Rückerinnerung

[111] Oft wenn die Sommernacht auf lauen Flügeln

Von Gärten, Blütenwäldern, Rebenhügeln

Des Südens Düfte zu mir trägt,

Wenn durch das Bogenwerk am Säulengange

Der Mondstrahl spielt, und fern mit süßem Klange

Die Nachtigall am Brunnen schlägt;


Wenn mit Geplauder dann, mit Scherz und Singen

Die muntern Freunde lachend mich umringen,

Die Laut' im Arm, das Glas zur Hand:

Da werd' ich plötzlich stumm, und die Gedanken

Schweifen, Zugvögeln gleich, mit irrem Schwanken

Sehnsüchtig heim ins Vaterland.


Mir ist es dann, als sei ich doch im Grunde

Ein Schiffer nur, geführt von böser Stunde

Zu eines Zaubereilands Pracht,

Als müßt' ich dieses Mondlichts süßes Weben

Und diese Blütendüfte freudig geben

Für eine deutsche Nebelnacht.


Da denk' ich, wie ich bei des Herbstes Stürmen

Oftmals entlang den Kirchhof an den Türmen

Des gotischen Doms vorüberschritt;

Die Glocken schlugen an, gleich roten Sternen

Schwankten im Zug der Gassen die Laternen,

Und über Gräbern scholl mein Tritt.[111]


Laut auf die Dächer prasselte der Regen;

Am Bogentor schlug mir der Wind entgegen

Und schüttelt' heftig mit Gebraus

Die alten Ulmen, die dort finster ragen;

Doch ich, den Mantel fester umgeschlagen,

Eilte zum hohen Giebelhaus.


O Freude, wenn ich dann, vom Regen tropfend,

Das Herz in ungestümer Sehnsucht klopfend,

Empor die breiten Treppen flog,

Und von den dunklen Galerien droben

Sich mir, vom Schein der Lampe mild umwoben,

Ein Lockenhaupt entgegen bog! -

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 111-112.
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