Des Zechers Traum

[337] Mit den Freunden bei der mächt'gen Bowle

Hatt' ich tief bis in die Nacht gesessen;

Sieh, da kam im Schlaf ein seltner Traum mir.

An dem Strand des unfruchtbaren Meeres

Irrt' ich von gewalt'gem Durst gepeinigt

Hin und her zur Zeit der Sonnenrüste;

Eine Quelle sucht' ich, einen Brunnen,

Mich zu laben, doch umsonst! Da rief ich

Sehnsuchtsvoll umher mit heisrer Stimme:

O wer schafft zu trinken mir, zu trinken,

Aber nicht zu wenig – ich verschmachte –

O wer schafft zu trinken mir, zu trinken!


Siehe, da geschah ein plötzlich Wunder;

Denn des Meeres ungeheure Tiefe

Ward verwandelt zur kristallnen Schale,

Drum als Kranz des Ufers Wälder lagen.

Klares Wasser sah ich drinnen dampfen

Hell durchsichtig; aber Riff' und Klippen

Waren eitel Süßigkeit und schmolzen

In der heißen Flut; des Abends Strahlen

Schossen als ein goldner Strom herunter

Edlen Geists und färbten bis zum Rande

Nun die Mischung, daß sie zitternd glänzte.

Doch zuletzt als Riesenpomeranze[337]

Sank die Sonn' herab und wogte schwimmend

Auf dem Trank dahin, die Schale krönend.


Und begierig mit den trocknen Lippen

Schlürfend setzt' ich an, und schon berührte

Mir das seltne Naß den Mund – da weckte

Mich der Schlag der Uhr; vom Lager fuhr ich

Durstig auf und mußte herzlich lachen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 337-338.
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