Fünfter Brief

[233] Die Heiterkeit Ihrer Antwort bürgt mir, daß Sie mein Brief in der besten Stimmung angetroffen und Ihnen diese herrliche Gabe des Himmels nicht verkümmert hat; auch mir waren Ihre Blätter ein angenehmes Geschenk in einem angenehmen Augenblick.

Wenn das Glück viel öfter allein und viel seltner in Gesellschaft kommt als das Unglück, so habe ich diesmal eine Ausnahme von der Regel erfahren; erwünschter und bedeutender hätten mir Ihre Blätter nicht kommen können, und Ihre Anmerkungen zu meinen wunderlichen Klassifikationen hätten nicht leicht geschwinder Frucht gebracht, als eben in dem Augenblick, da sie, wie ein schon keimender Same, in ein fruchtbares Erdreich fielen. Lassen Sie mich also die Geschichte des gestrigen Tages erzählen, damit Sie erfahren, was für ein neuer Stern mir aufging, mit welchem das Gestirn Ihres Briefs in eine so glückliche Konjunktion tritt.

Gestern meldete sich bei uns ein Fremder an, dessen Name mir nicht unbekannt, der mir als ein guter Kenner gerühmt war. Ich freute mich bei seinem Eintritt, machte ihn mit meinen Besitzungen im allgemeinen bekannt, ließ ihn wählen und zeigte vor. Ich bemerkte bald ein sehr gebildetes Auge für Kunstwerke, besonders für die Geschichte derselben. Er erkannte die Meister sowie ihre Schüler, bei zweifelhaften Bildern wußte er die Ursachen seines Zweifels sehr gut anzugeben, und seine Unterhaltung erfreute mich sehr.

Vielleicht wäre ich hingerissen worden, mich gegen ihn lebhafter zu äußern, wenn nicht der Vorsatz, meinen Gast auszuhorchen, mir gleich beim Eintritt eine ruhigere Stimmung gegeben hätte. Viele seiner Urteile trafen mit den meinigen zusammen, bei manchen mußte ich sein scharfes und geübtes Auge bewundern. Das erste, was mir an ihm besonders auffiel, war ein entschiedener Haß gegen alle[233] Manieristen. Es tat mir für einige meiner Lieblingsbilder leid, und ich war um desto mehr aufgefordert, zu untersuchen, aus welcher Quelle eine solche Abneigung wohl fließen möchte.

Mein Gast war spät gekommen, und die Dämmerung verhinderte uns, weiter zu sehen; ich zog ihn zu einer kleinen Kollation, zu der unser Philosoph eingeladen war, denn dieser hat sich mir seit einiger Zeit genähert; wie das kommt, muß ich Ihnen im Vorbeigehen sagen.

Glücklicherweise hat der Himmel, der die Eigenheiten der Männer voraussah, ein Mittel bereitet, das sie ebensooft verbindet als entzweit: mein Philosoph ward von Juliens Anmut, die er als Kind verlassen hatte, getroffen. Eine richtige Empfindung legte ihm auf, den Oheim sowie die Nichte zu unterhalten, und unser Gespräch verweilt nun gewöhnlich bei den Neigungen, bei den Leidenschaften des Menschen.

Ehe wir noch alle beisammen waren, ergriff ich die Gelegenheit, meine Manieristen gegen den Fremden in Schutz zu nehmen. Ich sprach von ihrem schönen Naturell, von der glücklichen Übung ihrer Hand und ihrer Anmut, doch setzte ich, um mich zu verwahren, hinzu: »Dies will ich alles nur sagen, um eine gewisse Duldung zu entschuldigen, wenn ich gleich zugebe, daß die hohe Schönheit, das höchste Prinzip und der höchste Zweck der Kunst, freilich noch etwas ganz anders sei.«

Mit einem Lächeln, das mir nicht ganz gefiel, weil es eine besondere Gefälligkeit gegen sich selbst und eine Art Mitleiden gegen mich auszudrücken schien, erwiderte er darauf: »Sie sind denn also auch den hergebrachten Grundsätzen getreu, daß Schönheit das letzte Ziel der Kunst sei?«

»Mir ist kein höheres bekannt«, versetzte ich darauf.

»Können Sie mir sagen, was Schönheit sei?« rief er aus.

