1794

[22] Von diesem Jahre durft ich hoffen, es werde mich gegen die vorigen, in welchen ich viel entbehrt und gelitten, durch mancherlei Tätigkeit zerstreuen, durch mancherlei Freundlichkeit erquicken; und ich bedurfte dessen gar sehr.

Denn persönlicher Zeuge höchst bedeutender und die Welt bedrohender Umwendungen gewesen zu sein, das größte Unglück, was Bürgern, Bauern und Soldaten begegnen kann, mit Augen gesehen, ja solche Zustände geteilt zu haben gab die traurigste Stimmung.

Doch wie sollte man sich erholen, da uns die ungeheuern Bewegungen innerhalb Frankreichs jeden Tag beängstigten und bedrohten. Im vorigen Jahre hatten wir den Tod des Königs und der Königin bedauert, in diesem das gleiche Schicksal der Prinzeß Elisabeth. Robespierres Greueltaten hatten die Welt erschreckt, und der Sinn für Freude war so verloren, daß niemand über dessen Untergang zu jauchzen sich getraute; am wenigsten, da die äußern Kriegstaten der im Innersten aufgeregten Nation unaufhaltsam vorwärtsdrängten, ringsumher die Welt erschütterten und alles Bestehende mit Umschwung, wo nicht mit Untergang bedrohten.

Indes lebte man doch in einer traumartigen, schüchternen[22] Sicherheit im Norden und beschwichtigte die Furcht durch eine halbgegrundete Hoffnung auf das gute Verhältnis Preußens zu den Franzosen.

Bei großen Begebenheiten, ja selbst in der äußersten Bedrängnis kann der Mensch nicht unterlassen, mit Waffen des Wortes und der Schrift zu kämpfen. So machte ein deutsches Heft großes Aufsehen: »Aufruf an alle Völker Europens«; es sprach den siedenden Haß gegen die Franzosen aus, in dem Augenblicke, da sich die ungebändigten Feinde mächtig gegen unsere Grenzen näherten. Um aber den Wechselstreit der Meinungen aufs höchste zu treiben, schlichen französische revolutionäre Lieder im stillen umher; sie gelangten auch zu mir durch Personen, denen man es nicht zugetraut hätte.

Der innere Zwiespalt der Deutschen in Absicht auf Verteidigung und Gegenwirkung zeigte sich offenbar im Gange der politischen Anstalten. Preußen, ohne sich über die Absicht näher auszusprechen, verlangte Verpflegung für seine Truppen; es erschien ein Aufgebot, niemand aber wollte geben noch sich gehörig waffnen und vorsehen. In Regensburg kam eine Union der Fürsten gegen Preußen zur Sprache, begünstigt von derjenigen Seite, welche Vergrößerungsabsichten in der einseitigen Friedensverhandlung vermutete. Minister von Hardenberg versuchte dagegen, die Reichsstände zugunsten seines Königs zu erregen, und man schwankte, in Hoffnung, einen Halbfreund der Franzosen zu gewinnen, auch wohl auf diese Seite. Wer sich indessen von den Zuständen Rechenschaft gab, mochte wohl im Innern sich gestehen, daß man sich mit eiteln Hoffnungen zwischen Furcht und Sorge nur hinhalte.

Die Österreicher zogen sich über den Rhein herüber, die Engländer in die Niederlande, der Feind nahm einen größern Raum ein und erwarb reichlichere Mittel. Die Nachrichten von Flüchtigen allerorten vermehrten sich, und es war keine Familie, kein Freundeskreis, der nicht in seinen Gliedern wäre beschädigt worden. Man sendete mir aus dem südlichen und westlichen Deutschland Schatzkästchen, Spartaler, Kostbarkeiten mancher Art zum treuen Aufbewahren, die mich als[23] Zeugnisse großen Zutrauens erfreuten, während sie mir als Beweise einer beängstigten Nation traurig vor Augen standen.

Und so ruckten denn auch, insofern ich in Frankfurt angesessen war, die Besorglichkeiten immer näher und näher. Der schöne bürgerliche Besitz, dessen meine Mutter seit dem Ableben meines Vaters sich erfreute, ward ihr schon seit dem früheren Anfang der Feindseligkeiten zur Last, ohne daß sie sich es zu bekennen getraute, doch hatte ich bei meinem vorjährigen Besuch sie über ihren Zustand aufgeklärt und auf gemuntert, sich solcher Bürde zu entledigen. Aber gerade in dieser Zeit war unrätlich zu tun, was man für notwendig hielt.

