9. Im Thurm der Prinzessin.

[330] Als die Prinzessin von ihrem drängenden Vater in die Heimat zurückgerufen wurde, hatte das erlauchte Haus, dessen Namen sie jetzt trug, nicht nur darauf bestanden, daß sie fortan einige Monate des Jahres an dem Wohnsitz ihres verstorbenen Gemahls zubringe, auch daß ihr in der Residenz des Vaters ein gesonderter Hofhalt eingerichtet werde. Darüber war ein Vertrag geschlossen, welcher allerdings den Zweck hatte, der jungen Fürstin eine gewisse Selbständigkeit zu wahren. Um den Wortlaut des Vertrags zu erfüllen, wurde der Prinzessin ein fürstliches Schloß auf dem Lande als Wohnsitz überwiesen, da in der Residenz selbst kein geeignetes Gebäude vorhanden war. Das Schloß lag eine halbe Tagereise von der Stadt, am Fuße belaubter Hügel, zwischen Wäldern und Dorffluren, im Sommer ein anmuthiger Ruhesitz; die Prinzessin hatte dort bereits einige Monate ihres Trauerjahrs zugebracht.

Es war ein warmer Tag, an welchem der Professor nach dem Schlosse fuhr. Die Luft war durch das Gewitter der Nacht nicht abgekühlt, der strömende Regenguß hatte Furchen in die glatte Kunststraße gerissen, zwischen den Ackerbeeten stand das Wasser an dem üppigen Grün des Rasens, an den[330] Blättern der Wegpflanzen hingen die Tropfen, eine feuchte Brutwärme lag über der Erde, der Wasserdunst färbte die entfernten Höhen mit dunklem Blau. Am Himmel zogen die Wolken flüchtig dahin, bald verhüllten sie neckend die Sonne und warfen ihre Schatten über die sprossende Flur, bald öffneten sie den Lichtstrahlen ein Thor, dann flog ein feuriger Glanz über Baumgipfel, Dächer und den fruchtbaren Grund. Schneller Schatten und heller Schein am Himmel und auf der Erde, erst deckte das Wolkenheer mit grauen Gewändern den geradlinigen Weg, welchen der Gelehrte fuhr, wieder lag die Straße vor ihm als ein goldener Pfad, der zum ersehnten Ziele führt.

Grelles Licht und dunkler Schatten flogen auch durch die Seele des Gelehrten. »Die Schrift wird gefunden; sie bleibt uns verborgen,« rief es in ihm, und sein Auge umwölkte sich. »Wenn sie nicht gefunden wird? Viele werden dann mit Verwunderung lesen, wie täuschend der Schein war, wie nahe die Möglichkeit; mancher wird bedauernd auf seine Hoffnung verzichten, die ihm über den Worten des Klosterbruders aufgeht; doch den Schmerz der Entsagung wird Keiner fühlen wie ich. Ein Gedanke, der durch Jahre die Phantasie unterhalten, die Augen auf einen Punkt gerichtet hat, ist mir übermächtig geworden. Mit tausend Eindrücken aus alter und neuer Zeit spielt des Mannes freier Geist, er bändigt ihre Gewalt durch abwägenden Verstand und Kraft des Willens. Mir aber ist ein kleines Bild aus verloschenen Zügen des alten Buches so tief in die Seele gedrungen, daß die Hoffnung zu erwerben das Blut in den Adern hüpfen macht und die Furcht zu verlieren die Spannung der Muskeln lähmt. Allzugroß ist der Eifer, das weiß ich, er hat mich hart gemacht gegen die kindliche Angst meines Weibes, auch ich bin nicht stärker geworden, seit ich auf dem unsicheren Pfad eines Wildschützen dahinfahre. Jeder hüte sich, daß ihm seine Träume nicht die Herrenrechte des Geistes verringern, auch der Traum guter[331] Stunden, wo die Seele sich arglos einer großen Empfindung hingibt, mag abwenden von dem geraden Wege der nächsten Pflicht.«

Das goldene Licht flog über sein Antlitz. »Wenn sie aber gefunden wird. Es ist nur ein kleiner Theil unseres Wissens aus alter Zeit, der in ihr verborgen liegt. Und doch würde gerade dieser Fund eine verdämmerte Landschaft mit hellem Glanze füllen, und einige Jahrzehnte des alten Lebens würden für unser Auge in festen Umrissen sichtbar werden, als ob sie in nächster Vergangenheit lägen. Der Fund könnte hundert Räthsel lösen und tausend neue aufregen, jedes spätere Geschlecht dürfte der größeren Habe sich freuen und mit besserer Kraft neuen Aufschluß begehren. Auch ihr wünsche ich die Freude eines Fundes, welche dort im Schlosse so warmherzig meine Sorge theilt, auch ihr wäre eine große Erinnerung für immer, daß sie wohlthuenden Antheil gehabt an der ersten Arbeit des Suchenden.«

Höher stiegen die Berge, farbiger wurden ihre Massen. Die Linien der Vorhügel schieden sich von der nebligen Ferne, zwischen dem schwarzen Wald öffneten sich blaue Mündungen der Thäler. Der Wagen rollte in einen wohlgehegten Forst, gedrängte Föhren und Fichten schlossen eine Weile die Aussicht; als die Straße wieder ins Freie führte durch Rasenflächen und Baumgruppen, lag das Schloß gerade vor den Augen des Gelehrten. Ein mächtiger alter Thurm mit Zinnen gekrönt ragte aus niedrigem Gehölz, über ihm stand die Sonne des Nachmittags und malte lange Regenstreifen in den Dunst der Luft. Das braune Mauerwerk hob sich in der einsamen Landschaft wie der letzte Pfeiler eines zertrümmerten Riesenbaues, nur an der hellen Steinfassung der wohlgefügten Fenster erkannte man, daß es wohnliche Räume enthielt. An den Thurm gelehnt stieg das kleine Schloß herauf, mit steilem Dach und spitzbogigen Fenstern, in seiner mäßigen Größe ein seltsamer Genosse des gewaltigen Thurmbaues. Aber trotz dem[332] Mißverhältniß der verbundenen Theile war das Ganze ein stattlicher Ueberrest des Mittelalters, vielen Geschlechtern hatten die festen Mauern zu Schutz und Wehr gedient.

Wilder Wein sandte seine Ranken bis auf das Dach des Hauses und um die Fenster des Thurmes, welcher in sieben Stockwerken aufstieg, durch starke Strebepfeiler gestützt. In der Höhe wuchs Quendel und Gras aus den Fugen des verwitterten Steins, aber die Grashalme, welche noch vor wenig Tagen den Grund bedeckt hatten, waren ausgerissen, Hofraum und Thüren hatten sich für die neuen Bewohner festlich geschmückt, Blumentreppen und Topfgewächse waren reichlich aufgestellt. Nur an einer Ecke war die schnelle Arbeit nicht beendet, der grünliche Schimmer am Boden und ein Schwarm schwarzer Vögel, der um die Zinne des Thurmes flatterte, gaben Zeugniß, daß der Bau leer von Menschen in einsamer Landschaft gestanden hatte.

Der Professor sprang aus dem Wagen, der Marschall winkte ihm von der Rampe Grüße zu und führte ihn selbst in das einfache Gastzimmer. Kurz darauf leitete er ihn durch einen gewölbten Gang des Schlosses in den Thurm. Die Prinzessin stand, von einem Spaziergang zurückgekehrt, den Sommerhut in der Hand, am Eingang des Thurmes. »Willkommen in meiner Solitude,« rief sie dem Gelehrten entgegen, »glücklich sei die Stunde, in welcher dies alte Haus Ihnen die Thüren öffnet. Hier stehen Sie an der Pforte meines Reiches, ich habe mich fast in jedem Stockwerk des Thurmes angesiedelt, er ist unser Frauenzwinger. Wenn diese feste Eichenthür verschlossen wird, können wir Frauen ein Amazonenreich gründen und die ganze Männerwelt, soweit sie hier sichtbar wird, gefahrlos mit Tannzapfen bewerfen. Denn dies ist die Frucht, welche hier am besten gedeiht. Kommen Sie, Herr Werner, ich führe Sie der Stätte zu, auf welcher Ihre Gedanken jetzt mehr verweilen, als bei uns Kindern der Gegenwart.«

Eine steinerne Wendeltreppe verband die Stockwerke des[333] Thurms, jedes enthielt Zimmer und Kabinette, nur das höchste war Bodenraum. Die Prinzessin wies geheimnißvoll die Treppe hinauf. »Dort oben unter der Plattform ist Alles vollgestopft mit altem Hausrath. Ich konnte schon gestern der Neugierde nicht widerstehen, einmal in die Kammern zu blicken, es liegt in wirrem Haufen durcheinander, wir werden Arbeit haben.«

Der Professor sah freudig auf das wohlerhaltene Steinwerk der bogigen Thüren und auf die kunstvolle Arbeit des alten Schlossers. Es war in neuer Zeit wenig gethan, um den alten Schmuck der Wände ansehnlich zu machen und kleine Schäden zu bessern. Aber wer Antheil nahm an Meißel und Schnitzmesser der alten Bauherren, der erkannte überall mit Behagen, daß der Thurm leicht zu einem Prachtstück alten Stils geformt werden konnte. Der Diener öffnete die Thür zu den Zimmern der Prinzessin. Auch diese waren einfach hergerichtet, die zerschlagene Glasmalerei der kleinen Fenster war durch bunte Scheiben kunstlos ausgebessert, nur Bruchstücke der alten Bilder hafteten in dem Blei.

»Hier ist noch viel zu thun,« erklärte die Prinzessin, »das soll in den nächsten Jahren allmählich geschehen.«

Im Vorzimmer klirrten die Schlüssel des Kastellans, der Professor wandte sich nach der Thür. »Einen Augenblick Geduld,« rief die Prinzessin, sie flog in ein Nebenzimmer und kehrte in einem hellen Mantel mit Kappe zurück, der sie faltig umhüllte, nur das feine Antlitz war sichtbar, die großen, strahlenden Augen und der lächelnde Mund. »Das ist die Gnomentracht, in der ich den staubigen Geistern des Bodens zu nahen wage.«

Sie stiegen zu dem höchsten Stockwerk hinauf. Während der Kastellan am Gebund den Schlüssel suchte, befühlte der Professor das Holz der Thür und bemerkte gemessen: »wieder schöne Schlosserarbeit.« Aber sein Auge fuhr unruhig an den Umrissen der Thür umher.

