundin zu ergießen, »was durch das Paradies der Brust« in seinen Sternennächten gewandelt war. Er hätte schwerlich entscheiden können, welches Kuvert er freudiger erbrach, das von einem ernsten Lydiabriefe oder das von seines Röschens schelmischer Wochenepistel.
Es war am Morgen des letzten Sonntags im Kirchenjahr, welcher dem Gedächtnis der Verstorbenen geweiht ist, als Dezimus vor der erwarteten Familienpost einen Brief von Lydia erhielt; schon ehegestern geschrieben, hatte ein Zufall die Beförderung verzögert; leider verzögert, da er eine zur Eile drängende Kunde enthielt: die Fieberseuche war in Talwerben ausgebrochen.
Einer von den Ärmlingen des Eichsfeldes, welche im Frühling aus ihren Dörfern wandern, um tief in das Land hinein Arbeit zu suchen, hatte in Schlesien größeres Elend gefunden, als er daheim verlassen, und statt Winterbrot den bösen Krankheitsstoff zurückgetragen. Bettelnd schleppte er sich mühselig den weiten Weg entlang, bis er endlich vor der Schenke des Talgutes zusammenbrach und in einer Scheune verschied. Unerfahrenheit in der Behandlung und Bestattung mochte die Schuld getragen haben, daß das Unheil mit der Hast und Vehemenz eines bösen Zaubers sich von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf in der Aue verbreitete. Der zur Leichenschau berufene Gerichtsaktuar, der Küster, ein paar Knechte und Mägde des Gutshofes waren bereits erlegen. Ein panischer Schrecken hatte das Volk gepackt, man scheute sich der dringendsten Handreichungen. Lydia durfte autodidaktisch eine tüchtige Vorschule zu dem erwählten Berufe durchmachen.[447] Auch ärztliche Hülfe tat not, da die aus den Nachbarstädten meistenteils erst gesucht wurde und gebracht werden konnte, wenn Hülfe zu spät kam. Lydia forderte Dezimus daher auf, so rasch als möglich einen jungen Mediziner für den Dienst in ihrer Gegend anzuwerben. Sie bot ihm bis zum Erlöschen der Epidemie freie Station im Schloß und neben seinen ärztlichen Gebühren ein Salär aus ihren Mitteln. Noch fügte sie hinzu, daß Hochwerben bis jetzt verschont geblieben sei, der Vater aber seines Amtes im Filial mit Jünglingseifer warte.
Dezimus war entschlossen, noch heute zur Unterstützung seines Vaters und seiner Freundin nach Hause zu eilen, sobald er nur des Auftrags der letzteren sich entledigt hätte. Die natürliche Wahl fiel auf Freund Kurzen, nicht bloß weil er ein Heimatsinteresse für die Sache hatte, sondern auch weil er keinen eifrigeren und tüchtigeren jungen Mann seines Faches kannte und sein gutes Zutrauen ihm noch kürzlich von dem ersten klinischen Lehrer der Universität bestätigt worden war, als er mit ihm bei seinem alten Chaldäer zusammentraf. Er fand den Freund indessen weder in seinem unbehaglichen Dachgelaß noch in den behaglicheren Lokalen, in welchen er seinen gesunden Appetit, zumal auf »flüssiges Brot«, zu stillen pflegte. Wo hätte er ihn außerdem suchen sollen? Auf Praxis leider nicht; denn seit netto sechs Monaten hatte Doktor Peter Kurze in Blättern und Blättchen, zwanzig Meilen in der Runde, seine ärztlichen Dienste ausgeboten wie – sein eigenes Gleichnis – wie sauer Bier; jedweder rationellen Kur, inklusive Zahnausziehen und Hühneraugenschneiden, würde er sich mit Hochgenuß unterzogen haben: dennoch hatte sich, etwelche akademische Kneipkumpane ausgenommen, die honoris causa behandelt werden mußten, noch[448] kein einziges einer rationellen Kur bedürftiges Individuum in seine ausgespannten Netze verfangen.
Als nach langem, vergeblichen Umherirren Dezimus nach seiner Wohnung zurückging, in der Absicht, seinen Auftrag schriftlich anzubringen, stürmte ihm von dorther der Gesuchte entgegen, indem er schon auf zwanzig Schritt Distanz die große Mär zu verkünden begann, daß heute, an dem jedes medizinische Herz bewegenden Totenfeste – obschon für seine eigene ärztliche Person an jeglichem wissenschaftlichen Verbrechen noch unschuldig wie ein neugeborenes Lamm –, der Entschluß in ihm reif geworden sei, aus der Not eine Tugend zu machen und seine Künste bei den Wasserpolacken an den Mann zu bringen. Er hatte seine akademische Legitimation bereits in der Tasche; morgen in Tagesfrühe wollte er aufbrechen.
Da, in der letzten Stunde stößt er auf den Fortunatus aus der Heimatsaue, der ihm statt der fernen Klientel, die den Bettelsack trägt, in nächster Nähe eine andere mit gefüllten Brotschränken anbietet, dazu freie Station in einem Edelhofe und ein ganz respektables Gehalt!
Wie das Elend einer Menge dem einzelnen ja häufig zum Segen wird, so wird die ansteckende Hungerseuche Doktor Peter Kurzen zu einem Schmaus. Er tut auf offener Straße einen Freudensprung in die Luft, dann einen zweiten dem hünenhaften Glücksboten an den Hals. Ade, Wasserpolackei! Morgen mit dem Tagesgrauen ist der Retter in der Heimat! Er würde es schon heute abend sein, wenn er nicht zuvor seinen Pflasterkasten mit Säftchen und Pülverchen für die erste Hülfe zu füllen hätte; zum Zweck welcher Vorsichtsmaßregel auch noch in der Eile ein kleines freundschaftliches Bargeschäft erledigt werden muß. In Peter Kurzes Augen genoß der Stipendiat[449] und Legatar von Werben das Ansehn eines Millionärs.
Während Dezimus sein Bündel schnürte, wurde ihm ein zweiter Brief gebracht; nicht der erwartete von Rosens, sondern wiederum von Lydias Hand. Er war mit citissimo bezeichnet und enthielt nichts als die Worte: »Kommen Sie ohne Verzug!« Selbst Datum und Unterschrift fehlten.
Das Herz stockte in seiner Brust. Welches Unheil hatte diesen Ruf der Todesangst eingegeben? Er hätte sich Flügel anheften mögen und mußte warten, warten, warten bis zum Abend.
Endlich brauste der Zug heran. Gegen die eine Stunde, welche die Dampffahrt währte, dünkten ihm die früheren sieben Wanderstunden ein Flug. In dunkler Nacht erreichte er die Haltestelle; keuchend legte er den Rest des Weges zurück; die Schritte stockten in dem vom Regen erweichten Boden. Kein Stern leuchtete am Himmel, und im Herzen – ach, verhülle dich nicht auch du, Stern aller Bangenden in dunkler Weltennacht!
Des Eilenden Blicke haften an dem lieben Hause auf der Höhe, aus dessen Fenstern je näher je mehr ein flackernder Lichtschimmer den Nebel durchdringt, so als ob angstzitternde Menschen von Zimmer zu Zimmer irrten. Wer war da oben krank, wer vielleicht – tot?
Als er um die Friedhofsmauer bog, rollte von der Pfarre her ein Fuhrwerk ihm entgegen. Doktor Brands wohlbekannte Chaise. Mit einem Satz war Dezimus am Schlag, das fahle Laternenlicht fiel auf seine qualverzerrten Züge.
»Sie kommen zu spät, armer Freund,« rief der alte Familienarzt ihm zu.
»Wer, wer?« stieß Dezimus hervor.[450]
Die Pferde zogen an, Dezimus, der sich an den Schlag geklammert hatte, wurde zu Boden geschleudert; die Antwort verhallte.
Er raffte sich auf und eilte nach der Pfarre. Die Haustür stand offen, doch mochte sein Schritt gehört worden sein, denn auf dem Treppenabsatz trat Rose ihm entgegen. Die blühende, fröhliche Rose, fahl wie ein Gespenst, mit gläsernen Augen, von Schauern geschüttelt, auf den Wangen eiskalte Tränen und eiskalte Schweißtropfen auf der Stirn. Ja, krank auch sie, aber Gott sei gelobt, noch lebend. Ohne einen Laut sank sie an seine Brust.
»Der Vater?« flüsterte er.
Sie schüttelte den Kopf.
Die Mutter also, seine Mutter!
An den Bruder geschmiegt, von seinem Arm umfangen, trat Rose in das Krankenzimmer. Der Vater saß auf dem Bettrande, die Hände der sterbenden Gattin in den seinen. Ihre Augen waren geschlossen, die Züge friedvoll wie in der ersten Stunde nach vollbrachter Erdenqual. Doch lebte sie noch und liebte auch noch. Denn als sie das Nahen der Kinder spürte, schlug sie den Blick in die Höhe, und ein letztes Lächeln flog über ihr gutes Gesicht.
Sie sanken vor dem Bett auf die Knie. Die Sterbende machte eine unruhige Bewegung, indem sie auf ihren Trauring deutete, richtete dann einen flehenden Blick zu ihrem Konstantin hinüber und senkte mit dem Ausdruck freudiger Erfüllung die Lider, als der Vater die Rechte des Sohnes und die der Tochter ineinander und die halberstarrten Mutterhände auf die Häupter der Verlobten legte.
Und so im Segen tat das fröhlichste Mutterherz seinen[451] letzten Schlag. Eine und die nämliche Minute hatte die Liebenden einander zu eigen gegeben und ihnen die älteste Liebe geraubt. Dezimus fühlte nicht seinen großen Gewinn, er fühlte nur seinen großen Verlust; den ersten von den Schmerzen, die ein Glücklicher trägt bis in das Grab.[452]
Ausgewählte Ausgaben von
Stufenjahre eines Glücklichen
|
Buchempfehlung
Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«
74 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro