Waldmärchen

[147] In einer Waldschlucht finster,

Wo heimlich baut der Fuchs,

Wo Farrenkraut und Ginster

Sich rangt in üpp'gem Wuchs,

Lag ich, vom Grün umwoben,

An einem dunklen Bach;

Es lugte kaum von oben

Die Sonn' ins Laubgemach.


Ich hatte Moos zum Pfühle,

Gestrüpp zur Lagerstatt,

Vom Fels kam eine Kühle

Und ging durch Busch und Blatt;

Und kühle quoll der Sprudel

Und murrt' am schroffen Hang,

Den oft bei Nacht im Rudel

Die Hindin übersprang.


Mit rotem Auge schaute

Vom Baum der Auerhahn,

Es zog mit heisrem Laute

Der Häher seine Bahn;

Dann hämmert' abgebrochen

Der Specht von Zeit zu Zeit -

Mir war's, als hört' ich pochen

Das Herz der Einsamkeit.


Da plötzlich sah ich lehnen

Am Stamm ein hohes Weib,

Umwallt von lockigen Strähnen

Den wunderschönen Leib;

Wem ward zum Eigentume

Je solch ein Goldgewand!

Sie trug eine blaue Blume

In ihrer weißen Hand.


Sie sprach: »Sei mir willkommen!

Du bist ein seltner Gast,

Doch hast du dir zum Frommen

Erkoren hier die Rast;[148]

Von allen Königinnen

Die reichste bin ich bald;

Mein Schloß mit grünen Zinnen,

Das ist der lust'ge Wald.


Sonst macht' ich wohl hinunter

Ins offne Land den Ritt,

Und Blumen sproßten munter,

Wohin mein Zelter schritt;

Zu bringen Lust und Minne,

Das war mein fröhlich Recht;

Doch ist von anderm Sinne

Das heurige Geschlecht.


Das träumt von Klingenhieben,

Von Schlacht nur und Geschoß;

Da bin ich heimgeblieben

In meinem Zauberschloß.

Nun lehr' ich singend wallen

Den Bach durch Fels und Ried,

Nun lehr' ich die Nachtigallen

Im Lenz ihr süßestes Lied.


Ich weiß, auch du mußt fechten,

Auch du gehörst der Zeit;

So steh' zu deinen Rechten

Und führe wackern Streit!

Doch will dein Arm ermüden,

Bei mir dann kehre du ein,

Im säuselnden Waldfrieden

Sollst du gekräftigt sein.


Da sollst du Frische saugen

Im harz'gen Duft vom Tann,

Da schaut aus Blumenaugen

Das Märchen froh dich an;

Und macht der Forst dich singen:

Es wird in der Zeiten Gang

Auf solche Weise dringen

Wie grüner Waldhornklang.«[149]


Sie sprach's; ich stand erschrocken

Und wußte nicht ein Wort,

Da schüttelte sie die Locken

Und schwand ins Dickicht fort.

Noch glaubt' ich fern das Wallen

Zu sehn des goldnen Haars,

Doch in den Buchenhallen

Ein Strahl der Sonne war's.


Und wieder schrie der Häher,

Und wieder quoll die Flut;

Doch mir entzücktem Seher

War groß und still zumut.

Und zeihn sie mir's als Sünde:

Ich lasse dich dennoch nie,

O Fei der Waldesgründe,

O Sagenpoesie!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 147-150.
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