»Ich hoffe,« sagte die Prinzessin leise.[334]

»Alles sieht hoffnungsvoll aus,« versetzte der Gelehrte.

Die dicke Thür ächzte in ihren Angeln. Ein großer Raum öffnete sich dem suchenden Blick. Durch enge Mauerluken fiel ein scharfes Licht auf die geheimnißvolle Stätte, in dem eindringenden Luftstrom wirbelten die Atome des Staubes, davor und dahinter dämmrige Dunkelheit. Hochgethürmt, ineinandergeschoben lag hier alter Hausrath; riesige Schränke mit ausgebrochenen Thüren, plumpe Tische mit Kugeln am Ende der Beine, Stühle mit geradliniger Lehne und Lederpolstern, aus denen das Roßhaar quoll; dazwischen Bruchstücke alter Waffen, Hellebarden, zerfressene Schienen, verrostete Helme. Undeutlich ragten die Formen durcheinander, Stuhlbeine, Holzplatten mit eingelegter Arbeit, eine Rundung von altem Eisen. Es war ein trödelhaftes Gewirr künstlicher Gebilde aus mehren Jahrhunderten. Die Hand berührte den Tisch, an welchem ein Zeitgenosse Luthers getrunken hatte, der Fuß stieß an einen Schrein, dem Kroaten und Schweden die Thür ausgeschlagen, auf dem weißlackirten Sessel mit dem verschossenen Sammetpolster hatte einst ein Hoffräulein gesessen, im Reifrock mit gepudertem Haar, jetzt ruhten sie zusammengeschichtet in wüstem Haufen, die abgethanen Hülsen früherer Geschlechter, halbzerstört und ganz vergessen, leere Puppengehäuse, aus denen die Schmetterlinge geflogen waren. Alles lag mit graulicher Leichendecke überzogen, mit dem letzten Schutt des geschwundenen Lebens. Zu Pulver zerrieben kräuselte sich in der Luft, was einst Form und Körper war, feindlich ballte der Staub seine Wolken gegen die Eintretenden, welche kamen, an seinem Besitzthum zu rühren, das er mit dicken Lagen überzog; er hing sich an Haare und Kleider des neuen Lebens und quoll langsam durch die geöffnete Thür hinab den Räumen zu, wo bunte Farbe und glänzender Schmuck die Menschen umgab, um auch dort den endlosen Kampf der Vergangenheit gegen das Neue zu führen, den stillen Kampf, der sich täglich erneut im Großen wie im Kleinen, der Neues alt macht und[335] Altes auflöst, um zuletzt die Keime jungen Lebens hilfreich zu nähren.

Der Professor sah wie ein Falk zwischen Tisch und Stuhlbeinen in den dämmerigen Hintergrund. »Hier ist vor Kurzem geräumt worden,« sagte er, »über die vordern Möbel ist gefegt.«

»Ich habe gestern versucht, ein wenig zu säubern,« sagte der Kastellan, »weil Ihre Hoheit den Wunsch aussprach, hier einzutreten, aber wir sind nicht weit gekommen.«

»Haben Sie das Geräth des Raumes früher einmal durchsucht?« frug der Professor.

»Nein,« erwiederte der Mann, »ich bin erst im vorigen Jahre durch des Fürsten Hoheit hierher versetzt.«

»Besteht ein Verzeichniß der Sachen?«

Der Mann verneinte.

»Wissen Sie, daß Kisten oder Truhen hier stehen?«

»Ich meine dergleichen bemerkt zu haben,« antwortete der Kastellan.

»Holen Sie die Arbeiter, das Geräth hinauszuschaffen,« befahl die Prinzessin. »Heut wird jedes Stück dieses Bodens betrachtet.«

Der Kastellan eilte hinab, der Professor suchte wieder durch die aufgethürmten Massen zu spähen, aber das grelle Licht in der Höhe blendete die Augen. Er sah auf das Fürstenkind; sie stand im hellen Gewande an der Thür wie die Fee des Schlosses, welche in die Wohnung der altbärtigen Hausgeister gestiegen ist, ihre Huldigungen entgegen zu nehmen.

»Es wird eine lange Arbeit und Ew. Hoheit werden sich an dem Umherschleppen der staubigen Möbel nicht erfreuen.«

»Ich bleibe bei Ihnen,« rief die Prinzessin. »Ist der Antheil, den ich an dem Funde haben kann, auch winzig klein, ich will ihm doch nicht entsagen.«

Beide schwiegen, der Gelehrte rückte ungeduldig über den Stühlen. In der Staubwolke flatterten Motten auf, und[336] eine Mauerschwalbe flog aus dem Nest, das sie an der Fensterluke gebaut hatte. Alles war still, nur ein leises Klopfen klang regelmäßig wie der Pendelschlag der Uhr in dem wüsten Raum.

»Das ist die Totenuhr,« flüsterte die Prinzessin.

