An Klara

[317] (im Namen einer Freundin, mit einer Schlummerdecke).


Hast du vom Teppich Salomos

Gehört die wundervolle Sage,

Dran in kristallner Grotte Schoß

Die Geister woben dreißig Tage?

Wer ihn betrat mit Zauberwort,

Den trug er durch die Lüfte fort,

Ein schwebend Schifflein rastlos fliegend,

In blauer Ätherflut sich wiegend.


Ich bin nicht König Salomo,

Auf dessen Wink Dämonen schreiten:

Drum mußt' ich selber still und froh

Den Schlummerteppich dir bereiten;

Doch hat auch hier ein Geist von oben,

Die Liebe hat mit dran gewoben.

Und sieh, mich dünkt, daß Liebeskraft

Wohl fast noch süßre Wunder schafft.

Denn wenn du tagesmatt die Glieder

Gehüllt in dies Gewebe kaum,

So kommen leise zu dir nieder

Die stillen Knaben Schlaf und Traum,

Mit lindem, kühlem Flügelschlagen

Ins Reich der Märchen dich zu tragen.

Da klingt's im Ohr dir wie ein Lied;

Ein Nebel reißt – dein Auge sieht,

Befreit von jeder dumpfen Hülle,

Erschlossen aller Wunder Fülle.

Was war, was ist, was kommen will,

Schaust du zugleich; die Zeit steht still.

Bei Frühlingsblüten glänzt im Laube

Die goldne Frucht, die glühnde Traube;[317]

Das Wissen der erfahrnen Brust

Verschmilzt mit reinster Jugendlust;

Du spürst im Herzen süßerschrocken

Der frühsten Liebesahnung Glanz,

Und doch in deines Kindes Locken

Drückst wonnig du den Myrtenkranz –

Geliebte, Mutter, Kind zugleich

Bist du unendlich froh und reich.


Und webt der Traum auch immer nicht

Solch unergründlich süß Gedicht,

So weiß er doch mit Elfenhänden

Willkommne Gabe stets zu spenden:

In Winters Schnee und rauher Luft

Umspielt er dich mit Veilchenduft;

Er weht dir in des Sommers Schwüle

Ums Haupt mit grüner Waldeskühle;

Die Lieben bringt er dir ins Haus,

Von denen dich die Welt geschieden;

Erquickung gießt er, gießet Frieden

Auf deine Wimpern lächelnd aus,

Und will die Brust die Sorge pressen,

Er schafft ein wundervoll Vergessen.


Das ist's, was ich in mir gedacht,

Als ich das Werk für dich vollbracht;

Und wirst du, holde Schläferin,

Den Zauber des Gewirks erproben,

Dann denke still in deinem Sinn:

Die Liebe hat ihn drein gewoben.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 317-318.
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