15.

[151] Beim Mondesuntergange

Erglänzt wie Gold das Meer,

Schwarz blickt mit schroffem Hange

Leukadias Felsen her.


Da taucht mir tief im Sinne

Gleichwie aus Dämmerflor

Von Sapphos wilder Minne

Die alte Mär empor.


Dem Volke der Hellenen

Sang sie zum erstenmal

Die eifersücht'gen Tränen

Verlorner Liebesqual.


Noch leben jene Gluten,

Die tönend sie durchwühlt,

Bis sie in diesen Fluten

Ihr brennend Herz gekühlt.


Und oft bei Nacht dort oben,

Wenn hoch die Wolken gehn,

Das Haupt vom Kranz umwoben

Sieht sie der Schiffer stehn.


Gespenstisch weht ihr Schleier,

Und überm Wogendrang

Im Winde schwebt zur Leier

Sehnsüchtig ihr Gesang:


»Schon senkt der Mond sich trübe,

Die Mitternacht bricht ein;

Mein Herz vergeht vor Liebe,

Und weh, ich bin allein!«

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 151.
Lizenz:
Kategorien: