Tannhäuser

[108] Wie wird die Nacht so lüstern!

Wie blüht so reich der Wald!

In allen Wipfeln flüstern

Viel Stimmen mannigfalt.

Die Bächlein blinken und rauschen,

Die Blumen duften und glühn,

Die Marmorbilder lauschen

Hervor aus dunklem Grün.[108]


Die Nachtigall ruft: Zurück! zurück!

Der Knab' schickt nur voraus den Blick;

Sein Herz ist wild, sein Sinn getrübt,

Vergessen alles, was er liebt.


Er kommt zum Schloß im Garten,

Die Fenster sind voll Glanz,

Am Tor die Pagen warten,

Und droben klingt der Tanz.

Er schreitet hinauf die Treppen,

Er tritt hinein in den Saal,

Da rauschen die Sammetschleppen,

Da blinkt der Goldpokal.


Die Nachtigall ruft: Zurück! zurück!

Der Knab' schickt nur voraus den Blick;

Sein Herz ist wild, sein Sinn getrübt,

Vergessen alles, was er liebt.


Die schönste von den Frauen

Reicht ihm den Becher hin,

Ihm rinnt ein süßes Grauen

Seltsam durch Herz und Sinn.

Er leert ihn bis zum Grunde,

Da spricht am Tor der Zwerg:

»Der unsre bist zur Stunde,

Dies ist der Venusberg.«


Die Nachtigall ruft nur noch von fern,

Den Knaben treibt sein böser Stern;

Sein Herz ist wild, sein Sinn getrübt,

Vergessen alles, was er liebt.


Und endlich fort vom Reigen

Führt ihn das schöne Weib;

Ihr Auge blickt so eigen,

Verlockend glüht ihr Leib.

Fern von des Fests Gewimmel,

Da blühen die Lauben so dicht -

In Wolken birgt am Himmel

Der Mond sein Angesicht.[109]


Der Nachtigall Ruf ist lang verhallt,

Den Knaben treibt der Lust Gewalt;

Sein Herz ist wild, sein Sinn getrübt,

Vergessen alles, was er liebt. - -


Und als es wieder taget,

Da liegt er ganz allein;

Im Walde um ihn raget

Verwildertes Gestein.

Kühl geht die Luft von Norden

Und streut das Laub umher;

Er selbst ist grau geworden,

Und bang sein Herz und leer.


Er sitzt und starret vor sich hin

Und schüttelt das Haupt in irrem Sinn.

Die Nachtigall ruft: Zu spät! zu spät!

Der Wind die Stimme von dannen weht.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 108-110.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon