9.

[306] An der Bucht im Lotsenhause

Hab' ich mich zur Ruh' gelegt,

Wo der nahen See Gebrause

Wie Gesang ans Ohr mir schlägt.


Bei dem Schall der Wellenlieder

Wogt in eins, was fern und nah,

Und mir träumt, ich führe wieder

Auf der blauen Adria.


Goldfruchtdüfte der Levante

Flattern schon ins Schiff herein,

Schon aus Nebeln dämmert Zante

Übers Meer im Rosenschein.[306]


Und das Schiffsvolk summt und flötet,

Und am Mast im Abendwehn

Seh' ich dich vom Strahl gerötet,

Schottlands schlanke Tochter, stehn.


Wohl umleuchtet weit im Bogen

Uns der Wogen himmlisch Blau,

Aber blauer als die Wogen

Glänzt dein Auge, schöne Frau.


Lächelnd mir im Silberbecher

Reichst du Zyperns Traubenblut,

Und ich trink', ein sel'ger Zecher,

Wo dein süßer Mund geruht.


Und umwallt vom Lockengolde,

Drin der Seewind wühlt zum Scherz,

Scheinst du völlig mir Isolde,

Und wie Tristans schwillt mein Herz.


Töricht Herz, laß ab zu schwellen!

Halt die rasche Glut zurück!

Gaukelnd necken Wind und Wellen

Dich mit längst entschwundnem Glück.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 306-307.
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