Siebenzehnter Auftritt

[439] Lottchen. Julchen.


LOTTCHEN. Er geht? Er untersteht sich, ihn zu rufen? Nun fängt mein Herz an zu zittern. Sie sieht Julchen. Kläglich. Meine Schwester, bist du auch da? Hast du mich noch lieb? Lottchen umarmt sie. Willst du mir die traurigste Nachricht bringen: O nein! Warum schweigst du? Warum kommt er nicht selbst?

JULCHEN. Ich bitte dich, höre auf, einen Menschen zu lieben, der ...

LOTTCHEN. Er soll schuldig sein; aber muß er gleich meiner Liebe unwürdig sein? Nein, meine liebe Schwester. Ach nein, er ist gewiß zu entschuldigen. Willst du ihn nicht verteidigen? Vergißt du schon, was er heute zu deiner Ruhe beigetragen hat? Warum sollte er mir untreu sein, da ich Vermögen habe? Warum ward er's nicht, da ich noch keines hatte?

JULCHEN. Er ward es zu der Zeit, da er in den Gedanken stund, daß ich die Erbin des Testaments wäre. Ach! liebe Schwester, wie glücklich wollt ich sein, wenn ich dich nicht hintergangen sähe!

LOTTCHEN. So ist es gewiß? Hart. Nein! sage ich.

JULCHEN. Ich habe lange mit mir gestritten. Ich habe ihn in meinem Herzen, vor meinem Bräutigam, vor seinem Vormunde und vor unserm Vater entschuldiget. Ich würde sie aus Liebe zu dir noch alle für betrogne Zeugen halten. Aber es ist nicht mehr möglich. Er selbst hat sich hier an dieser Stelle angeklagt, als du ihn nach dem empfangenen Brief verlassen hattest. Er war allein. Die Unruhe und sein Verbrechen redten aus ihm. Er hörte mich nicht kommen. O hätt' er doch ewig geschwiegen! ... Ach, meine Schwester!

LOTTCHEN. Meine Schwester, was sagst du mir? Er hat sich selbst angeklagt? Er ist untreu? Aber wie könnte ich ihn noch lieben, wenn er's wäre? Nein, ich liebe ihn, und er liebt mich gewiß. Ich habe ihm ja die größten Beweise der aufrichtigsten Neigung gegeben ... Zornig. Aber was quält ihr mich mit dem entsetzlichsten Verdachte? Was hat er denn getan? Nichts hat er getan.

JULCHEN. Er hat mich auf eine betrügerische Art der Liebe zu meinem Bräutigam entreißen und sich an seine Stelle setzen[439] wollen. Er hat meinen Vater überreden wollen, als ob ich ihn selbst liebte, und als wenn du hingegen den Herrn Damis liebtest. Er hat ihm geraten, die Verlobung noch acht Tage aufzuschieben. Er hat sogar um mich bei ihm angehalten.

LOTTCHEN. Wie? Hat er nicht noch vor wenig Augenblicken mich um mein Herz gebeten? Ihr haßt ihn und mich.

JULCHEN. Ja, da er gesehen, daß das Testament zu deinem Vorteile eingerichtet ist.

LOTTCHEN. Also richtet sich sein Herz nach dem Testamente und nicht nach meiner Liebe? Ich Betrogene! Doch es ist unbillig, ihn zu verdammen. Ich muß ihn selbst hören. Auch die edelsten Herzen sind nicht von Fehlern frei, die sie doch bald bereuen. Kläglich. Liebste Schwester, verdient er keine Vergebung? Mach ihn doch unschuldig. Ich will ihn nicht besitzen. Ich will ihn zu meiner Qual meiden. Ich will ihm die ganze Erbschaft überlassen, wenn ich nur die Zufriedenheit habe, daß er ein redliches Herz hat. O Liebe! ist das der Lohn für die Treue?


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 439-440.
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