Frühlingsmythus

[73] Wie schauert heute durch die Lüfte

Ein allgewalt'ger Sehnsuchtshauch!

Es dringt bis in die tiefsten Klüfte

Der Sonnenstrahl durch Dunst und Rauch.


Und drunten hebt sich's ihm entgegen,

Wie er die eis'gen Schleier lüpft;

Du spürst es, wie in jungen Schlägen

Das Herz der Erd' erwachend hüpft.


Aus ihrem Busen ringt ein Fächeln

Wie leises Atmen sich hervor,

Sie schlägt mit träumerischem Lächeln

Des Wassers blaues Aug' empor.


Da geht aus uralt-dunkeln Tagen

Ein Klang durch meine Brust dahin,

Im Rätselwort verschollner Sagen

Vernehm' ich ahnungsvollen Sinn;


Und übers dampfende Gefilde

Sing' ich das Lied als Frühlingsgruß,

Wie einst vom Zauberschlaf Brynhilde

Emporgebebt vor Sigurds Kuß.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 73-74.
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