GEHEIMES DEUTSCHLAND


[59] Reiss mich an deinen rand

Abgrund – doch wirre mich nicht!


Wo unersättliche gierde

Von dem pol bis zum gleicher

Schon jeden zoll breit bestapft hat

Mit unerbittlicher grelle

Ohne scham überblitzend

Alle poren der welt:


Wo hinter maassloser wände

Hässlichen zellen ein irrsinn

Grad erfand was schon morgen

Weitste weite vergiftet

Bis in wüsten die reitschaar

Bis in jurten den senn:


Wo nicht mehr · rauher obhut ·

Säugt in steiniger waldschlucht

Zwillingsbrüder die wölfin

Wo nicht · den riesen ernährend ·

Wilde inseln mehr grünen

Noch ein jungfrauen-land:[60]


Da in den äussersten nöten

Sannen die Untern voll sorge ·

Holten die Himmlischen gnädig

Ihr lezt geheimnis .. sie wandten

Stoffes gesetze und schufen

Neuen raum in den raum ...


Einst lag ich am südmeer

Tief-vergrämt wie der Vorfahr

Auf geplattetem fels

Als mich der Mittagschreck

Vorbrechend durchs ölgebüsch

Anstiess mit dem tierfuss:


›Kehr in die heilige heimat

Findst ursprünglichen boden

Mit dem geschärfteten aug

Schlummernder fülle schooss

Und so unbetretnes gebiet

Wie den finstersten urwald‹ ..


Fittich des sonnentraums

Streiche nun nah am grund![61]


Da hört ich von Ihm der am klippengestad

Aus klaffendem himmel im morgenschein

Ein nu lang die Olympischen sah

Worob ein solches grausen ihn schlug

Dass er zu der freunde mahl nicht mehr kam

Und sprang in die schäumenden fluten.


In der Stadt wo an pfosten und mauereck

Jed nichtig begebnis von allerwärts

Für eiler und gaffer hing angeklebt:

Versah sich keiner des grossen geschehns

Wie drohte im wanken von pflaster und bau

Unheimlichen schleichens der Dämon.


Da stand ER in winters erleuchtetem saal

Die schimmernde schulter vom leibrock verhüllt

Das feuer der wange von buschigem kranz ·

Da ging vor den blicken der blöden umhegt

Im warmen hell-duftenden frühlingswehn

Der Gott die blumigen bahnen.[62]


Der horcher der wisser von überall

Ballwerfer mit sternen in taumel und tanz

Der fänger unfangbar – hier hatte geraunt

Bekennenden munds unterm milchigen glast

Der kugel gebannt die apostelgestalt:

›Hier fass ich nicht mehr und verstumme‹


Dann aus der friedfertigen ordnung bezirk

Brach aus den fosfor-wolken der nacht

Wie rauchende erden im untergang

Volltoniges brausen des schlachtengetobs ·

Es stürmten durch dust und bröcklig geröll

Die silberhufigen rosse.


Bald traf ich Ihn der mattgoldnen gelocks

Austeilte in lächeln wohin er trat

Die heiterste ruh – von uns allen erklärt

Zum liebling des glückes bis spät er gestand

Im halt des gefährten hab er sich verzehrt –

Sein ganzes dasein ein opfer.[63]


Den liebt ich der · mein eigenstes blut ·

Den besten gesang nach dem besten sang ..

Weil einst ein kostbares gut ihm entging

Zerbrach er lässig sein lautenspiel

Geduckt die stirn für den lorbeer bestimmt

Still wandelnd zwischen den menschen.


Durch märkte und gassen des festlands hin

Wo oft ich auf wacht stand · bat ich um bescheid

Das hundertäugig allkunde Gerücht:

›Ist ähnliches je dir begegnet?‹ Worauf

Vom ungern Erstaunten die antwort kam:

›Alles – doch solches noch niemals‹.


Heb mich auf deine höh

Gipfel – doch stürze mich nicht!


Wer denn · wer von euch brüdern

Zweifelt · schrickt nicht beim mahnwort

Dass was meist ihr emporhebt

Dass was meist heut euch wert dünkt

Faules laub ist im herbstwind

Endes- und todesbereich:[64]


Nur was im schützenden schlaf

Wo noch kein taster es spürt

Lang in tiefinnerstem schacht

Weihlicher erde noch ruht –

Wunder undeutbar für heut

Geschick wird des kommenden tages.[65]

Quelle:
Stefan George: Das Neue Reich. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 9, Berlin 1928, S. 59-67.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Neue Reich
Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. 9: Das neue Reich

Buchempfehlung

Spitteler, Carl

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant

Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon