Vierter Auftritt


[190] Die Vorigen. Luise.

Durch die Ankunft dieses vorzüglichen Frauenzimmers wird die Lebhaftigkeit des Gesprächs erst gemildert und sodann die Unterredung von dem Gegenstande gänzlich abgelenkt. Der Magister, der nun weiterhin kein Interesse findet, entfernt sich, und das Gespräch unter den beiden Frauenzimmern setzt sich fort, wie folgt.


GRÄFIN. Was macht mein Sohn? ich war eben im Begriff, zu ihm zu gehen.

LUISE. Er schläft recht ruhig, und ich hoffe, er wird bald wieder herumspringen und in kurzer Zeit keine Spur der Beschädigung mehr übrig sein.

GRÄFIN. Das Wetter ist gar zu übel, sonst ging ich in den Garten. Ich bin recht neugierig, zu sehen, wie alles gewachsen ist und wie der Wasserfall, wie die Brücke und die Felsenkluft sich jetzt ausnehmen.[190]

LUISE. Es ist alles vortrefflich gewachsen; die Wildnisse, die Sie angelegt haben, scheinen natürlich zu sein, sie bezaubern jeden, der sie zum erstenmal sieht, und auch mir geben sie noch immer in einer stillen Stunde einen angenehmen Aufenthalt. Doch muß ich gestehen, daß ich in der Baumschule unter den fruchtbaren Bäumen lieber bin. Der Gedanke des Nutzens führt mich aus mir selbst heraus und gibt mir eine Fröhlichkeit, die ich sonst nicht empfinde. Ich kann säen, pfropfen, okulieren; und wenngleich mein Auge keine malerische Wirkung empfindet, so ist mir doch der Gedanke von Früchten höchst reizend, die einmal und wohl bald jemanden erquicken werden.

GRÄFIN. Ich schätze Ihre guten häuslichen Gesinnungen.

LUISE. Die einzigen, die sich für den Stand schicken, der ans Notwendige zu denken hat, dem wenig Willkür erlaubt ist.

GRÄFIN. Haben Sie den Antrag überlegt, den ich Ihnen in meinem letzten Briefe tat? können Sie sich entschließen, meiner Tochter Ihre Zeit zu widmen, als Freundin, als Gesellschafterin mit ihr zu leben?

LUISE. Ich habe kein Bedenken, gnädige Gräfin.

GRÄFIN. Ich hatte viel Bedenken, Ihnen den Antrag zu tun. Die wilde und unbändige Gemütsart meiner Tochter macht ihren Umgang unangenehm und oft sehr verdrießlich. So leicht mein Sohn zu behandeln ist, so schwer ist es meine Tochter.

LUISE. Dagegen ist ihr edles Herz, ihre Art, zu handeln, aller Achtung wert. Sie ist heftig, aber bald zu besänftigen, unbillig, aber gerecht, stolz, aber menschlich.

GRÄFIN. Hierin ist sie ihrem Vater – –

LUISE. Äußerst ähnlich. Auf eine sehr sonderbare Weise scheint die Natur in der Tochter den rauhen Vater, in dem Sohne die zärtliche Mutter wieder hervorgebracht zu haben.

GRÄFIN. Versuchen Sie, Luise, dieses wilde, aber edle Feuer zu dämpfen. Sie besitzen alle Tugenden, die ihr fehlen. In Ihrer Nähe, durch Ihr Beispiel wird sie gereizt werden, sich nach einem Muster zu bilden, das so liebenswürdig ist.[191]

LUISE. Sie beschämen mich, gnädige Gräfin. Ich kenne an mir keine Tugend als die, daß ich mich bisher in mein Schicksal zu finden wußte, und selbst diese hat kein Verdienst mehr, seitdem Sie, gnädige Gräfin, so viel getan haben, um es zu erleichtern. Sie tun jetzt noch mehr, da Sie mich näher an sich heranziehen. Nach dem Tode meines Vaters und dem Umsturz meiner Familie habe ich vieles entbehren lernen, nur nicht gesitteten und verständigen Umgang.

GRÄFIN. Bei Ihrem Onkel müssen Sie von dieser Seite viel ausstehen.

LUISE. Es ist ein guter Mann; aber seine Einbildung macht ihn oft höchst albern, besonders seit der letzten Zeit, da jeder ein Recht zu haben glaubt, nicht nur über die großen Welthändel zu reden, sondern auch darin mitzuwirken.

GRÄFIN. Es geht ihm wie sehr vielen.

LUISE. Ich habe manchmal meine Bemerkungen im stillen darüber gemacht. Wer die Menschen nicht kennte, würde sie jetzt leicht kennen lernen. So viele nehmen sich der Sache der Freiheit, der allgemeinen Gleichheit an, nur um für sich eine Ausnahme zu machen, nur um zu wirken, es sei, auf welche Art es wolle.

GRÄFIN. Sie hätten nichts mehr erfahren können, und wenn Sie mit mir in Paris gewesen wären.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 190-192.
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