»Vielleicht nicht!« versetzte ich, »aber ich kann es Ihnen zeigen. Lassen Sie uns, auch allenfalls noch bei Licht, einen sehr schönen Gipsabguß des Apoll, einen sehr schönen[234] Marmorkopf des Bacchus, den ich besitze, noch geschwind anblicken, und wir wollen sehen, ob wir uns nicht vereinigen können, daß sie schön seien.«

»Ehe wir an diese Untersuchung gehen«, versetzte er, »möchte es wohl nötig sein, daß wir das Wort Schönheit und seinen Ursprung näher betrachten. Schönheit kommt von Schein, sie ist ein Schein und kann als das höchste Ziel der Kunst nicht gelten, das vollkommen Charakteristische nur verdient schön genannt zu werden, ohne Charakter gibt es keine Schönheit.«

Betroffen über diese Art, sich auszudrücken, versetzte ich: »Zugegeben, aber nicht eingestanden, daß das Schöne charakteristisch sein müsse, so folgt doch nur daraus, daß das Charakteristische dem Schönen allenfalls zugrunde liege, keineswegs aber, daß es eins mit dem Charakteristischen sei. Der Charakter verhält sich zum Schönen wie das Skelett zum lebendigen Menschen. Niemand wird leugnen, daß der Knochenbau zum Grunde aller hochorganisierten Gestalt liege, er begründet, er bestimmt die Gestalt, er ist aber nicht die Gestalt selbst, und noch weniger bewirkt er die letzte Erscheinung, die wir, als Inbegriff und Hülle eines organischen Ganzen, Schönheit nennen.«

»Auf Gleichnisse kann ich mich nicht einlassen«, versetzte der Gast, »und aus Ihren Worten selbst erhellet, daß die Schönheit etwas Unbegreifliches oder die Wirkung von etwas Unbegreiflichem sei. Was man nicht begreifen kann, das ist nicht, was man mit Worten nicht klarmachen kann, das ist Unsinn.«

Ich: Können Sie denn die Wirkung, die ein farbiger Körper auf Ihr Auge macht, mit Worten klar ausdrücken?

Er: Das ist wieder eine Instanz, auf die ich mich nicht ein lassen kann. Genug, was Charakter sei, läßt sich nachweisen. Sie finden die Schönheit nie ohne Charakter, denn sonst würde sie leer und unbedeutend sein. Alles Schöne der Alten ist bloß charakteristisch, und bloß aus dieser Eigentümlichkeit entsteht die Schönheit.[235]

Unser Philosoph war gekommen und hatte sich mit den Nichten unterhalten; als er uns eifrig sprechen hörte, trat er hinzu, und mein Gast, durch die Gegenwart eines neuen Zuhörers gleichsam angefeuert, fuhr fort:

»Das ist eben das Unglück, wenn gute Köpfe, wenn Leute von Verdienst solche falsche Grundsätze, die nur einen Schein von Wahrheit haben, immer allgemeiner machen, niemand spricht sie lieber nach, als wer den Gegenstand nicht kennt und versteht. So hat uns Lessing den Grundsatz aufgebunden, daß die Alten nur das Schöne gebildet, so hat uns Winckelmann mit der stillen Größe, der Einfalt und Ruhe eingeschläfert, anstatt daß die Kunst der Alten unter allen möglichen Formen erscheint; aber die Herren verweilen nur bei Jupiter und Juno, bei den Genien und Grazien und verhehlen die unedlen Körper und Schädel der Barbaren, die struppichten Haare, den schmutzigen Bart, die dürren Knochen, die runzliche Haut des entstellten Alters, die vorliegenden Adern und die schlappen Brüste.«

»Um Gottes willen !« rief ich aus, »gibt es denn aus der guten Zeit der alten Kunst selbständige Kunstwerke, die solche abscheuliche Gegenstände vollendet darstellen? oder sind es nicht vielmehr untergeordnete Werke, Werke der Gelegenheit, Werke der Kunst, die sich nach äußern Absichten bequemen muß, die im Sinken ist?«

Er: Ich gebe Ihnen ein Verzeichnis, und Sie mögen selbst untersuchen und urteilen. Aber daß Laokoon, daß Niobe, daß Dirke mit ihren Stiefsöhnen selbständige Kunstwerke sind, werden Sie mir nicht leugnen. Treten Sie vor den Laokoon, und sehen Sie die Natur in voller Empörung und Verzweiflung, den letzten erstickenden Schmerz, krampfartige Spannung, wütende Zuckung, die Wirkung eines ätzenden Gifts, heftige Gärung, stockenden Umlauf, erstickende Pressung und paralytischen Tod.

