VII

[138] Tag für Tag war in solcher Unseligkeit hingeschlichen. Vom Aufbruch des hohen Gastes schien keine Rede mehr zu sein, auch über das Zerwürfnis mit der berühmten Freundin wie ihren gegenwärtigen Aufenthalt verlautbarte nicht eine Silbe. Lori, wenig neugieriger Natur, und nur froh, daß sie nicht wiederkam, fragte nicht nach ihr. Die Zwiegespräche zwischen dem Herrn und seinem Beamten beschränkten sich auf Geschäftliches.

In erster Ordnung handelte es sich um den Ankauf einer[138] Waldparzelle, die unser Revier vorteilhaft abgerundet und die Wegführung wesentlich erleichtert haben würde. Der gräfliche Besitzer machte sich indessen die gute Gelegenheit zunutze und stellte Forderungen, welche der Prinz, der erste verständige Haushalter seiner Sippe, nicht zu gewähren willens war; so hatte der Abschluß sich verzögert.

Es war am ersten Mai, Loris Geburtstag; wir hatten desselben gegen den Prinzen nicht erwähnt, Lori aus bescheidenem Taktgefühl, ich noch außerdem aus einem Grunde, der sich errät. Die Hausgenossen waren in gleichem Sinne von uns instruiert. Im übrigen lagen festliche Überraschungen auch außer unserer einförmigen Tagesordnung. Ich kehrte von einem Ausflug kaum jemals heim ohne eine kleine Spende, eine Zierat, Blume oder Frucht. Kinder lieben, daß man ihnen etwas mitbringt; bei Loris geringen Bedürfnissen blieb für besondere Tage daher kaum ein Geschenk übrig, und für gemütliche Erfindungen fehlte mir die Phantasie.

Die gestrige Abendunterhaltung hatte sich bis nach Mitternacht ausgedehnt, und so schlief Lori noch, als ich am Morgen mit dem Prinzen in den Wald ritt. Auf dem Heimwege erklärte er mir, daß er den erwähnten Ankauf unter so unbilligen Bedingungen aufgegeben habe. Ich stimmte ihm zu. Die Sache schien abgemacht.

Das Diner wurde, auf des Prinzen Verlangen, nach unserer guten deutschen Gewohnheit, pünktlich um die Mittagsstunde genommen. Als wir kurz vor derselben zurückkehrten, fanden wir Loris Zimmertür mit einer Girlande von Tannenreis umwunden, und die gute Frau Försterin, die segenbringende Festschürze von grasgrünem Taffet, die noch aus ihrer stolzen Muhmenzeit stammte, vorgebunden,[139] im Begriffe, einen mit achtzehn Wachsstöckchen und einem dicken Lebenslicht in der Mitte geschmückten Geburtstagskuchen die Treppe hinan in den Speisesaal zu tragen. Das Geheimnis war verraten.

Der Prinz machte seiner »ältesten Freundin« Vorwürfe, ihm nicht, behufs einer kleinen Überraschung, einen Wink gegeben zu haben. Indessen hatte er die Aufmerksamkeit, das Geburtstagskind, als es eine Viertelstunde später an seines Väterchens Arm zur Tafel erschien, nicht im bequemen Hausanzug, sondern in Gala zu empfangen: Eskarpins, seidene Strümpfe und Schnallenschuhe, goldene Knöpfe und Stickerei an dem Gilet von weißem Atlas und dem grünen Sammetrock; den Federhut unter dem Arm. Auch ein paar Ordenssterne blitzten an seiner Brust. Wie strahlten, ob der Ehre, die großen Augen der kleinen Frau! ach, und wie giftig mögen, ob des Neides, die kleinen ihres Väterchens gezwinkert haben. Nein, blind macht sie nicht, die Liebe, und blind auch nicht der Haß. Da, an der Seite des kindlichen Weibes saß ein Held, ein Fürstensohn, im Kriegslager gestählt, eine breite, hohe Gestalt, blühend heitere Züge, jugendlich über ihre Jahre hinaus; und ihr gegenüber, als Spiegelbild zurückgestrahlt, grau und dünn der Schneiderenkel, ein Bücherwurm, vor der Zeit am Schreibtische gebeugt, mit spärlichem Haar über der mit frühen verdrießlichen Altersfalten durchzogenen Stirn.

Und wie stumm saß das trübselige Männlein auf seiner Stuhlkante, die Zunge am Gaumen angeklebt, die Lippen übereinander gekniffen, während Ohren und Gedanken jedes Wort seines glücklichen Nebenbuhlers auf der Goldwage wogen und die Blicke die Schale des Erfolges sich immer tiefer senken sahen! O, wie gut gewählt waren auch diese[140] Worte, wie heiter einem kindlichen Sinne und dem festlichen Tage gemäß, wie zart die Galanterie! Blind und taub, eine Närrin hätte das junge Weib sein müssen, hätte es zwischen den beiden anders gewählt, als der Argus ihm gegenüber es wählen sah.

