Hoffnung

[176] Und dräut der Winter noch so sehr

Mit trotzigen Gebärden,

Und streut er Eis und Schnee umher,

Es muß doch Frühling werden.


Und drängen die Nebel noch so dicht

Sich vor den Blick der Sonne,

Sie wecket doch mit ihrem Licht

Einmal die Welt zur Wonne.


Blast nur, ihr Stürme, blast mit Macht,

Mir soll darob nicht bangen,

Auf leisen Sohlen über Nacht

Kommt doch der Lenz gegangen.


Da wacht die Erde grünend auf,

Weiß nicht, wie ihr geschehen,

Und lacht in den sonnigen Himmel hinauf

Und möchte vor Lust vergehen.


Sie flicht sich blühende Kränze ins Haar

Und schmückt sich mit Rosen und Ähren

Und läßt die Brünnlein rieseln klar,

Als wären es Freudenzähren.[176]


Drum still! Und wie es frieren mag,

O Herz, gib dich zufrieden;

Es ist ein großer Maientag

Der ganzen Welt beschieden.


Und wenn dir oft auch bangt und graut,

Als sei die Höll' auf Erden,

Nur unverzagt auf Gott vertraut!

Es muß doch Frühling werden.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 176-177.
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Zeitstimmen: Zwölf Gedichte (German Edition)