Woran ich denke

[103] Woran ich denk'? - An meines Lebens Morgen,

Als noch so ungestüm, so frei von Sorgen

Das jugendliche Herz mir schlug,

Als vor mir, ein besonnter Meeresspiegel,

Die Hoffnung lag, als der Gedanke Flügel,

Und als die Liebe Rosen trug.


Da weilt' ich abends, ohne zu ermatten,

Im Regen, nur um einen flücht'gen Schatten

Am hellen Fenster zu erspähn;

Und selig war ich, durft' ich aus der Ferne

Nach ihrem Auge wie nach einem Sterne

Im tiefen Blau des Himmels sehn.[103]


Ich sah im Duft der Lilie, die mit Schweigen

Sich auftat, ein Gebet zum Himmel steigen,

Und meine Seele kniete mit;

Ich hörte Lieder im Geräusch der Quellen,

Die mir der Wind mit Sinken und mit Schwellen

In ungewisse Strophen schnitt.


Ja, ich war fromm und frei und rein. Ich glaubte

An jede Reinheit, und mit stolzem Haupte

Sah ich hinab auf das Gewühl,

Das unter mir im engen Horizonte

Schaffen, sich freun, leben und sterben konnte,

Des Windes und der Wellen Spiel.


Nun hab' ich, ach, geschaut, erkannt, genossen;

Die Blüt' ist hin, der Farben Schmelz zerflossen,

Ich bin erprobt in Lust und Schmerz.

Ich ward ein Mann, doch konnt' ich nichts erlangen,

Als wen'ge Lieder, sonnverbrannte Wangen

Und dieses sehnsuchtsvolle Herz.


Und jene Zeit, da mir so unvermessen

Die Welt noch schien, fast hab' ich sie vergessen;

Nur manchmal, wenn der Feigenbaum

An meinem offnen Fenster leise rauschet

Und still durchs Laub des Mondes Sichel lauschet,

Blickt sie mich schmerzlich an im Traum.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 103-104.
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