Der Prinz hatte zum Ausbringen der Gesundheit Champagner auftragen lassen und trank gegen seine Gewohnheit stark. Für mich war dieses fränkische Produkt ein chasse-ennui ohnegleichen; aber ich brauchte scharfe Augen und scharfes Ohr, ich durfte nicht sorglos werden, schützte daher Kopfweh vor und trank keinen Tropfen. Lori dagegen schlürfte mit Behagen den süßen Schaum, den ihre Lippen zum ersten Male kosteten. Immer höher färbten sich ihre Wangen, immer goldener klang ihr Lachen, immer verlangender weiteten und weideten sich des Gastgebers Blicke.

Beim Dessert kam er, wie vom Zaune gebrochen, auf den vielbesprochenen Landkauf zurück. »Ich denke, Klösterley, wir tun dem Grafen den Willen,« sagte er.

(Vor ein paar Stunden hatte er gesagt: Wir tun ihm den Willen nicht!)

»Der Boden ist besser als der umgebende,« fuhr er mit Geläufigkeit fort, als ob er sich selbst übertölpeln wolle, »er könnte mit der Zeit eine Eichenschonung nähren – –«

(Nun, wahrhaftig, mir, dem Forstmann, brauchte er das doch nicht zu demonstrieren!)

»Das Birkenwäldchen zur Rechten gleicht einer Oase in der Wüste, wir bauen ein Hüttchen hinein, für unsere Jagdpartien das gelegenste Rendezvous und für eine holde Spaziergängerin – –«

(Aha!)[141]

»– ein trefflicher Erholungsplatz. Wir würden ihn ›Lorisruhe‹ nennen.«

(Darum also! Ein Angebinde! Und wie klatschte das Geburtstagskind vor Lust und Dank in die Hände.)

»Daß wir die Sache doch heute noch abmachen könnten!« rief der Prinz. »Ein Glückshandel, der an solchem Freudentage abgeschlossen wird! Es ist kein Aberglaube um die gute Stunde. Morgen könnte sie verpaßt sein. Aber es ist ja auch noch nicht zu spät. Wieviel Uhr denn? Ein Viertel nach zwei. Nehmen Sie mein Pferd, Freund, es ist rascher als das Ihre. Eilen Sie. Ich gebe Ihnen plein pouvoir, nur daß die Sache heute noch zum Abschluß komme!«

Wie ein glühender Stahl zuckte jedes Wort durch mein Hirn. O, wer begriff sie nicht, die gute Stunde! Er wollte mich entfernen, allein sein mit der Geliebten, zum ersten Male ohne den widerwärtigen Späher, den alten eifersüchtigen Pedanten, der keine Sekunde von der Seite seines jungen Weibes wich. Allein mit Lori!

Ich schwieg, auf eine Ausflucht sinnend; halb in der Hoffnung, daß Lori sagen würde: »Ach nein, Väterchen, es ist ja mein Geburtstag, gehe heute nicht von mir!« Aber Lori rief nur ein über das andere Mal: »Ach, wie schön! wie herrlich! Lorisruh! Ja, reite, Väterchen, reite, kaufe das Wäldchen heute noch!«

Auch sie wollte mich forthaben, auch sie! Sollte ich ihm mein Patent vor die Füße werfen, Knall und Fall meinen Posten verlassen und mit meinem Weibe flüchten, gleichviel wohin, und wenn es in den jenseitigen Urwald wäre, nur wo der Blick dieses Lüstlings sie nicht mehr traf?[142]

Ja, ich war entschlossen, es zu tun, nicht erst wenn der Kündigungstermin gekommen, nein, morgenden Tages. Aber heute, heute war ich noch ein Sklave. Hieß ich nicht Christian Klösterley, der Kalmäuser, und wer scheut das Stigma der Lächerlichkeit so wie ein Kalmäuser, der ein Emporkömmling ist? Ich schämte mich vor dem hochgeborenen Herrn, aber mehr noch schämte ich mich – ja selbst in diesen Minuten – vor Lori, dem Kinde, meinem Weibe.

Ich sprengte von dannen; mit verhängtem Zügel setzte ich quer durch die Heide über Knorren und Gräben. Aber auf meinem eigenen sicheren Gaul, nicht auf des Prinzen feurigem Renner. Er hätte mich abwerfen können, die gute Stunde verlängern ad infinitum. Was lag mir am Leben? Aber nicht als Hahnrei wollte ich es verlassen und nicht – wer weiß? – auf schlaue, unverfängliche Weise – gemeuchelt.

Des Grafen Gut lag Meilen fern, beim stärksten Ritt, beim kürzesten Handel konnte ich erst mitten in der Nacht wieder heim sein. Zehn Stunden, zum Genuß der guten! Alle hundert Schritte dachte ich: »Kehre um, jage den Schänder aus deinem Tempel, sei ein Mann!« und in den nächsten: »Sei kein Tor! Ist Unschuld denn ein Wahn, Treue eine Lüge? Glaube an das Kind, dein Weib!« Und in diesem Wogenschlag der Gedanken hetzte ich vorwärts, Christian Klösterley, der Kalmäuser.

Da jubelte ich denn über den glücklichen Zufall – ach, der unseligste war es! –, der mich nahe der Stadt auf den Mann, mit dem ich unterhandeln sollte, stoßen ließ. Der Graf war auf dem Wege zu seinem dort wohnenden Gerichtsdirektor, vermutlich in der nämlichen Angelegenheit,[143] die mich zu ihm führte, und sehr wahrscheinlich, um gelindere Saiten aufzuziehen. Was fragte ich danach? Ich begleitete ihn, schloß unter den verwunderten Blicken des alten mich gut genug kennenden Judex ohne Markten die Punktation ab und hetzte, wie ich gekommen, meinen Weg zurück. Es war noch Tag; um viele Stunden die gute abgekürzt; aber wie vieler Minuten bedarf es denn, um sie zur bösen werden zu lassen?

Bevor ich in Sicht kommen konnte, band ich mein Pferd in einem Dickicht fest und schlich wie ein Dieb von der Rückseite um das Haus. In der Küche wurde gebrodelt, ein schwelgerisches Nachtmahl den Glücklichen bereitet. Die Fenster unseres Erdgeschosses reichten bis wenige Fuß über die Rampe; die von Loris Zimmer standen geöffnet. Noch nie hatte der Prinz dieses Zimmer betreten; heute hörte ich seine Stimme in demselben. Ich schämte mich nicht, zu horchen. Ich hätte das Zimmer übersehen können, aber ich wäre bemerkt worden. So drückte ich mich denn an die Wand und spannte mit angehaltenem Atem. Nur den Klang vernahm ich, nicht die Worte.

Der Prinz redete rasch, feurig, mit Entzücken, eine Frage. Nun Lori. Ihre Stimme, sonst ein Lerchenklang, war heute ein Lispeln. Ich hielt mich nicht länger, trat vor. Ein einziger Blick! Lori stand vor dem Prinzen, beide ihre Hände in den seinen. Ihre Wangen glühten, Augen und Lippen schimmerten feucht. Sie sah mich nicht, aber – Er!

Die Faust um den Hirschfänger geballt, stürzte ich nach der Tür; bevor ich sie geöffnet, trat der Prinz heraus, erhitzt, erschüttert. Rasch wollte er an mir vorüber. Ich packte seinen Arm. Meine Faust zuckte zu einem tödlichen[144] Streich – sie sank herab wie gelähmt; in meiner Kehle brannte ein tödliches Wort – die Stimme versagte.

Endlich, endlich machte sie sich Luft: »Herr,« knirschte ich, »dieses Haus ist das Ihre, aber dieses Zimmer betrete nur ich! Morgen wird es von mir geräumt sein und zu Ihrer Verfügung stehen.«

Der Prinz hatte seinen Arm freigemacht. Er maß mich von unten bis oben mit einem langen Blick. Ob er etwas geantwortet hat, oder was, weiß ich nicht, denn vor meinen Ohren sauste es. Den Blick aber verstand ich. So blickte König David herab auf den »ehrlichen armen Schächer Uria, den Hettiter, der ein Weib besaß, das dem König gefiel.«

Er rief seinem Jäger und schritt hastig dem Walde zu. Ich trat in Loris Zimmer. Sie stand noch auf dem nämlichen Platze, die Arme schlaff niederhängend, die Lider gesenkt; sie hörte mich nicht. »Lori!« herrschte ich sie an.

Sie schreckte auf, als erwachte sie aus einem Traum.

»Lori, was wollte der Herr in diesem Zimmer?«

Sie schüttelte langsam den Kopf und blieb stumm.

»Du weißt es nicht, willst nicht sagen, was – –«

Sie starrte mir in das Gesicht, als ob darin etwas Entsetzliches geschrieben stehe, etwas Entsetzliches, jawohl – ihre Sünde! Ein Schauder überlief ihren Leib; jeder Blutstropfen wich aus ihrem Gesicht; sie zitterte und blieb stumm.

