An den Mond

[53] Schwester von dem ersten Licht,

Bild der Zärtlichkeit in Trauer!

Nebel schwimmt mit Silberschauer

Um dein reizendes Gesicht;

Deines leisen Fußes Lauf

Weckt aus tagverschloßnen Höhlen

Traurig abgeschiedne Seelen,

Mich und nächt'ge Vögel auf.


Forschend übersieht dein Blick

Eine großgemeßne Weite.

Hebe mich an deine Seite!

Gib der Schwärmerei dies Glück;

Und in wollustvoller Ruh

Säh der weitverschlagne Ritter

Durch das gläserne Gegitter

Seines Mädchens Nächten zu.


Dämmrung, wo die Wollust thront,

Schwimmt um ihre runden Glieder.

Trunken sinkt mein Blick hernieder.

Was verhüllt man wohl dem Mond?

Doch was das für Wünsche sind!

Voll Begierde zu genießen,

So da droben hängen müssen;

Ei, da schieltest du dich blind.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 53.
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