Eiserne Zeit

[223] Dezember 1865.


Unterm alten Eichenbaum,

Wo das Volk ihm lauscht im Kreise,

Dumpf, gleichwie aus bangem Traum,[223]

Singt der Spielmann seine Weise:

»Haltet Mut und Schwert bereit!

Eisern, eisern ist die Zeit.


Sühnung hofft' ich manches Jahr,

Und getrost zu neuen Siegen

Sah ich schon den Doppelaar

Mit dem Aar der Zollern fliegen.

Weh, der Sieg gebar den Streit,

Eisern, eisern ist die Zeit.


Dort ein Kaisertum im Ost,

Hier ein Reich vom Fels zum Meere,

Eins des andern Schirm und Trost,

Beide gleich an Macht und Ehre –

Schöner Traum, wie liegst du weit!

Eisern, eisern ist die Zeit.


Trotz im Auge, Groll im Mund

Stehn, die jüngst noch Kampfgesellen;

Ach, nicht birgt das Land am Sund

Ihres Haders tiefste Quellen.

Deutschland gilt, was sie entzweit;

Eisern, eisern ist die Zeit.


Deutschland gilt's, und ruhelos

Glimmt die Zwietracht fort der beiden,

Daß in aller Gauen Schoß,

Die da Brüder sind, sich scheiden,

Und des Hasses Saat gedeiht;

Eisern, eisern ist die Zeit.


Horch, schon läßt sich dumpf bei Nacht

Unterm Grund ein Brausen spüren,

Hoch zu Rosse wie zur Schlacht

Ziehn in Wolken die Walküren,

Angst und Schwüle weit und breit!

Eisern, eisern ist die Zeit.


Brich herein denn, Schicksalstag!

Ende diese Not im Wetter!

Unter Sturm und Donnerschlag[224]

Send' uns einen Hort und Retter!

Deutschlands Purpur liegt bereit,

Eisern, eisern ist die Zeit.«

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 223-225.
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