»Du schweigst,« schrie ich. »Nun wohl, so wird mir ein anderer Rede stehen!«

Ich schlug die Tür in die Angel, warf meine Büchse über die Schulter und rannte durch das Hinterhaus in den Wald. Ihm nach! Wozu? Was wollte ich? Wollte ich überhaupt etwas? Wer kann sagen, was er will, was[145] in ihm vorgeht, wenn das Blut in seinen Adern kocht, vor den Augen Funken sprühen und vor den Ohren Zungen gellen. Rache! zischten die Teufel in der Brust; Rache! krächzten die Raben, die, ehe sie sich zur Nachtruhe niederließen, über den Wipfeln kreisten, Rache! brauste der Sturm, der ein Wetter vom Himmel niedertrieb oder es verscheuchte. Rache! Rache!

Ich habe späterhin in England ein Theaterstück aufführen sehen, das mich wie kein anderes erschüttert hat. Ein Neger, von Grund aus keineswegs ein Unheilspürer wie ich, sondern ein argloses Naturkind, erwürgt in jacher, kannibalischer Wut sein schönes, angebetetes Weib um eines eingeblasenen Verdachtes willen, dessen Fälschlichkeit auf der Hand liegt. Erklärlich bei einem Wilden, einem Wüstenkumpan von Tigern und Löwen, dessen Vater vielleicht noch ein Menschenfresser war. Aber ein gesitteter Europäer, ein Denker, ein Philosoph, ei, nun! auch er mordet, mordet mit Recht, mit Gier, aber nicht das schwache Weib, das er geliebt, das er noch liebt, selbst wenn dasselbe keine Desdemona, sondern eine Bathseba ist. Er mordet den Verführer, den Ehrenräuber, den Feind. Sein Mordrecht ist der Zweikampf, und wenn – der Prinz von Geblüt, der unter einem Ausnahmsgesetze auch der Ehre steht, dem Lakaiensohne, dessen Tempel er geschändet, in das Gesicht lacht – – nun dann – –

Wohin war er? Der Haß schärft die Sinne gleich denen des indianischen Jägers. Der geknickte Halm, ein Fußtritt im Sande, ein aufgescheuchter Vogel, der Duft eines zertretenen Krautes werden zur Spur. Aber er hatte einen Vorsprung, die Spur verlor sich im Gestrüpp; es dämmerte über den Wipfeln, Wolken verhüllten den Sonnenuntergang, der Wind wirbelte Staubwehen in die Luft.[146]

»Nacht und Wetter ziehen heran,« stachelte der Quälgeist im Hirn. »Wie lange wird Er heimgekehrt sein – zu seiner Lust. Kehre rasch heim, auch du!«

Ich kehre um. Da, in der Ferne ein Knall. Ich presse einen Jubelschrei hinunter. Er ist noch da. Ein armes Tier mochte verendet sein.

»Blut stillt Blut!« warnt heimlich ein Friedensgeist. »Stille auch du, Unmensch, dein Lechzen im Blute einer tierischen Kreatur, und dann – Hahn in Ruh!«

»Narrenspossen! Den Hahn gespannt! Vorwärts, Kalmäuser!«

Alles wieder still wie zuvor.

- Jählings ein Schwirren, ein Fauchen in der Luft; stoßweises Zittern des Gezweigs jenseits des schmalen Pfades, auf dem ich schlich. Ein Weidmann kennt dieses Fauchen, dieses Zittern. Das lichtscheueste aller Jagdtiere, eine Wildkatze, ist aus ihrem Schlupfwinkel aufgescheucht, wird gehetzt, flüchtet in Sätzen von Ast zu Ast. Struppiges Unterholz deckt den verfolgenden Jäger, seine Tritte der weiche Sand. Ein Todfeind aber wittert des anderen Nähe; kaum zehn Schritte ihm gegenüber, da lauert er mit gespanntem Rohr, und ihm zu Häupten, auf einem abgestorbenen Stamm, da funkeln die wütigen Lichter.

Der Lauscher nimmt sein Ziel – auf die Bestie? auf den Jäger? Ein Gedankenblitz, das Zucken eines Gliedes, einer Fiber, das Bruchteil einer Sekunde entscheiden über Leben und Tod, über Himmel und Hölle. Wer schildert solch ein Atom der Zeit, das eine Ewigkeit bedeutet? Da – – da – – ein Etwas streift den Lauf des Rohrs, ein Schatten verdunkelt den Blick. Ein Schnauben am Ohr, eine Last auf der Schulter; die Tatzen der Bestie krallen sich um den[147] Hals, ihr Geifer spritzt an die Wange. Und rascher, als die Hand sich hebt zur Wehr, ja, rascher, als das Bewußtsein der Gefahr, blitzt eine Flamme vor den Augen auf, saust eine Kugel harsch am Ohr vorüber, ein heißer Strom überrieselt den Leib, dann schwinden die Sinne. Ich stürze zu Boden.

Quelle:
Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Band 5, Leipzig 1918, S. 138-148.
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