Am Waldsee

[360] Da draußen an der Halde,

Da singt ein Vöglein frei:

Jung Blut, geh nicht zu Walde,

Im Walde wohnt die Fei.


Bei Tag im Grase funkelt

Ihr schuppiger Schlangenleib;

Doch wenn der Abend dunkelt,

Wird sie ein schönes Weib.


Sie sitzt in Mondscheinnächten

Am schwarzen See im Tann

Und löst die langen Flechten

Und lockt den Wandersmann.


Da blitzten ihr die Augen

Wie blauer Edelstein;

Ihre kalten Lippen saugen

Sein rotes Leben ein.


Es schallt wie Wonn' und Grausen

Ihr Lachen durch die Nacht,

Bis fern mit kühlem Sausen

Der Morgenwind erwacht.


Dann ächzt es in den Tannen,

Dann braust's im Wogenschlund:

Eine Schlange rauscht von dannen,

Eine Leiche liegt am Grund.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 360-361.
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