»Der Holzwurm thut seine Arbeit im Dienst der Natur, er löst, was abgelebt ist, in seine Elemente.«

Es wurde still im Holz. Nach einer Weile tickte der Wurm wieder, darauf ein zweiter, sie hämmerten und nagten emsig: dahin, dahin, hinab! Ueber den Häuptern der Suchenden aber krächzten die Dohlen, und aus der Tiefe zog leise der Gesang einer Nachtigall in das eifrige Schaffen der Totengräber.

Die Arbeiter kamen, sie trugen ein Stück des Geräthes nach dem andern auf Vorraum und Treppe. Dichter wirbelte der mißfarbige Staub, die Prinzessin flüchtete sich in den Vorsaal, der Professor aber verließ nicht seinen Posten. Er griff selbst zu, hob und rückte in der vordersten Reihe. Er trat einen Augenblick an die Thür, Athem zu holen, lachend empfing ihn die Prinzessin. »Sie sind verwandelt, als hätten auch Sie in der Kammer dieser Auferstehung geharrt. Und mir geht es, wie ich merke, nicht besser.«

»Ich sehe eine Truhe,« meldete der Professor und eilte zurück. Noch ein wirrer Knäuel von Stuhlbeinen und Lehnen wurde abgehoben, dann faßten die Arbeiter einen kleinen Kasten, welcher im Dunkeln stand. »Setzt hin,« rief der Kastellan und fuhr schnell mit dem großen Borstbesen darüber. Das Gefäß wurde an das Licht getragen, es war eine Truhe von Kienholz mit gewölbtem Deckel, die Oelfarbe des Anstrichs an vielen Stellen geschwunden, an den Ecken eiserne Beschläge, ein rostiges Schloß, das den Schließhaken festhielt, aber locker im Holze hing. Auf dem Deckel der Kiste war verstäubt und abgerieben eine 2 in schwarzer Farbe sichtbar. Der Professor ließ die Kiste zu den Füßen der Prinzessin niedersetzen. Er wies auf die Ziffer. »Dies ist wahrscheinlich eine der Truhen,[337] die der Beamte von Rossau nach dem Schloß Solitude geschickt hat,« sagte er mit erkünstelter Ruhe, aber seine Stimme bebte. Die Prinzessin kauerte neben ihm nieder und versuchte den Deckel zu heben, das Schloß löste sich aus dem Holz, die Kiste ging auf.

Oben lag ein dickes Buch in Pergament gebunden. Schnell wie der Löwe nach seiner Beute fuhr der Professor darnach, aber legte es sogleich wieder hin. Es war ein altes Meßbuch, auf Pergament geschrieben, die Deckel schadhaft und zerrissen, die Lagen des Pergaments hingen locker am Bande. Er griff wieder in die Kiste, ein zerrissenes Jagdnetz füllte den übrigen Raum, außerdem einige schadhafte Armbrüste, ein Bündel Bolzen, kleines Eisenwerk. Er erhob sich, seine Wange war entfärbt, aber sein Auge glühte. »Das ist die zweite Nummer, wo ist die erste?« rief er. Er sprang in den Raum zurück, die Prinzessin folgte. »Vorwärts, ihr Männer,« befahl er, »holt die andere Truhe.« Die Männer hoben und räumten. »Dort steht noch etwas,« rief einer der Arbeiter; der Professor eilte vor ihm zur Stelle, hob und zog, es war nur ein leerer Kasten.

Die Arbeit ging fort. Auch den Hofmarschall hatte die Neugierde herbeigetrieben, er musterte eifrig die alten Möbel und ließ zusammenstellen, was nach seiner Ansicht noch ausgebessert und im Schlosse aufgestellt werden mochte. Die Treppe füllte sich mit Hausrath, auch ein Zimmer der Dienerinnen wurde geöffnet und mit alten Sachen besetzt. Eine Stunde war verronnen, der Raum wurde leerer, die Sonne stand tief, ihre Strahlen malten das Bild der Mauerluke roth an die entgegenstehende Wand, die andere Kiste fand sich nicht. »Schafft Alles hinaus,« rief der Professor, »das letzte Holz.« Ein Haufen alter Spieße, zerschlagene Gläser und Thonkrüge wurden aus dem Winkel hervorgeholt, abgefallene Tischbeine, gesplitterte Fourniere, in der Ecke noch ein großer Zinnkrug, der Raum war leer. Auf dem Boden lagen zernagte Holzstückchen,[338] an denen der Totenwurm sein Werk bereits gethan.

Der Professor trat wieder in die Thür. »Diese Kammer ist geräumt,« sagte er mit künstlicher Ruhe dem Kastellan. »Oeffnen Sie den Nebenraum.«

»Ich glaube nicht, daß sich darin etwas findet,« versetzte der ermüdete Mann. »Dort liegen wohl nur alte Breter und Oefen, die früher im Schlosse gestanden haben.«

»Hinein!« mahnte der Professor.

Der Kastellan öffnete zögernd die Thür, eine zweite Kammer, noch größer, noch weniger einladend, bot sich dem Blick, rußige Kacheln, Ziegel und Schieferplatten lagen berghoch am Eingange, darüber hölzernes Rüstzeug, das wahrscheinlich bei der letzten Reparatur des Schlosses gebraucht war.

