Der 13. Psalm
Wie lang, o Herr, wie lange soll dein Herze mein vergessen?

[252] 1.

Wie lang, o Herr, wie lange soll

Dein Herze mein vergessen?

Wie lange soll ich Jammers voll

Mein Brot mit Tränen essen?

Wie lange willst du nicht

Mir dein Angesicht

Zu schauen reichen dar?

Willst du denn ganz und gar

Dich nun von mir verbergen?
[252]

2.

Wie lange soll die Trauerhöhl

In Sorgen ich besitzen?

Wie lange soll mein arme Seel

In diesem Bade schwitzen?

Soll ich denn alle Tag

Immer lauter Plag,

Die Welt im Gegenteil

Nur immer lauter Heil

Nach ihrem Wunsche haben?


3.

Ach, schaue doch von deinem Saal

Und siehe, wie ich leide!

Mein Herzensweh und große Qual

Ist meiner Feinde Freude.

Herr, mein getreuer Hort,

Hör an meine Wort,

Die ich, durch Trübsal hier

Gepresset, schütt herfür;

Laß dein Gemüt erweichen!


4.

Erleuchte meiner Augen Licht,

Mit deinem Gnadenwinke,

Damit ich in dem Tode nicht

Enschlafe noch versinke!

Gib, daß die böse Rott

Nicht treib ihren Spott

Aus mir und meinem Fall,

Als hätt ich überall

Verspielet und verloren.


5.

Ich steh und hoffe steif und fest

Darauf, daß du die Deinen

Nicht endlich untergehen läßt.

Kannsts auch nicht böse meinen;

Obs gleich bisweilen scheint,[253]

Als wärst du uns feind

Und gänzlich abgewendt,

So find sich doch behend

Dein Vaterherze wieder.


6.

Mein Herze lacht vor großer Freud,

Wann ich bei mir bedenke,

Wie herzlich gern in böser Zeit

Dein Herz sich zu uns lenke.

Der Herr ist frommes Muts,

Tut uns nichts als Guts.

Das ist mein Lobgesang,

Den ihm zum Ehrendank

Ich hier und dort will singen.

Quelle:
Paul Gerhardt: Dichtungen und Schriften, München 1957, S. 252-254.
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