Ein bei unsern Lebzeiten neuerbautes, bürgerlich bequemes und anständiges Haus, ein wohlversorgter Keller, Hausgerät aller Art und der Zeit nach von gutem Geschmack, Büchersammlungen, Gemälde, Kupferstiche und Landkarten, Altertümer, kleine Kunstwerke und Kuriositäten, gar manches Merkwürdige, das mein Vater aus Liebhaberei und Kenntnis bei guter Gelegenheit um sich versammelt hatte: es stand alles da und noch beisammen, es griff durch Ort und Stellung gar bequem und nutzhaft ineinander und hatte zusammen nur eigentlich seinen herkömmlichen Wert; dachte man sich, daß es sollte verteilt und zerstreut werden, so mußte man fürchten, es verschleudert und verloren zu sehen.

Auch merkte man bald, indem man sich mit Freunden beriet, mit Mäklern unterhandelte, daß in der jetzigen Zeit ein jeder Verkauf, selbst ein unvorteilhafter, sich verspäten müsse. Doch der Entschluß war einmal gefaßt, und die Aussicht auf eine lebenslängliche Miete in einem schön gelegenen, obgleich erst neu zu erbauenden Hause gab der Einbildungskraft meiner guten Mutter eine heitere Stimmung, die ihr manches Unangenehme der Gegenwart übertragen half.

Schwankende Gerüchte vom An- und Eindringen der Feinde verbreiteten schreckenvolle Unsicherheit. Handelsleute schafften ihre Waren fort, mehrere das beweglich Kostbare, und so wurden auch viele Personen aufgeregt, an sich selbst zu denken. Die Unbequemlichkeit einer Auswanderung und[24] Ortsveränderung stritt mit der Furcht vor einer feindlichen Behandlung; auch ward mein Schwager Schlosser in diesem Strudel mit fortgerissen. Mehrmals bot ich meiner Mutter einen ruhigen Aufenthalt bei mir an, aber sie fühlte keine Sorge für ihre eigene Persönlichkeit; sie bestärkte sich in ihrem alttestamentlichen Glauben und, durch einige zur rechten Zeit ihr begegnende Stellen aus den Psalmen und Propheten, in der Neigung zur Vaterstadt, mit der sie ganz eigentlich zusammengewachsen war; weshalb sie denn auch nicht einmal einen Besuch zu mir unternehmen wollte.

Sie hatte ihr Bleiben an Ort und Stelle entschieden ausgesprochen, als Frau von Laroche sich bei Wieland anmeldete und ihn dadurch in die größte Verlegenheit setzte. Hier waren wir nun in dem Fall, ihm und uns einen Freundschaftsdienst zu erweisen. Angst und Sorge hatten wir schon genug, dazu aber noch obendrein die Wehklage zu erdulden schien ganz unmöglich. Gewandt in solchen Dingen, wußte meine Mutter, selbst so vieles ertragend, auch ihre Freundin zu beschwichtigen und sich dadurch unsern größten Dank zu verdienen.

Sömmerring mit seiner trefflichen Gattin hielt es in Frankfurt aus, die fortwährende Unruhe zu ertragen. Jacobi war aus Pempelfort nach Wandsbek geflüchtet, die Seinigen hatten andere Orte der Sicherheit gesucht. Max Jacobi war in meiner Nähe als der Medizin Beflissener in Jena.

Das Theater, wenn es mich auch nicht ergötzte, unterhielt mich doch in fortwährender Beschäftigung; ich betrachtete es als eine Lehranstalt zur Kunst mit Heiterkeit, ja als ein Symbol des Welt- und Geschäftslebens, wo es auch nicht immer sanft hergeht, und übertrug, was es Unerfreuliches haben mochte.

Schon zu Anfang des Jahres konnte »Die Zauberflöte« gegeben werden, bald darauf »Richard Löwenherz«, und dies wollte zu jener Zeit, unter den gegebenen Umständen schon etwas heißen. Dann kamen einige bedeutende Ifflandische Schauspiele an die Reihe, und unser Personal lernte sich immer besser und reiner in diese Vorträge finden. Das Repertorium[25] war schon ansehnlich, daher denn kleinere Stücke, wenn sie sich auch nicht hielten, immer einigemal als Neuigkeit gelten konnten. Die Schauspielerin Beck, welche in diesem Jahre antrat, füllte das in Ifflandischen und Kotzebueschen Stücken wohlbedachte Fach gutmütiger und bösartiger Mütter, Schwestern, Tanten und Schließerinnen ganz vollkommen aus. Vohs hatte die höchst anmutige, zur Gurli geschaffene Porth geheiratet, und es blieb in dieser mittlern Region wenig zu wünschen übrig. Die Gesellschaft spielte den Sommer über einige Monate in Lauchstädt, daher man wie immer den doppelten Vorteil zog, daß eingelernte Stücke fortgeübt wurden, ohne dem weimarischen Publikum verdrießlich zu fallen.