»Mir ist lieb, daß ich dies sehe,« rief der Hofmarschall, »solche Belastung des Oberstocks ist ungehörig. Dies Zeug muß ganz aus dem Thurm geschafft werden.« Der Professor war auf einen Berg von Schieferplatten gestiegen und suchte in der Finsterniß nach der andern Truhe, aber das Chaos war wieder zu groß.

»Ich lasse sogleich aufräumen,« tröstete der Hofmarschall, »aber das mag längere Zeit dauern, wir kommen heut schwerlich zu Ende.«

Der Professor sah bittend auf die Prinzessin. »Nehmen Sie mehr Leute,« rief sie.

»Auch darüber vergeht die letzte Tageszeit,« bemerkte der Hofmarschall verständig. »Wir sehen, wieweit wir kommen. In jedem Fall soll der Herr Professor morgen bei guter Zeit den Zugang gebahnt finden.«

»Unterdeß schütteln wir den ersten Staub von unsren Gewändern,« sagte die Prinzessin, »und treten in meinem Bibliothekzimmer ab; es liegt gerade unter uns, Sie können von dort die Arbeit der räumenden Leute überwachen. Die Truhe schaffen wir zu meinen Büchern. Ich nehme sie mit[339] mir und ich erwarte Sie.« Zwei Männer trugen die gefundene Nummer 2 in die Bibliothek, widerwillig ging der Professor nach seiner Stube, sich umzukleiden.

Die Prinzessin schritt, den Gelehrten erwartend, über den Teppich, auf welchen die alte Truhe gestellt war. Nicht mit freiem Herzen sah sie dieser Zusammenkunft entgegen, sie barg in ihrer Seele einen Wunsch und einen Auftrag. Ihr Abschied vom Fürsten war diesmal freundlicher gewesen als seit Jahren; der Herr hatte sie vor dem Aufbruch in ein Seitenzimmer geführt und zu ihr über Werner gesprochen. »Du weißt, daß man dem ehrlichen Bergau nicht allzuviel überlassen darf, mir wäre lieb, wenn auch du etwas dazu thätest, den Gelehrten in unserer Nähe zu halten. Ich habe mich in dieser kurzen Zeit an ihn gewöhnt und würde die anregenden Stunden ungern missen. Aber ich denke nicht an mich allein. Ich werde älter, deinem Bruder wäre gerade ein solcher Mann für sein ganzes Leben von höchstem Werth, ein Mann in voller Kraft, der gegenüber unsrem zerstreuenden Treiben immer gesammelt und sicher in seinen Interessen steht. Das Verständniß dafür wünsche ich euch beiden erhalten und gesteigert, auch dir, Sidonie. Ich habe mit besonderer Genugthuung gesehen, wie warm die Empfindung ist, mit welcher du die Studien unserer gelehrten Männer begleitest. Deine Seele wird durch das Zwitschern der artigen Vögel, welche uns umgeben, nicht hinreichend unterhalten, gerade dir mag einige Nachhilfe von kundiger Seite eine edlere Auffassung der Welt öffnen. Suche diesen Mann zu gewinnen, jede Art von lästiger Verpflichtung soll ihm erspart bleiben; was jetzt etwa seine Stellung unsicher macht, hebt sich von selbst, sobald er bei uns eingebürgert ist. Ich fordere nicht, daß du mit ihm sprichst, ich wünsche es nur; und ich möchte dir den Glauben beibringen, daß ich dabei auch an deine Zukunft denke.«

Ohne Zweifel war das der Fall.

Die Prinzessin hatte die Worte des Vaters mit der stillen[340] Kritik gehört, welche diese beiden Blutsverwandten gegenseitig auszuüben gewöhnt waren. Aber der Ton, den die feine Zunge des Fürsten in ihre Seele sandte, klang diesmal so voll in ihr wieder, daß sie ihre Bereitwilligkeit aussprach, mit Herrn Werner zu reden.

»Wenn du etwas dergleichen unternimmst,« hatte der Fürst zuletzt gesagt, »so thue es nicht halb. Benütze den milden Einfluß, den du etwa auf ihn ausüben kannst; laß zu festem Wort und Versprechen werden, was der Gelehrte uns zu bewilligen geneigt ist.«

Jetzt dachte die Prinzessin unruhig dieser Worte. Ach, sie hätte dem werthen Mann gern denselben Wunsch aus eigenem Herzen an das seine gelegt und sie empfand ein Mißbehagen darüber, daß ihr geheimer Gedanke auch Wille eines Andern war.

Der Professor trat in die Bibliothek der Prinzessin, er sah flüchtig auf die Gipsabgüsse und Bücher, welche frisch ausgepackt und ungeordnet umherstanden. »Schwer trägt sich die Erwartung,« sagte er, »wenn sie so heftig aufgeregt ist. Man könnte lachen über den höhnischen Zufall, der uns einen Bruder entgegengetragen, an welchem nichts liegt, und den andern vorenthält, der unermeßlich wichtig wäre.«

Die Prinzessin wies mit der Hand nach der Thür, draußen auf der Treppe klang der Tritt tragender Leute. »Nur noch kleine Geduld, ist's nicht mehr heut, dann morgen in der Frühe.«

