Idyll

[133] Hoch auf des Eilands schroffem Vorgebürg,

Vom himmelblauen Meer umgürtet liegt

Das Kloster, dessen offnen Bogengang

Mit weißem Glanz die Morgensonne füllt.

Doch kühl noch ist's im Garten, wo der Hauch

Der See gelind die schwarzen Riesenwipfel

Der hundertjährigen Zypressen wiegt,

Und frisch vom Tau der Nacht die Rose blüht.

Dort wandelt ernst im dunkeln Ordenskleid

Ein alter Mönch; die tiefgefurchte Stirn,

Der Zug gedämpfter Wehmut um den Mund

Verraten, daß er einst die Welt gekannt,

Und daß er erst gescheitert ihr entsagt.

Jetzt übt er treulich jede fromme Pflicht

Und wallt, der Rosen und des lichten Meers

Kaum achtend, hin, vertieft in sein Brevier.

Doch als ein schöner blauer Schmetterling

Sich ihm aufs Buch setzt, lächelt er und wagt[133]

Den leichtbeschwingten Gast nicht fortzuscheuchen

Und schaut dem Zwinkern seiner Flügel zu,

Der Zeit gedenkend, da er selbst noch froh

Geflattert durch des Lebens Sonnenschein.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 133-134.
Lizenz:
Kategorien: