Apologie

[21] Daß ich auch zur schönen Zeit des Frühlings

Morgens lange stets im Bette säume,

Darum wollt ihr, Freunde, mich verklagen?

Tut es immerhin! Euch hat beim Werden

Nicht die Muse freundlich angelächelt,

Und mit Morpheus' lieblichem Geschlechte

Seid ihr ganz und gar in herbem Zwiespalt.

Nicht die Wonne kennt ihr, auf dem Lager

Sich zu dehnen, wenn am offnen Fenster

Grünes Weinlaub schwankt im Sonnenschimmer

Und die Blüten rot und weiß hereinwehn.

Draußen in den Rosenbüschen flötet

Dann die Nachtigall, und wie die Töne

Lieblich sich durch meine Seele dehnen,

Spinnt der Morgentraum in halbem Wachen

Sich noch fort und wird zu holden Liedern.

Trifft mir endlich dann der Strahl die Wimpern,

Spring' ich rasch empor, auf weiße Blätter

Die gereimten Träume festzubannen.

Abends aber schleich' ich zur Geliebten,

Und sie liest es, was in süßer Dämmrung

Grüßend durch des Freundes Brust gezogen,

Und mit Küssen lohnt sie jede Zeile.


Sagt nun, ihr profanen Traumverächter,

Sagt nun, wollt ihr länger noch mich schelten?

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 21.
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