»Morgen,« rief der Professor, »dazwischen liegt eine Nacht. Unterdeß pocht unablässig der Wurm, arbeiten die Kräfte der Zerstörung. Zahllos sind die Möglichkeiten, welche uns von einer Hoffnung scheiden, sicher ist nur der Erwerb, den wir in der Hand halten.« Er betrachtete die Truhe. »Sie ist weit kleiner, als ich wähnte, wie zufällig lag das Meßbuch darin, noch ist nicht einmal ganz sicher, woher sie stammt, und noch ist sehr zweifelhaft, was in der andern Kiste verborgen liegt.«[341]

Die Prinzessin öffnete den Deckel. »Unterdeß halten wir uns an das Wenige, das wir gefunden.« Sie hob den Pergamentband heraus und legte ihn in die Hand des Gelehrten. Einzelne Blätter glitten abwärts, der Professor griff darnach, sein Auge zog sich zusammen, er sprang an das Fenster. »Zwei Blätter, welche nicht hineingehören.« Er las. »Ein Stück der Handschrift ist gefunden,« rief er. Er hielt der Prinzessin die Blätter hin, seine Hand zitterte und die Erschütterung arbeitete so heftig in seinem Antlitz, daß er sich abwandte. Er eilte an den Tisch und suchte in dem Meßbuch, Seite für Seite schlug er heftig um vom Anfang bis zum Ende. Die Prinzessin hielt die Blätter erwartungsvoll in der Hand, sie trat zu ihm; als er das Haupt erhob, sah er zwei große Augen in zärtlichem Mitgefühl auf sich geheftet. Wieder ergriff er die beiden Blätter. »Was ich hier halte,« rief er, »ist zugleich werthvoll und trostlos, man möchte weinen, daß es nicht mehr ist, es ist ein Bruchstück aus dem sechsten Buch der Annalen des Tacitus, das wir bereits einmal in anderer Handschrift besitzen. Dies waren zwei Blätter einer Pergamentlage, zwischen denen mehre verloren sind. Die Schrift ist wohlerhalten, besser als ich gedacht hatte, sie ist den Zügen nach im zwölften Jahrhundert von einem Deutschen geschrieben.« Er suchte im Licht der Abendsonne schnell nach dem Inhalt. Die Prinzessin blickte über seine Schulter neugierig auf die dicken Buchstaben der Mönchshand. »Es ist richtig,« fuhr er ruhiger fort, »der Fund ist von hohem Interesse. Es wird lehrreich sein, diese Handschrift mit der einzigen vorhandenen zu vergleichen.« Er sah wieder nach. »Ob es eine Abschrift ist,« murmelte er, »vielleicht weisen beide auf gemeinsame Quelle. Also auch die Handschrift, welche wir suchen, muß zerrissen sein, diese Blätter sind herausgefallen und vielleicht während des Einpackens in ein falsches Buch geschoben. Noch ist Manches räthselhaft, aber die Thatsache scheint fest zu stehen, wir halten hier einen Ueberrest der Handschrift von Rossau,[342] und dieser Fund darf eine Bürgschaft sein, daß auch das Uebrige nahe. Wieviel?« fuhr er finster aus, »und in welchem Zustande?« Wieder hörte er unruhig auf den Tritt der Männer, welche die Kammer räumten. Er stürmte aus dem Zimmer die Treppe hinan, aber er kehrte nach wenigen Augenblicken zurück. »Das geht langsam,« sagte er, »noch ist nichts zu sehen.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich wünschen darf, daß es schnell gehe,« rief die Prinzessin munter, aber ihr Auge strafte den lachenden Mund Lügen. »Wissen Sie auch, daß ich uneigennützig bin, wenn ich Ihnen helfe, die Handschrift zu finden? Solange Sie suchen, gehören Sie uns. Haben Sie den Schatz gehoben, dann ziehen Sie sich in ihr unsichtbares Reich zurück und uns bleibt das Nachsehen. Ich habe Lust, die übrigen Kammern des Hauses vor Ihnen zu verschließen und nur Jahr um Jahr eine zu öffnen, bis Sie sich ganz zu uns gewöhnt haben.«

»Das wäre grausam nicht nur gegen mich,« versetzte der Professor.

Die Prinzessin trat ihm gegenüber. »Ich spreche nicht eitle Worte,« sprach sie schnell in verändertem Tone. »Der Fürst wünscht, daß Sie sich bei uns ansiedeln. Bergau hat Auftrag, über Aeußerlichkeiten, welche Ihren Entschluß nicht bestimmen werden, mit Ihnen zu verhandeln. Wenn ich dieselbe Bitte ausspreche, so folge ich meinem eignen Herzen.«

»Sehr unerwartet tritt diese Forderung an mich,« entgegnete der Gelehrte erstaunt. »Mein Brauch ist, dergleichen still und in verschiedenen Stimmungen zu erwägen, ich bitte Ew. Hoheit, in dieser Stunde keine Antwort zu fordern.«

»Ich kann Sie Ihnen nicht ersparen,« rief die Prinzessin. »Denn ich möchte in meiner Weise selbst um Sie werben. Sie sollen Amt und Thätigkeit sich hier so frei wählen, als unsere Verhältnisse gestatten, man will Sie in aller Weise auszeichnen und jeden Wunsch, dessen Befriedigung in der Macht des Fürsten steht, erfüllen.«[343]