Der Philosoph schien mich mit Verwunderung anzusehen,[236] und ich versetzte: »Man schaudert, man erstarrt nur vor der bloßen Beschreibung. Fürwahr, wenn es sich mit der Gruppe Laokoons so verhält, was will aus der Anmut werden, die man sogar darin sowie in jedem echten Kunstwerke finden will! Doch ich will mich darein nicht mischen, machen Sie das mit den Verfassern der ›Propyläen‹ aus, welche ganz der entgegengesetzten Meinung sind.«

»Das wird sich schon geben«, versetzte mein Gast, »das ganze Altertum spricht mir zu; denn wo wütet Schrecken und Tod entsetzlicher als bei den Darstellungen der Niobe?«

Ich erschrak über eine solche Assertion, denn ich hatte noch kurz vorher freilich nur die Kupfer im Fabroni gesehen, den ich sogleich herbeiholte und aufschlug. »Ich finde keine Spur vom wütenden Schrecken des Todes, vielmehr in den Statuen die höchste Subordination der tragischen Situation unter die höchsten Ideen von Würde, Hoheit, Schönheit, gemäßigtem Betragen. Ich sehe hier überall den Kunstzweck, die Glieder zierlich und anmutig erscheinen zu lassen. Der Charakter erscheint nur noch in den allgemeinsten Linien, welche durch die Werke, gleichsam wie ein geistiger Knochenbau, durchgezogen sind.«

Er: Lassen Sie uns zu den Basreliefen übergehen, die wir am Ende des Buches finden. –

Wir schlugen sie auf.

Ich: Von allem Entsetzlichen, aufrichtig gesagt, sehe ich auch hier nicht das mindeste. Wo wüten Schrecken und Tod? Hier sehe ich nur Figuren mit solcher Kunst durcheinander bewegt, so glücklich gegeneinander gestellt oder gestreckt, daß sie, indem sie mich an ein trauriges Schicksal erinnern, mir zugleich die angenehmste Empfindung geben. Alles Charakteristische ist gemäßigt, alles natürlich Gewaltsame ist aufgehoben, und so möchte ich sagen: das Charakteristische liegt zum Grunde, auf ihm ruhen Einfalt und Würde, das höchste Ziel der Kunst ist Schönheit und ihre letzte Wirkung Gefühl der Anmut.[237]

Das Anmutige, das gewiß nicht unmittelbar mit dem Charakteristischen verbunden werden kann, fällt besonders bei diesem Sarkophagen in die Augen. Sind die toten Töchter und Söhne der Niobe nicht hier als Zieraten geordnet? Es ist die höchste Schwelgerei der Kunst! sie verziert nicht mehr mit Blumen und Früchten, sie verziert mit menschlichen Leichnamen, mit dem größten Elend, das einem Vater, das einer Mutter begegnen kann, eine blühende Familie auf einmal vor sich hingerafft zu sehen. Ja, der schöne Genius, der mit gesenkter Fackel bei dem Grabe steht, hat hier bei dem erfindenden, bei dem arbeitenden Künstler gestanden und ihm zu seiner irdischen Größe eine himmlische Anmut zugehaucht.

Mein Gast sah mich lächelnd an und zuckte die Achseln. »Leider«, sagte er, als ich geendigt hatte, »leider sehe ich wohl, daß wir nicht einig werden können. Wie schade, daß ein Mann von Ihren Kenntnissen, von Ihrem Geist nicht einsehen will, daß das alles nur leere Worte sind und daß Schönheit und Ideal einem Manne von Verstand als ein Traum erscheinen muß, den er freilich nicht in die Wirklichkeit versetzen mag, sondern vielmehr widerstrebend findet.«

Mein Philosoph schien während des letzten Teiles unsers Gespräches etwas unruhig zu werden, so gelassen und gleichgültig er den Anfang anzuhören schien, er rückte den Stuhl, bewegte ein paarmal die Lippen und fing, als es eine Pause gab, zu reden an.

Doch was er vorbrachte, mag er Ihnen selbst überliefern! Er ist diesen Morgen beizeiten wieder da, denn seine Teilnahme an dem gestrigen Gespräch hat auf einmal die Schalen unserer wechselseitigen Entfernung abgestoßen, und ein paar hübsche Pflanzen im Garten der Freundschaft zeigen sich.

Diesen Morgen geht noch eine Post, womit ich die gegenwärtigen Blätter abschicke, über denen ich schon einige[238] Patienten versäumt habe, weshalb ich Verzeihung vom Apoll, insofern er sich um Ärzte und Künstler zugleich bekümmert, erwarten darf.

Diesen Nachmittag haben wir noch sonderbare Szenen zu erwarten. Unser Charakteristiker kommt wieder, zugleich haben sich noch ein halb Dutzend Fremde anmelden lassen, die Jahrszeit ist reizend und alles in Bewegung.

Gegen diese Gesellschaft haben wir einen Bund gemacht, Julie, der Philosoph und ich; es soll uns keine von ihren Eigenheiten entgehen.

Doch hören Sie erst den Schluß unserer gestrigen Disputation und empfangen nur noch einen lebhaftern Gruß von

Ihrem

zwar diesmal eilfertigen, doch immer

beständigen, treuen Freund und Diener.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe.Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 19, Berlin 1960 ff, S. 233-239.
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