Nunmehr gegen Jena und die dortigen Lehrbühnen die Aufmerksamkeit lenkend, erwähne ich folgendes:

Nach Reinholds Abgang, der mit Recht als ein großer Verlust für die Akademie erschien, war mit Kühnheit, ja Verwegenheit, an seine Stelle Fichte berufen worden, der in seinen Schriften sich mit Großheit, aber vielleicht nicht ganz gehörig über die wichtigsten Sitten- und Staatsgegenstände erklärt hatte. Es war eine der tüchtigsten Persönlichkeiten, die man je gesehen, und an seinen Gesinnungen in höherm Betracht nichts auszusetzen; aber wie hätte er mit der Welt, die er als seinen erschaffenen Besitz betrachtete, gleichen Schritt halten sollen?

Da man ihm die Stunden, die er zu öffentlichen Vorlesungen benutzen wollte, an Werkeltagen verkümmert hatte, so unternahm er sonntags Vorlesungen, deren Einleitung Hindernisse fand. Kleine und größere daraus entspringende Widerwärtigkeiten waren kaum, nicht ohne Unbequemlichkeit der obern Behörden, getuscht und geschlichtet, als uns dessen Äußerungen über Gott und göttliche Dinge, über die man freilich besser ein tiefes Stillschweigen beobachtet, von außen beschwerende Anregungen zuzogen. In Kursachsen wollte man von gewissen Stellen der Fichteschen Zeitschrift nicht das Beste denken, und freilich hatte man alle Mühe, dasjenige, was in Worten etwas stark verfaßt war, durch andere Worte leidlich[26] auszulegen, zu mildern und, wo nicht geltend, doch verzeihlich zu machen.

Professor Göttling, der nach einer freisinnigen Bildung durch wissenschaftliche Reisen unter die allerersten zu zählen ist, die den allerdings hohen Begriff der neuern französischen Chemie in sich aufnahmen, trat mit der Entdeckung hervor, daß Phosphor auch in Stickluft brenne. Die deshalb entstehenden Hin – und Widerversuche beschäftigten uns eine Zeitlang.

Geheimerat Voigt, ein getreuer Mitarbeiter auch im mineralogischen Felde, kam von Karlsbad zurück und brachte sehr schöne Tungsteine, teils in größeren Massen, teils deutlich kristallisiert, womit wir späterhin, als dergleichen seltener vorkamen, gar manchen Liebhaber erfreuen konnten.

Alexander von Humboldt, längst erwartet, von Bayreuth ankommend, nötigte uns ins Allgemeinere der Naturwissenschaft. Sein älterer Bruder, gleichfalls in Jena gegenwärtig, ein klares Interesse nach allen Seiten hin richtend, teilte Streben, Forschen und Unterricht.

Zu bemerken ist, daß Hofrat Loder eben die Bänderlehre las, den höchst wichtigen Teil der Anatomie: denn was vermittelt wohl Muskeln und Knochen als die Bänder? Und doch ward durch eine besondere Verrücktheit der medizinischen Jugend gerade dieser Teil vernachlässigt. Wir Genannten, mit Freund Meyern, wandelten des Morgens im tiefsten Schnee, um in einem fast leeren anatomischen Auditorium diese wichtige Verknüpfung aufs deutlichste nach den genauesten Präparaten vorgetragen zu sehen.

Der treffliche, immerfort tätige, selbst die kleinsten Nachhülfen seines Bestrebens nicht verschmähende Batsch ward in diesem Jahre in einen mäßigen Teil des obern Fürstengartens zu Jena eingesetzt. Da aber ein dort angestellter, auf Nutzung angewiesener Hofgärtner im Hauptbesitz blieb, so gab es manche Unannehmlichkeiten, welche zu beseitigen man diesmal nur Plane für die Zukunft machen konnte.

Auch in diesem Jahre, gleichsam zu guter Vorbedeutung, ward die Nachbarschaft des gedachten Gartens heiterer und[27] freundlicher. Ein Teil der Stadtmauer war eingefallen, und um die Kosten der Wiederherstellung zu vermeiden, beschloß man die Ausfüllung des Grabens an dieser Stelle; dann sollte die gleiche Operation sich auf den übrigen Teil nach und nach erstrecken.

Gegen die großen, immer gesteigerten Forderungen der Chromatik fühlte ich mehr und mehr meine Unzulänglichkeit. Ich ließ daher nicht ab, fortwährend Gemütsfreunde heranzuziehen. Mit Schlossern gelang es mir nicht; denn selbst in den friedlichsten Zeiten würde er diesem Geschäft seine Aufmerksamkeit nicht zugewendet haben. Der sittliche Teil des menschlichen Wesens unterlag seinen Betrachtungen, und von dem Innern zu dem Äußern überzugehen ist schwerer, als man denkt. Sömmerring dagegen setzte seine Teilnahme durch alle die verworrenen Schicksale fort. Geistreich war sein Eingreifen, fördernd selbst sein Widerspruch, und wenn ich auf seine Mitteilungen recht aufmerkte, so sah ich immer weiter.

Von allen Unbilden dieses Jahres nahm die Natur ihrer Gewohnheit gemäß nicht die geringste Kenntnis. Alle Feldfrüchte gediehen herrlich, alles reifte einen Monat früher, alles Obst gelangte zur Vollkommenheit, Aprikosen und Pfirschen, Melonen und auch Kastanien boten sich dem Liebhaber reif und schmackhaft dar, und selbst in der Reihe vortrefflicher Weinjahre finden wir 1794 mit aufgezählt.

Von literarischen Arbeiten zu reden, so war der »Reineke Fuchs« nunmehr abgedruckt; allein die Unbilden, die aus Versendung der Freiexemplare sich immer hervortun, blieben auch diesmal nicht aus. So verdarb eine Zufälligkeit mir die frische Teilnahme meiner gothaischen Gönner und Freunde. Herzog Ernst hatte mir verschiedene physikalische Instrumente freundlichst geborgt, bei deren Rücksendung ich die Exemplare des Scherzgedichtes beipackte, ohne derselben in meinem Briefe zu erwähnen, ich weiß nicht, ob aus Übereilung oder eine Überraschung beabsichtigend. Genug, der mit solchen Geschäften Beauftragte des Fürsten war abwesend, und die Kiste blieb lange Zeit unausgepackt; ich aber, eine teilnehmende[28] Erwiderung so werter und sonst so pünktlicher Freunde mehrere Wochen entbehrend, machte mir tausend Grillen, bis endlich nach Eröffnung der Kiste nur Entschuldigungen, Anklagen, Bedauernisse, wiederholt ausgedrückt, mir statt einer heitern Aufnahme unglücklicherweise zuteil wurden.

Von der beurteilenden Seite aber waren Vossens rhythmische Bemerkungen nicht tröstlich, und ich mußte nur zufrieden sein, daß mein gutes Verhältnis zu den Freunden nicht gestört wurde, anstatt daß es sich hätte erhöhen und beleben sollen. Doch setzte sich alles bald wieder ins gleiche: Prinz August fuhr mit seinen literarischen Scherzen fort, Herzog Ernst gewährte mir unausgesetzt ein wohlgegründetes Vertrauen, indem ich besonders seiner Kunstliebhaberei gar manche angenehme Besitzung zuführte. Auch Voß konnte mit mir zufrieden sein, indem ich, auf seine Bemerkungen achtend, mich in der Folge nachgiebig und bildsam erwies.

Der Abdruck des ersten Bandes von »Wilhelm Meister« war begonnen, der Entschluß, eine Arbeit, an der ich noch so viel zu erinnern hatte, für fertig zu erklären, war endlich gefaßt, und ich war froh, den Anfang aus den Augen zu haben, wenn mich schon die Fortsetzung sowie die Aussicht auf eine nunmehrige Beendigung höchlich bedrängte. Die Notwendigkeit aber ist der beste Ratgeber.

In England erschien eine Übersetzung der »Iphigenia«; Unger druckte sie nach; aber weder ein Exemplar des Originals noch der Kopie ist mir geblieben.

An dem Bergbaue zu Ilmenau hatten wir uns schon mehrere Jahre herumgequält; eine so wichtige Unternehmung isoliert zu wagen war nur einem jugendlichen, tätig-frohen Übermut zu verzeihen. Innerhalb eines großen, eingerichteten Bergwesens hätte sie sich fruchtbarer fortbilden können; allein mit beschränkten Mitteln, fremden, obgleich sehr tüchtigen, von Zeit zu Zeit herbeigerufenen Offizianten konnte man zwar ins klare kommen, dabei aber war die Ausführung weder umsichtig noch energisch genug, und das Werk, besonders bei[29] einer ganz unerwarteten Naturbildung, mehr als einmal im Begriff zu stocken.

Ein ausgeschriebener Gewerkentag ward nicht ohne Sorge von mir, und selbst von meinem Kollegen, dem geschäftsgewandteren Geheimerat Voigt, mit einiger Bedenklichkeit bezogen; aber uns kam ein Sukkurs, von woher wir ihn niemals erwartet hätten. Der Zeitgeist, dem man soviel Gutes und soviel Böses nachzusagen hat, zeigte sich als unser Alliierter: Einige der Abgeordneten fanden gerade gelegen, eine Art von Konvent zu bilden und sich der Führung und der Leitung der Sache zu unterziehen. Anstatt daß wir Kommissarien also nötig gehabt hätten, die Litanei von Übeln, zu der wir uns schon vorbereitet hatten, demütig abzubeten, ward sogleich beschlossen, daß die Repräsentanten selbst sich Punkt für Punkt an Ort und Stelle aufzuklären und ohne Vorurteil in die Natur der Sache zu sehen sich bemühen sollten.

Wir traten gern in den Hintergrund, und von jener Seite war man nachsichtiger gegen die Mängel, die man selbst entdeckt hatte, zutraulicher auf die Hülfsmittel, die man selbst erfand, so daß zuletzt alles, wie wir es nur wünschen konnten, beschlossen wurde; und da es denn endlich an Gelde nicht fehlen durfte, um diese weisen Ratschläge ins Werk zu setzen, so wurden auch die nötigen Summen verwilligt, und alles ging mit Wohlgefallen auseinander.

Ein wundersamer, durch verwickelte Schicksale nicht ohne seine Schuld verarmter Mann hielt sich durch meine Unterstützung in Ilmenau unter fremdem Namen auf. Er war mir sehr nützlich, da er mir in Bergwerks- und Steuersachen durch unmittelbare Anschauung als gewandter, obgleich hypochondrischer Geschäftsmann mehreres überlieferte, was ich selbst nicht hätte bis auf den Grad einsehen und mir zu eigen machen können.

Durch meine vorjährige Reise an den Niederrhein hatte ich mich an Fritz Jacobi und die Fürstin Gallitzin mehr angenähert; doch blieb es immer ein wunderbares Verhältnis, dessen Art und Weise schwer auszusprechen und nur durch den[30] Begriff der ganzen Klasse gebildeter, oder vielmehr der sich erst bildenden Deutschen einzusehen.

Dem besten Teil der Nation war ein Licht aufgegangen, das sie aus der öden, gehaltlosen, abhängigen Pedanterie als einem kümmerlichen Streben herauszuleiten versprach. Sehr viele waren zugleich von demselben Geist ergriffen, sie erkannten die gegenseitigen Verdienste, sie achteten einander, fühlten das Bedürfnis, sich zu verbinden, sie suchten, sie liebten sich, und dennoch konnte keine wahrhafte Einigung entstehen. Das allgemeine Interesse, sittlich, moralisch, war doch ein vages, unbestimmtes, und es fehlte im ganzen wie im einzelnen an Richtung zu besondern Tätigkeiten. Daher zerfiel der große unsichtbare Kreis in kleinere, meist lokale, die manches Löbliche erschufen und hervorbrachten; aber eigentlich isolierten sich die Bedeutenden immer mehr und mehr.

Es ist zwar dies die alte Geschichte, die sich bei Erneuerung und Belebung starrer, stockender Zustände gar oft ereignet hat, und mag also für ein literarisches Beispiel gelten dessen, was wir in der politischen und kirchlichen Geschichte so oft wiederholt sehen.

Die Hauptfiguren wirkten ihrem Geist, Sinn und Fähigkeit nach unbedingt; an sie schlossen sich andere, die sich zwar Kräfte fühlten, aber doch schon gesellig und untergeordnet zu wirken nicht abgeneigt waren.

Klopstock sei zuerst genannt. Geistig wendeten sich viele zu ihm; seine keusche, abgemessene, immer Ehrfurcht gebietende Persönlichkeit aber lockte zu keiner Annäherung. An Wieland schlossen sich gleichfalls wenige persönlich: das literarische Zutrauen aber war grenzenlos – das südliche Deutschland, besonders Wien, sind ihm ihre poetische und prosaische Kultur schuldig; unübersehbare Einsendungen jedoch brachten ihn oft zu heiterer Verzweiflung.

Herder wirkte später. Sein anziehendes Wesen sammelte nicht eigentlich eine Menge um ihn her, aber einzelne gestalteten sich an und um ihn, hielten an ihm fest und hatten zu ihrem größten Vorteile sich ihm ganz hingegeben. Und so hatten sich[31] kleine Weltsysteme gebildet. Auch Gleim war ein Mittelpunkt, um den sich viele Talente versammelten. Mir wurden viele Sprudelköpfe zuteil, welche fast den Ehrennamen eines Genies zum Spitznamen herabgebracht hätten.

Aber bei allem diesen fand sich das Sonderbare, daß nicht nur jeder Häuptling, sondern auch jeder Angeordnete seine Selbständigkeit festhielt und andere deshalb an und nach sich in seine besonderen Gesinnungen heranzuziehen bemüht war: wodurch denn die seltsamsten Wirkungen und Gegenwirkungen sich hervortaten.

Und wie Lavater forderte, daß man sich nach seinem Beispiel mit Christo transsubstantiieren müsse, so verlangte Jacobi, daß man seine individuelle, tiefe, schwer zu definierende Denkweise in sich aufnehmen solle. Die Fürstin hatte in der katholischen Sinnesart, innerhalb der Ritualitäten der Kirche, die Möglichkeit gefunden, ihren edlen Zwecken gemäß zu leben und zu handeln. Diese beiden liebten mich wahrhaft und ließen mich im Augenblick gewähren, jedoch immer mit stiller, nicht ganz verheimlichter Hoffnung, mich ihren Gesinnungen völlig anzueignen; sie ließen sich daher manche von meinen Unarten gefallen, die ich oft aus Ungeduld und, um mir gegen sie Luft zu machen, vorsätzlich ausübte.

Im ganzen war jedoch jener Zustand eine aristokratische Anarchie, ungefähr wie der Konflikt jener eine bedeutende Selbständigkeit entweder schon besitzenden oder zu erringen strebenden Gewalten im Mittel alter. Auch war es eine Art Mittelalter, das einer höheren Kultur voranging, wie wir jetzt wohl übersehen, da uns mehrere Einblicke in diesen nicht zu beschreibenden, vielleicht für Nachlebende nicht zu fassenden Zustand eröffnet worden. Hamanns Briefe sind hiezu ein unschätzbares Archiv, zu welchem der Schlüssel im ganzen wohl möchte gefunden werden, für die einzelnen geheimen Fächer vielleicht nie.

Als Hausgenossen besaß ich nunmehr meinen ältesten römischen Freund, Heinrich Meyer. Erinnerung und Fortbildung italienischer Studien blieb tägliche Unterhaltung. Bei dem letzten[32] Aufenthalt in Venedig hatten wir uns aufs neue von Grund aus verständigt und uns nur desto inniger verbunden.

Wie aber alles Bestreben, einen Gegenstand zu fassen, in der Entfernung vom Gegenstande sich nur verwirrt oder, wenn man zur Klarheit vorzudringen sucht, die Unzulänglichkeit der Erinnerung fühlbar macht und immerfort eine Rückkehr zur Quelle des Anschauens in der lebendigen Gegenwart fordert, so war es auch hier. Und wer, wenn er auch mit wenigerem Ernst in Italien gelebt, wünscht nicht immer, dorthin zurückzukehren!

Noch aber war der Zwiespalt, den das wissenschaftliche Bemühen in mein Dasein gebracht, keinesweges ausgeglichen: denn die Art, wie ich die Naturerfahrungen behandelte, schien die übrigen Seelenkräfte sämtlich für sich zu fordern.

In diesem Drange des Widerstreits übertraf alle meine Wünsche und Hoffnungen das auf einmal sich entwickelnde Verhältnis zu Schiller; von der ersten Annäherung an war es ein unaufhaltsames Fortschreiten philosophischer Ausbildung und ästhetischer Tätigkeit. Zum Behuf seiner »Horen« mußte ihm sehr angelegen sein, was ich im stillen gearbeitet, angefangen, unternommen, sämtlich zu kennen, neu anzuregen und zu benutzen; für mich war es ein neuer Frühling, in welchem alles froh nebeneinander keimte und aus aufgeschlossenen Samen und Zweigen hervorging. Die nunmehr gesammelten und geordneten beiderseitigen Briefe geben davon das unmittelbarste, reinste und vollständigste Zeugnis.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 22-33.
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