Heimweh

[271] O Heimatliebe, Heimatlust,

Du Born der Sehnsucht unergründet,

Du frommer Strahl, in jeder Brust

Vom Himmel selber angezündet,

Gefühl, das wie der Tod so stark

Uns eingesenkt ward bis ins Mark,

Das uns das Tal, da wir geboren,

Mit tausendfarb'gem Schimmer schmückt,

Und wär's im Steppensand verloren,

Und wär's von ew'gem Schnee gedrückt:

Wohl keinem ward zum tiefsten Grunde

Von deiner Allgewalt die Kunde,

Der pilgernd nie aus seinem Ohr

Der Muttersprache Laut verlor

Und nie, an fremder Tür gesessen,

Der Fremde bittres Brot gegessen.


Doch wer vom eignen Herd verbannt

Irrt in ungastlich fernem Land,[271]

Der Wandrer, der auf wüstem Meer

Nur Luft und Wasser sieht umher,

Der Pilger, der mit kecken Sinnen

Durch Wälder, über Bergeszinnen

Auf irrem Pfad zu weit geschweift.

Der ist's, den deine Macht ergreift;

Doch wandelt ihm sich im Gemüte

Zum scharfen Dorn die Rosenblüte,

Du ziehst, o milde Heimatlust,

Als Heimweh durch die kranke Brust.


Dann bist du's, die im Frühlingswalde,

Im Veilchenhag, umspielt vom West,

Das arme Kind der eis'gen Halde

Nach seinem Norden schmachten läßt;

Dann bist du's, die mit herber Flamme

Des Polenflüchtlings Herz verzehrt,

Und die dem Sohn von Judas Stamme

Im Tod die Füße ostwärts kehrt,

Als möcht' er sterbend noch erstreben

Das Land, das ihm versagt im Leben;

Dann lockst du, klingt im Mondenglanze

Des Alphorns heimatsel'ger Gruß,

Zu Straßburg von der hohen Schanze

Den Schweizer in den wilden Fluß,

Und von den Klängen, von den Wogen

Wird er in seinen Tod gezogen.


Ich selber hab' in vor'gen Jahren

Dies wundersame Weh erfahren,

Da Ägeus' Flut wie lautres Gold

Zu meinen Füßen noch gerollt.

O, wohl ist's schön an jenem Meer!

Die schlanke Palme sah ich ragen,

Der Tempel Säulentrümmer lagen

Umblüht von Rosen um mich her;

Der Himmel wölbte sich kristallen,

Von Düften schien die Luft zu wallen,[272]

Zu leisem Zitherschlag erklang

Vom Meer des Fischers Abendsang,

Der in der Bark' auf lichter Spur

Gen Salamis hinüberfuhr.

Und doch! ich fühlte keine Lust,

Es schlich ein krankhaft brennend Sehnen

Wie Fieberhauch durch meine Brust,

Und kaum erwehrt' ich mich der Tränen.

Ich saß auf zack'gem Fels und lauschte,

Ob nicht aus Nord ein Lüftchen rauschte;

Das sog ich durstig atmend ein,

Als ob's mich tief erquicken müßte;

Es konnte ja zur fernen Küste

Ein Gruß aus Deutschlands Wäldern sein.


Und ward es still, dann blickt' ich wieder

Hinab ins Buch auf meinen Knien

Und ließ die alten goldnen Lieder

Homers durch meine Seele ziehn;

Den eignen Schmerz dann fühlt' ich mit

Im Jammer, den der Dulder litt,

Ich sucht' ihn in des Sängers Tönen

Zugleich mit jenem zu versöhnen.

Da wurdest du in meinem Weh

Mir oftmals Hoffnung, Trost und Steuer,

Du ewig Lied der Abenteuer,

Du Lied des Heimwehs, Odyssee!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 271-273.
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