Gela

[359] Frische Lüfte, die von Osten

Übers Meer beflügelt ziehn,

Lassen Frühlingslust mich kosten,

Ob der Sommer längst erschien.[359]


Also läßt bei reifen Jahren

Trotz der Narben im Gemüt

Gela mich ein Glück erfahren,

Wie es nur der Jugend blüht.


Süßen Tiefsinn bald im Munde,

Schalkhaft bald wie Ariel,

Weckt sie mir im Herzensgrunde

Jeglicher Empfindung Quell.


Oftmals plaudert sie ergötzlich,

Doch dazwischen zauberhaft

Sprüht's aus ihren Wimpern plötzlich

Wie ein Blitz der Leidenschaft.


Spricht sie dann: »Du bist mir teuer«,

So erbebt mir Herz und Sinn,

Und ein zart ätherisch Feuer

Strömt durch meine Adern hin.


Ach, da faßt mich wohl ein Bangen

Um des eignen Mais Verlust,

Doch sie wirft mit heißen Wangen

Stürmisch sich an meine Brust,


Lacht mich an aus Tränengüssen,

Und ihr lachend Auge spricht:

Küsse nur und laß dich küssen,

Denn ein Dichter altert nicht.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 359-360.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Spätherbstblätter
Spaetherbstblaetter
Spätherbstblätter
Spaetherbstblaetter