Gasel

[102] Zur Zeit, wenn der Frühling die Glut der Rosen entfacht in Athen,

Wie dämmert so lieblich als dann die duftige Nacht in Athen!

Hoch leuchtet der Mond und bescheint Zypressen und Palmen umher

Und marmornen Tempelgesäuls versinkende Pracht in Athen.

Wir aber bekränzen das Haupt und füllen den Becher mit Wein,

Gedenkend, wie Sokrates einst die Nächte verbracht in Athen.

Von Lieb' entspinnt sich Gespräch; denn ob auch Pallas die Burg

Beherrschen mag, Eros der Gott übt selige Macht in Athen.

Zur Rede gesellt sich Musik, leicht sind die Gitarren gestimmt,

Leicht regt sich des Wechselgesangs melodische Schlacht in Athen.

Da webt manch klassisches Wort, manch leuchtender Name sich ein,

Denn großer vergangener Zeit Erinnerung wacht in Athen.

Und kühner erbrauset das Lied; wir spenden aus vollem Pokal

Den Herrlichen, die einst gekämpft, gesungen, gedacht in Athen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 102.
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