Ich fuhr von St. Goar

[68] Ich fuhr von Sankt Goar

Den grünen Rhein zu Berge;

Ein Greis im Silberhaar

War meines Nachens Ferge.


Wir plauderten nicht viel,

Die Felsen sah ich gleiten

Dahin im Wellenspiel

Und dachte vor'ger Zeiten.


Und als wir an der Pfalz

Bei Kaub vorüber waren,

Kam hellen Liederschalls

Ein Schiff zu Tal gefahren.


Ins weiße Segel schien

Der Abend, daß er glühte;

Studenten saßen drin,

Mit Laub umkränzt die Hüte.


Da ging von Hand zu Hand

Der Kelch von grünem Glaste;

Das schönste Mägdlein stand

In goldnem Haar am Maste;


Sie streute Rosen rot

Hinunter in die Wogen

Und grüßte, wie im Boot

Wir sacht vorüberzogen.[68]


Und horch, nun unterschied

Das Singen ich der andern:

Da war's mein eigen Lied,

Ich sang es einst vom Wandern;


Ich sang's vor manchem Jahr,

Berauscht vom Maienscheine,

Da ich gleich jenen war

Student zu Bonn am Rheine.


Wie seltsam traf's das Ohr

Mir jetzt aus fremdem Munde!

Ein Heimweh zuckt' empor

In meines Herzens Grunde.


Ich lauschte, bis der Klang

Zerfloß in Windesweben;

Doch sah ich drauf noch lang

Das Schifflein glänzend schweben.


Es zog dahin, dahin –

Still saß ich, rückwärts lugend;

Mir war's, als führe drin

Von dannen meine Jugend.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 68-69.
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