»Ich bin Universitätslehrer,« erwiederte der Professor, »ich bin es mit Freude, nicht ohne Erfolg. Mein ganzes Wesen, der Gang meiner Bildung weisen mich auf diesen Beruf. Die Rechte und Pflichten, welche mein Leben umschließen, halten mich mit festen Banden. Ich habe Schüler, ich stehe mitten in dem Werk, das ich in ihre Seelen schreibe.«

»Sie werden nirgend Schüler finden, die Ihnen treuer ergeben sind und wärmer an Ihnen hängen, als meinen Bruder und mich.«

»Ich bin kein Lehrer, der auf die Dauer einen Fürsten zu fördern vermag, ich bin gewöhnt an den strengen Gang meiner Wissenschaft und die stille Arbeit unter meinen Büchern.«

»Der letzte Theil Ihrer Thätigkeit wenigstens geht hier der Welt nicht verloren. Gerade hier sollen Sie Muße finden, vielleicht mehr als unter Ihren Studenten.«

»Das neue Leben würde mir neue Pflichten bringen,« antwortete der Professor, »und als Mann müßte ich sie mir fordern. Es würde mir auch Zerstreuung bieten, an welche ich nicht gewöhnt bin. Sie laden sich einen Mann, den Sie für fest halten; wohl, er steht fest in seinem Kreise, es besteht keine Bürgschaft dafür, daß er Ihnen in anderm Leben ebenso erscheinen werde. Vertrauen Sie nicht, daß ich Ruhe und Sammlung, wie Sie der Arbeiter bedarf, mir in veränderter Stellung bewahrte, und mein Mißbehagen über innere Störungen würde auch meiner Umgebung fühlbar sein. Schmeichelnd tönt der neue Ruf mir in das Ohr. Aber selbst wenn ich hier für mein Haus und meine Privatverhältnisse Alles hoffen dürfte, was dem Leben Behagen gibt, ich müßte doch da verharren, wo ich meiner Persönlichkeit nach am besten nütze. Ich habe heut die Ueberzeugung nicht, daß mir dies hier gelingen würde.«

Die Prinzessin sah betrübt vor sich hin. Immer noch klangen von draußen die Tritte der Männer, welche die Handschrift von aufgehäuftem Schutt befreiten.[344]

»Und doch,« fuhr der Professor fort, »wenn uns das Glück wird, die Handschrift zu finden, so werden viele Tage, vielleicht viele Jahre meines Lebens durch eine neue Aufgabe in Anspruch genommen, welche so groß ist, daß ich dann meine Amtsthätigkeit als eine Last empfinden dürfte. Dann hätte ich das Recht zu fragen, in welcher Umgebung ich für dieses Werk am besten gefördert werde. Für diesen Fall würde mir auch das Recht zu Theil, die Akademie für längere Zeit zu verlassen. Finde ich nicht, so wird mir doch sehr schwer werden, von hier zu scheiden, meine Seele wird noch lange ruhelos um diese Stätte schweben.«

»So lasse ich Sie nicht frei,« rief die Prinzessin, »ich höre nur die Worte Pflicht und Pergament. Gilt Ihnen denn gar nichts die Neigung, welche wir Ihnen entgegentragen? Vergessen Sie in diesem Augenblick, daß ich eine Frau bin, und betrachten Sie mich als einen warmherzigen Knaben, der hingebend zu Ihnen aufsieht, und der nicht ganz unwerth ist, daß Sie an seiner Seele Antheil nehmen.«

Der Professor sah auf den Schüler, der vor ihm stand und kein Weib sein wollte. Die Fürstin hatte nie verführerischer ausgesehen, er blickte auf die gerötheten Wangen, auf die Augen, welche so herzlich an seinem Antlitz hingen, und auf die rothen Lippen, die vor innerer Bewegung zuckten. »Meine Schüler sehen sonst anders aus,« sagte er leise, »und sie sind gewöhnt, strengere Kritik auch an ihrem Lehrer zu üben.«

»Ertragen Sie einmal,« rief die Prinzessin, »daß Sie in einem empfänglichen Gemüth reine Bewunderung finden. Ich habe Ihnen früher gesagt, wie werthvoll mir ist, Sie zu kennen, ich bin keine Kaiserin, welche ein Reich regiert, und ich will Ihre Kraft nicht verwenden für meine Geschäfte. Aber ich würde für ein hohes Glück halten, Ihrem Geiste nahe zu sein, die edlen Worte aus Ihrem Munde zu hören. Ich fühle die Sehnsucht, das Leben mit den klaren Augen eines Mannes anzusehen. Sie haben mir leicht, wie spielend, Räthsel gelöst,[345] die mich quälten, und Fragen beantwortet, mit denen ich seit Jahren rang. Herr Werner, Sie haben sich mir gütig zugeneigt; wenn Sie von hier gehen, werde ich da, wo ich jetzt am liebsten weile, mich vereinsamt finden. Wäre ich ein Mann, ich zöge Ihrer Lehre nach, ich bin hier gefesselt, und ich winke Sie zu mir.«

Hingerissen lauschte der Gelehrte auf die weiche Stimme, welche so innig zu überreden wußte.

