Vierter Auftritt


[221] Die Vorigen. Eugenie, auf zusammengeflochtenen Ästen für tot hereingetragen. Herzog. Wundarzt. Gefolge.


HERZOG zum Wundarzt.

Wenn deine Kunst nur irgend was vermag,

Erfahrner Mann, dem unsers Königs Leben,

Das unschätzbare Gut, vertraut ist, laß

Ihr helles Auge sich noch einmal öffnen,

Daß Hoffnung mir in diesem Blick erscheine!

Daß aus der Tiefe meines Jammers ich

Nur Augenblicke noch gerettet werde!

Vermagst du dann nichts weiter, kannst du sie

Nur wenige Minuten mir erhalten:

So laßt mich eilen, vor ihr hinzusterben,

Daß ich im Augenblick des Todes noch

Getröstet rufe: Meine Tochter lebt!

KÖNIG.

Entferne dich, mein Oheim! daß ich hier

Die Vaterpflichten treulich übernehme.

Nichts unversucht läßt dieser wackre Mann.

Gewissenhaft, als läg' ich selber hier,

Wird er um deine Tochter sich bemühen.

HERZOG.

Sie regt sich!

KÖNIG.

Ist es wahr?

GRAF.

Sie regt sich!

HERZOG.

Starr

Blickt sie zum Himmel, blickt verirrt umher.

Sie lebt! sie lebt!

KÖNIG ein wenig zurücktretend.

Verdoppelt eure Sorge!

HERZOG.

Sie lebt! sie lebt! Sie hat dem Tage wieder

Ihr Aug' eröffnet. Ja! sie wird nun bald[221]

Auch ihren Vater, ihre Freunde kennen.

Nicht so umher, mein liebes Kind, verschwende

Die Blicke staunend, ungewiß; auf mich,

Auf deinen Vater wende sie zuerst.

Erkenne mich, laß meine Stimme dir

Zuerst das Ohr berühren, da du uns

Aus jener stummen Nacht zurückekehrst.

EUGENIE die indes nach und nach zu sich gekommen ist und sich aufgerichtet hat.

Was ist aus uns geworden?

HERZOG.

Kenne mich

Nur erst! – Erkennst du mich?

EUGENIE.

Mein Vater!

HERZOG.

Ja!

Dein Vater, den mit diesen holden Tönen

Du aus den Armen der Verzweiflung rettest.

EUGENIE.

Wer bracht' uns unter diese Bäume?

HERZOG dem der Wundarzt ein weißes Tuch gegeben.

Bleib

Gelassen, meine Tochter! Diese Stärkung,

Nimm sie mit Ruhe, mit Vertrauen an!

EUGENIE sie nimmt dem Vater das Tuch ab, das er ihr vorgehalten und verbirgt ihr Gesicht darin. Dann steht sie schnell auf, indem sie das Tuch vom Gesicht nimmt.

Da bin ich wieder! – Ja, nun weiß ich alles.

Dort oben hielt ich, dort vermaß ich mich

Herab zu reiten, grad herab. Verzeih!

Nicht wahr, ich bin gestürzt? Vergibst du mir's?

Für tot hob man mich auf? Mein guter Vater!

Und wirst du die Verwegne lieben können,

Die solche bittre Schmerzen dir gebracht?

HERZOG.

Zu wissen glaubt' ich, welch ein edler Schatz

In dir, o Tochter, mir beschieden ist;

Nun steigert mir gefürchteter Verlust

Des Glücks Empfindung ins Unendliche.

KÖNIG der sich bisher im Grunde mit dem Wundarzt und dem Grafen unterhalten, zu dem letzten.

Entferne jedermann! ich will sie sprechen.[222]


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 221-223.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die natürliche Tochter
Goethes Werke: Band III. Götz von Berlichingen. Egmont. Clavigo. Stella. Die Geschwister. Iphigenie auf Tauris. Torquato Tasso. Die natürliche Tochter

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon