Parabel

[420] In einer Stadt, wo Parität

Noch in der alten Ordnung steht,

Da, wo sich nämlich Katholiken

Und Protestanten ineinander schicken

Und, wie's von Vätern war erprobt,

Jeder Gott auf seine Weise lobt,

Da lebten wir Kinder Lutheraner

Von etwas Predigt und Gesang,

Waren aber dem Kling und Klang

Der Katholiken nur zugetaner:

Denn alles war doch gar zu schön,

Bunter und lustiger anzusehn.


Dieweil nun Affe, Mensch und Kind

Zur Nachahmung geboren sind,

Erfanden wir, die Zeit zu kürzen,

Ein auserlesnes Pfaffenspiel:

Zum Chorrock, der uns wohlgefiel,

Gaben die Schwestern ihre Schürzen;

Handtücher, mit Wirkwerk schön verziert,

Wurden zur Stola travestiert;

Die Mütze mußte den Bischof zieren

Von Goldpapier mit vielen Tieren.
[420]

So zogen wir nun im Ornat

Durch Haus und Garten früh und spat

Und wiederholten ohne Schonen

Die sämtlichen heiligen Funktionen;

Doch fehlte noch das beste Stück.

Wir wußten wohl, ein prächtig Läuten

Habe hier am meisten zu bedeuten;

Und nun begünstigt' uns das Glück:

Denn auf dem Boden hing ein Strick.

Wir sind entzückt, und wie wir diesen

Zum Glockenstrang sogleich erkiesen,

Ruht er nicht einen Augenblick:

Denn wechselnd eilten wir Geschwister,

Einer ward um den andern Küster,

Ein jedes drängte sich hinzu.

Das ging nun allerliebst vonstatten,

Und weil wir keine Glocken hatten,

So sangen wir Bum Baum dazu.


Vergessen wie die ältste Sage

War der unschuld'ge Kinderscherz;

Doch grade diese letzten Tage

Fiel er mit einmal mir aufs Herz:

Da sind sie ja, nach allen Stücken,

Die neupoetischen Katholiken!
[421]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 420-423.
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