»Ich bitte nicht für mich allein,« fuhr die Prinzessin näher tretend fort, »auch mein Bruder bedarf eines Freundes. Ihm wird einst die Aufgabe, für Viele zu sorgen. Was Sie an seinem Geiste thun, das gereicht Andern zum Heil. Wenn ich aus der Gegenwart mich träume in die Zukunft unseres Hauses, dieses Landes, so fühle ich stolz, daß wir Geschwister eine Ahnung von dem haben, was unsere Zeit von ihren Fürsten fordert, und ich fühle den Ehrgeiz, daß wir beide uns vor Andern würdig dieses hohen Berufes erweisen. Ich hoffe in meiner Heimat ein neues Leben entfaltet, den Bruder und mich umgeben von den besten Geistern unseres Volkes; was ein guter Fürst zu spenden vermag, reiche Einfassung eines wohlbefestigten Daseins, das sehe ich tüchtiger Geisteskraft zugetheilt. So leben wir verständig und ernsthaft, wie unsere Zeit verlangt, miteinander, es soll kein lustiger Hof werden in altem Stil, aber es soll ein herzlicher Verkehr sein zwischen dem Fürsten und dem Geist der Nation. Das wird uns freier und besser machen, es mag auch dem Ganzen zu gut kommen, es kann noch späteren Zeiten eine frohe Erinnerung sein. Wenn ich mir solche Zukunft denke, dann, Herr Werner, sehe ich Sie als lieben Gefährten unseres Lebens, und der Gedanke macht mich stolz und glücklich.«

Die Sonne sank, ihr letzter Strahl fiel glühend auf die Fürstin und das Haupt des Mannes. Süß tönte das Lied der Nachtigall im Fliederbusch, der Gelehrte stand schweigend der schönen Frau gegenüber, welche ihm das Leben so rosig[346] malte; ihm pochte das Herz, und seine Kraft ward klein. Wieder sah er nahe vor sich zwei strahlende Augen, und noch einmal tönten die bittenden Worte: »Bleiben Sie bei uns« ihm mit hinreißendem Zauber in das Ohr.

Da rauschte es leise an der Prinzessin nieder, die Blätter der Handschrift, welche sie berührt hatte, fielen auf den Boden. Der Professor bückte sich darnach und schnellte in die Höhe. »Ew. Hoheit sehen mit fröhlichem Blick in die Zukunft,« begann er weich, »mein Auge ist gewöhnt, die einzelnen Zeilen in der Schrift vergangener Zeit zu lesen. Hier liegt meine nächste Aufgabe, um diese Blätter flattern meine Träume. Ich bin nur ein Mann der Schreibstube, und ich werde weniger, wenn ich mehr zu sein fordere. Ich weiß, daß ich Vieles entbehre: in dieser Stunde, wo das leichtbeschwingte Leben so schön vor mir glänzt, fühle ich dies tiefer als je. Aber mein bestes Glück muß sein, daß ich aus stillen Wänden in andere Seelen senke, was dort zur Blüthe und Frucht wird. Und meine größte Belohnung muß sein, daß ein Anderer in guten Stunden, wo er sich der eigenen Tüchtigkeit bewußt wird, mit flüchtiger Erinnerung auch des entfernten Lehrers denkt, seines Lehrers, der nur einer war unter Tausenden, die ihn gebildet haben, nur ein einzelner Säemann auf den unabsehbaren Feldern unserer Wissenschaft.«

So sprach der Gelehrte. Aber als er mit mühsam erkämpfter Haltung sagte, was wahrhaft und ehrlich war, da dachte er nicht allein an die Wahrheit und nicht allein an den Schatz, den er suchte, sondern an den größern, den er verlassen, um mit der schönen Fee des Thurmschlosses auf die Jagd zu ziehen. Er hörte die flehenden Worte: »Geh nicht, Felix!« und sie waren ihm eine Mahnung zu guter Stunde. »Wenn ich zu ihr kehre, wird sie wohl mit mir zufrieden sein,« sann der Arglose. Es wurde ihm erspart, sie darum zu fragen.

Unten rollte schnell ein Wagen heran, der meldende Diener nahte dem Zimmer. »So starr Ihr Wille, so fest Ihr Sinn,«[347] rief die Prinzessin leidenschaftlich. »Aber auch ich bin eine hartnäckige Mahnerin; ich setze meine Werbung fort, Herr Werner. Krieg zwischen uns beiden. Auf Wiedersehen zum Abend.« Sie eilte die Stufen hinab. Das Abendlicht schwand hinter einer finstern Wolkenwand, der Wasserdampf schwebte in langen Streifen über die Wiesen und hing sich an die Wipfel der Bäume, und um die Mauern des Thurmes flogen krächzend die Dohlen. Oben knarrte die Thür der Kammer, der Kastellan rasselte mit den Schlüsseln, während der Gelehrte liebevoll auf die Blätter sah, welche er in der Hand hielt.

Quelle:
Gustav Freytag: Gesammelte Werke. Band 7, Leipzig/ Berlin [o.J.], S. 330-348.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die verlorene Handschrift
Die verlorene Handschrift: Teil 3
Die verlorene Handschrift: Teil 2
Die verlorene Handschrift: Teil 1
Freytag's Die Verlorene Handschrift
Die Verlorene Handschrift: Roman in Fünf Büchern, Volume 2 (German Edition)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon