1771

[254] 1/71.


An Anna Margaretha Textor

[Straßburg, Februar 1771.]

Theuerste Grosmama

der Todt unsers lieben Vaters, schon so lange täglich gefürchtet, hat mich doch unbereitet überrascht.

Ich habe diesen Verlust mit einem vollen Herzen empfunden; und was ist die Welt um uns herum, wenn wir verlieren was wir lieben.

Mich, nicht Sie zu trösten, schreib ich Ihnen, Ihnen die Sie ietzo das Haupt unserer Famielie sind, bitte Sie um Ihre Liebe, und versichre Sie meiner zärtlichsten Ergebenheit.

Sie haben länger in der Welt gelebt als ich, und müßen in Ihrem eignen Herzen mehr Trost finden, als ich kenne. Sie haben mehr Unglück ausgestanden als ich, Sie müßen weit lebhaffter fühlen als ich's sagen kann, daß die traurigste Begebenheit, durch die Hand der Vorsicht die angenehmste Wendung zu unsrer Glückseeligkeit nimmt; daß die Reihe von Glück und Unglück im Leben in einander gekettet ist wie Schlaff und Wachen, keins ohne das andre,[254] und eins um des andern willen, daß alle Freude in der Welt nur geborgt ist,

Sie haben Kinder und Enckel vor sich sterben sehn, an dem Morgen ihres Lebens Feyerabend machen, und nun begleiten Ihre Tränen einen Gemahl zu der ewigen Sabbaths Ruhe, einen Mann, der seinen Wochenlohn redlig verdient hat. Er hat ihn nun. Und doch hat der liebe Gott indem er vor ihn sorgte, auch für Sie für Uns gesorgt. Er hat uns nicht den muntern freundlichen glücklichen Greiß entrissen der mit der Lebhafftigkeit eines Jünglings die Geschäffte des Alters verrichtete, seinem Volke vorstund, die Freude seiner Familie war. Er hat uns einen Mann genommen dessen Leben wir schon einige Jahre an einem seidenfaden hängen sahen. dessen feueriger Geist die unterdrückende Last eines krancken Körpers mit schweerer Aengstlichkeit fühlen mußte sich frey wünschen mußte, wie sich ein Gefangner aus dem Kercker hinauswünscht.

Er ist nun frey und unsre Tränen wünschen ihm Glück und unsre Traurigkeit versammelt uns um Sie liebe Mama, uns mit Ihnen zu trösten, lauter Hertzen voll Liebe! Sie haben viel verlohren, aber es bleibt Ihnen viel übrig. Sehen Sie uns, lieben Sie uns und seyn Sie glücklich. Genießen Sie noch lange auch der zeitlichen Belohnung, die Sie so reichlich an unserm krancken Vater verdient haben, der hingegangen ist es an dem Ort der Vergeltung zu[255] rühmen, und der uns als Denckmale seiner Liebe zurückgelassen hat, Denckmale der vergangnen Zeit, zur traurigen aber doch angenehmen Erinnerung. Und so bleibe Ihre Liebe für uns wie sie war, und wo viel Liebe ist, ist viel Glückseeligkeit. Ich bin mit recht warmem Herzen Ihr zärtlicher Enckel

J. W. Goethe.


1/72.


An Johann Gottfried Herder

[Straßburg, Sommer 1771?]

Es geht mir mit diesem Briefe, wie unfleißigen Knaben mit der Lection; sie fagen an zu lernen, wenn sie aufsagen sollen.

Die Post geht und hier ist Schäkespear. Es war mir leichter ihn zu haben, als ich glaubte; in einem Anfall von hypochondrischer Großmuth hätte mir mein Mann die Haare vom Kopf gegeben, besonders da es vor Sie war.

Hierbei kommt ein Brief von Jungen; der arme Mensch ! Alle Gleichnisse aus Weissens »Julie« von Mehlthau, Maifrost, Nord und Würmern könne die Landplage nicht ausdrücken, die Kästners Schlangenstab über den treuherzigen Jung gedeckt hat.

Ich sehe aus seinem Brief an Sie, mehr als aus unserem Gespräch über die Materie, wie aufgebracht er ist; eigentlich versichere ich Sie, Kästner ist in der Sache so zu Werke gegangen, daß ich ihn nicht schelten kann. Jung fühlt das freilich lebhafter als ich; hält das[256] für Satiren, was Indigitationen sind, und das für Handwerksneid, was Professorcritik ist.

Denn er hat nichts gethan, als er schickt ihm das Buch mit einem Briefe, worin er ihm weitläufig darthut, warum das Skarteckgen in Göttingen keinen Verleger finden konnte.

Ferner folgen einige Blätter Anmerkungen, worinnen 1) (daß ich recht ordentlich verfahre, wie Jung) Erstlich, sag' ich der Herr Professor das mystisch-metaphysisch-mathematische Unkraut des Jungianismi mit Gärtnershand aus diesem Ländchen gätet.

Dann die Unbequemlichkeiten des Instruments, die Vorzüge der Tabulae Sinuum auslegt, und mit Allegirung verschiedner Autoren schließt, deren ähnliche Erfindungen durch die Tabulas außer Mode gekommen sind.

Ich glaub Ihnen, da ich Jungs Brief gelesen hatte, diese Relation schuldig zu seyn.

Nachdem Sie fort sind, bin ich sein Heiliger, und ich habe mich recht aus dem innersten Herzen heraus gebrüstet, da ich meinen Namen, hinter dem Ihrigen mit einem so honorabeln Ein staffirt fand. Es ist das erstemal, daß ich dieses gelehrte Von vor meinen sechs Buchstaben sehe. Nun hab' ich doch zur Eruditionsbaronie die nächste Anwartschaft, ich meine die Multiplication meines edlen Selbst; Die Clodiusse, die Schüblern sollen sehen –

Adieu, lieber Herder, ich fange an närrisch zu werden. Behalten Sie mich lieb und es wird immer nur officium, nicht beneficium bleiben; denn Sie fühlen, wie lieb ich Sie habe.

[257] Herr Salzmann läßt Sie grüßen.

Noch was. Ich habe einen Specht ausgestopft gesehen. Das ist kein gemeiner Vogel.

Und ich bin, ganz wie ich bin, Ihr Freund

Am Tage, da Pegelow schrieb.

Goethe.[258]


1/75.


An Johann Daniel Salzmann

[Sesenheim, Ende Mai]

Unserm Herrn Gott zu Ehren geh ich diesmal nicht aus der Stelle; und weil ich Sie solang nicht sehen werde, denck ich, ist es gut wenn du schreibst wie dir's geht. Nun gehts freylich so ziemlich gut, der Husten hat sich durch Kur und Bewegung ziemlich gelöst, und ich hoffe er soll bald ziehen. Um mich herum ist's aber nicht sehr hell, die Kleine fährt fort traurig kranck zu seyn, und das gibt dem Ganzen ein schiefes Ansehn. Nicht gerechnet conscia mens, leider nicht recti, die mit mir herum geht. Doch ists immer Land. Ach wenn alles wäre wie's seyn sollte, so wären Sie auch da. Schreiben Sie mir doch auf den Freytag. Und wenn Sie mir wollten eine Schachtel mit 2 Pfunden gutem Zuckerbeckerwesen |: Sie verstehen besser als ich was Maidle gern essen :| packen lassen und mit schicken, so würden Sie zu süsseren Mäulern Anlaß geben, als wir seit einiger Zeit Gesichter zu sehen gewöhnt sind.

Schicken Sies nur mit meiner Adresse unter die Gewerbslaub dem Säckler Schöll Freytags frühe, der wird's besorgen.[261]

Getanzt hab ich und die Aelteste, Pfingstmontags, von zwei Uhr nach Tisch bis 12 Uhr in der Nacht, an einem fort, ausser einigen Intermezzos von Essen und Trinken. Der Herr Amt-Schulz von Reschwoog hatte seinen Saal hergegeben, wir hatten brave Schnurranten erwischt, da giengs wie Wetter. Ich vergaß des Fiebers, und seit der Zeit ist's auch besser.

Sie hätten's wenigstens nur sehen sollen. Das ganze mich in das Tanzen versunken.

Und doch wenn ich sagen könnte: ich bin glücklich, so wäre das besser als das alles.

Wer darf sagen ich bin der unglückseligste? sagt Edgar. Das ist auch ein Trost, lieber Mann. Der Kopf steht mir wie eine Wetterfahne, wenn ein Gewitter heraufzieht und die Windstöße veränderlich sind.

Adieu! Sieben Sie mich. Sie sollen bald wieder von mir hören.

Goethe.


1/76.


An Johann Daniel Salzmann

[Sesenheim, 5. Juni 1771]

Mittewoch Nachts.

Ein paar Worte ist doch noch immer mehr als nichts. Hier sitz ich zwischen Thür und Angel. Mein Husten fährt fort; ich bin zwar sonst wohl, aber man lebt nur halb, wenn man nicht Athem holen kann.

Und doch mag ich nicht in die Stadt. Die Bewegung[262] und freie Luft hilfft wenigstens was zu helfen ist, nicht gerechnet –

Die Welt ist so schön! so schön! Wer's genießen könnte! Ich bin manchmal ärgerlich darüber, und manchmal halte ich mir erbauliche Erbauungsstunden über das Heute, über diese Lehre, die unsrer Glückseligkeit so unentbehrlich ist, und die mancher Professor der Ethick nicht faßt und keiner gut vorträgt. Adieu. Adieu. Ich wollte nur ein Wort schreiben, Ihnen für's Zuckerdings danken und Ihnen sagen daß ich Sie liebe.

Goethe.[263]


1/73.


An Johann Daniel Salzmann

[Sesenheim, Mitte Juni 1771]

Ich komme, oder nicht, oder – das alles werd ich besser wissen wenn's vorbey ist als jetzt. Es regnet draußen und drinne, und die garstigen Winde von Abend rascheln in den Rebblättern vorm Fenster, und meine animula vagula ist wie's Wetter-Hähngen drüben auf dem Kirchthurm; dreh dich, dreh dich, das geht den ganzen Tag, obschon das bück dich! streck dich! eine Zeit her aus der Mode kommen ist. Punctum. Meines Wissens ist das das erste auf dieser Seite. Es ist schwer gute Perioden, und Punkte zu seiner Zeit zu machen, die Mädgen machen weder Komma noch Punctum, und es ist kein Wunder wenn ich Mädgen-Natur annehme.

Doch lern ich schön griechisch; denn daß Sies wissen, ich habe in der Zeit daß ich hier bin meine griechische Weisheit so vermehrt, daß ich fast den Homer ohne Uebersetzung lese.

Und dann bin ich 4 Wochen älter, Sie wissen[258] daß das viel bei mir gesagt ist, nicht weil ich viel sondern vieles thue.

Behüt mir Gott meine lieben Eltern,

Behüt mir Gott meine liebe Schwester,

Behüt mir Gott meinen lieben Hrn. Aktuarius,

Und alle fromme Herzen.

Amen!

Goethe.


1/74.


An Johann Daniel Salzmann

[Sesenheim, Ende Juni 1771]

Nun wär es wohl bald Zeit dass ich käme, ich will auch und will auch, aber was will das Wollen gegen die Gesichter um mich herum. Der Zustand meines Herzens ist sonderbaar, und meine Gesundheit schwanckt wie gewöhnlich durch die Welt, die so schön ist als ich sie lang nicht gesehen habe.

Die angenehmste Gegend, Leute die mich lieben, ein Zirckel von Freuden! Sind nicht die Träume deiner Kindheit alle erfüllt? frag ich mich manchmal, wenn sich mein Aug in diesem Horizont von Glückseeligkeiten herumweidet; Sind das nicht die Feengärten nach denen du dich sehntest? – Sie sinds, sie sinds! Ich fühl es lieber Freund, und fühle dass man um kein Haar glücklicher ist wenn man erlangt was man wünschte. Die Zugabe! die Zugabe! die uns das Schicksaal zu ieder Glückseeligkeit drein wiegt!

[259] Lieber Freund, es gehört viel Muth dazu, in der Welt nicht missmuthig zu werden. Als Knab pflanzte ich ein Kirschbäumgen im Spielen, es wuchs und ich hatte die Freude es blühen zu sehen, ein Maifrost verderbte die Freude mit der Blüthe und ich mußte ein Jahr warten, da wurden sie schön und reif; aber die Vögel hatten den größten Theil gefressen eh ich eine Kirsche versucht hatte; ein ander Jahr warens die Raupen, dann ein genäschiger Nachbar, dann das Meelthau; und doch wenn ich Meister über einen Garten werde, pflanz ich doch wieder Kirschbäumgen; trotz allen Unglücksfällen gibts noch so viel Obst, daß man satt wird. Ich weiß noch eine schöne Geschichte von einem Rosenheckchen, die meinem seligen Großvater passirt ist, und die wohl etwas erbaulicher als die Kirschbaumshistorie, die ich nicht anfangen mag, weil es schon spät ist.

Machen Sie sich auf ein abentheuerlich Ragout, Reflexionen, Empfindungen, die man unter dem allgemeinen Titel Grillen eigentlicher begreifen könnte, gefaßt.

Leben Sie wohl und wenn Sie mich bald wieder sehen wollen, so schicken Sie mir einen Wechsel mich auszulösen, denn ich habe mich hier festgesessen.

Im Ernste seyn Sie so gut und geben Sie der Ueberbringerin eine Louisdor mit, ich hatte mich auf so lange Zeit nicht gefaßt gemacht. Sie schreiben mir doch, da sind Sie so gut und stecken sie in den[260] Brief und binden es der Trägerin wohl ein. Adieu lieber Mann verzeihen Sie mir alles.

IhrGoethe.[261]


[262] 1/77.


An Johann Daniel Salzmann

[Straßburg, Sommer 1771?]

Die Augen fallen mir zu, es ist erst neun. Die liebe Ordnung. Gestern Nachts geschwärmt, heute früh von Projekten aus dem Bette gepeitscht. O es sieht in meinem Kopfe aus wie in meiner Stube, ich kann nicht einmal ein Stückchen Papier finden als dieses blaue. Doch altes Papier ist gut Ihnen zu sagen daß ich Sie liebe, und dieses doppelt; Sie wissen wozu es bestimmt war.

Leben Sie vergnügt bis ich Sie wieder sehe. In meiner Seele ist's nicht ganz heiter; ich bin zu sehr wachend, als daß ich nicht fühlen sollte, daß ich nach Schatten greife. Und doch – Morgen um 7 Uhr ist das Pferd gesattelt und dann Adieu![263]


1/78.


An Johann Gottfried Herder

[Ende September oder Anfang Oktober 1771.]

Ich zwinge mich, Ihnen in der ersten Empfindung zu schreiben. Weg Mantel und Kragen! Ihr Niesewurzbrief ist drei Jahre alle Tageserfahrungen werth. Das ist keine Antwort drauf, und wer könnte drauf antworten? Mein ganzes Ich ist erschüttert, das können Sie denken, Mann, und es fibrirt noch viel zu sehr, als daß meine Feder stet zeichnen könnte. Apollo von Belvedere, warum zeigst du dich uns in deiner Nacktheit, daß wir uns der unsrigen schämen müssen. Spanische Tracht und Schminke! Herder, Herder, bleiben Sie mir, was Sie mir sind. Bin ich bestimmt, Ihr Planet zu sein, so will ichs sein, es gern, es treu sein. Ein freundlicher er Mond der Erde. Aber das – fühlen Sie's ganz – daß ich lieber Mercur fein wollte, der letzte, der kleinste vielmehr unter siebnen, der sich mit Ihnen um Eine Sonne drehte, als der erste unter fünfen, die um den Saturn ziehn.

Adieu, lieber Mann. Ich lasse Sie nicht los. Ich lasse Sie nicht! Jacob rang mit dem Engel des Herrn. Und sollt' ich lahm drüber werden! Morgen soll Ihr Ossian gehn. Jetzt eine Stunde mit Ihnen zu sein, wollt ich mit – bezahlen.

Ich lese meinen Brief wieder. Ich muß ihn gleich siegeln; morgen kriegten Sie ihn nicht.


1771

2/79.


An Johann Daniel Salzmann

[Frankfurt, Dezember 1771]

Lieber Mann,

Der Pedell hat schon Antwort: Nein! Der Brief kam etwas zur ungelegenen Zeit, und auch das Cärimoniel weggerechnet, ist mirs vergangen Doktor zu sein. Ich hab so satt am Lizentieren, so satt an aller Paris, daß ich höchstens nur des Scheins wegen meine Schuldigkeit thue, und in Teutschland haben beide Gradus gleichen Wehrt.

Ich danke Ihnen für Ihre Vorsorge, wollten Sie das mit einem Höflichkeitssäftgen Herrn Professor andeuten, würden Sie eine Nach-Post bringen, so viel als eine Gelegenheitsvisite. Fahren Sie fort mich zu lieben und an mich zu denken.

Der arme ô Feral jammert mich. Er war eine treue Seele.

Goethe.[1]


2/96.


An Johann Gottfried Röderer

am 21ten Sept. 1771.

Wie mir's geht, wird Ihnen Hr. Hasner sagen, und wie angenehm es mir ist schrifftliche Zeugnisse zu sehen, daß Ihre Liebe, Ihr Vertrauen zu mir, durch die Entfernung eher vermehrt als verringert worden ist, brauch ich wohl nicht zu erhärten, da Ihnen bekandt ist, wie sehr ich da Anteil nehmen muß, wo ich Geist und Bewegung fühle.

Es war uns nicht gegeben, näher bekanndt zu werden, und durch den Umgang uns wechselsweise zu nutzen, und doch sind wir vielleicht besser verbunden als manche Jugendgesellen, hier gilt kein Verjährungsrecht, ein einziger Aufblick läßt uns ein wechselseitiges Interesse erkennen; ein einziger Tapp im Dunkeln ist offt mehr wehrt als ein Spaziergang am schönsten Sonnentag.

[24] Es freut mich daß mein Reden unter Ihnen mit exousia gesalbt war, und daß der Geist alles des was lebt, meine Worte zum fruchtbaren Regen geschickt hat, lechzenden Pflanzen Munterkeit und Elasticität zu erneuern.

Die Gelegenheit die Sie finden praktisch an die Baukunst zu gehen, ist fürtrefflich. Wenn der Künstler nicht zugleich Handwerker ist, so ist er nichts, aber das Unglück! unsre meiste Künstler sind nur Handwerker. So lang's denn da bey alletags Gebäuden bleibt, da geht's noch so ziemlich; sobald Pallast oder Monument aufsteigen soll, ist ihr Feenstab zu schwach. Und dazu braucht man eigentlich den Baumeister, ieder Bauer giebt dem Zimmermann die Idee zur Schöpfung seiner Leimen Hütte, wer soll Jupiters Wohnung in die Wolken thürmen? wenn es nicht Vulkan ist, ein Gott wie er.

Ja der Künstler muß eine so große Seele haben, wie der König für den er Sääle wölbt, ein Mann wie Erwin, wie Bramante.

Das größte Meisterstück der deutschen Baukunst, das Sie täglich vor Augen haben, das Sie mit Muse bey genialischen Stunden durchdenken können, wird Ihnen nachdrücklicher als ich sagen, daß der grose Geist sich hauptsächlich vom kleinen darin unterscheidet, daß sein Werk selbstständig ist, daß es ohne Rücksicht auf das was andre getahn haben, mit seiner Bestimmung von Ewigkeit her zu coexistiren scheine; da der[25] kleine Kopf durch übelangebrachte Nachahmung, seine Armuth und seine Eingeschränktheit auf einmal manifestirt.

Wie manchmal, von diesem Standorte betrachtet, sinken die größten Gebäude ins kleine, wie Bürgershäuser vom Münster gesehen.

Leben Sie wohl, denken Sie auch auf dem Münster an mich. Und wenn Sie meinen Namen in einem der Eckpfosten sehen, so ahnden Sie Sich dahinauf zu mir, in eine Zeiten zurück, da wir uns noch nicht kannten, und fühlen Sie alle Wonne die ich fühlte. Damals wünscht ich mir viel Menschen um mich wie ich Sie ietzt kenne. Leben Sie wohl.

Goethe.


Wenn Sie es als Theolog übers Herz bringen können, so versagen Sie mir Ihre Stimme nicht, da ich bey der Gesellschaft durch Hrn. Jung um einen Ehrentag des edlen Schakspears ansuche.[26]


2/80.


An Johann Gottfried Herder

[Frankfurt, Herbst 1771.]

Daß ich Ihnen geben kann, was Sie wünschen, und mehr als Sie vielleicht hoffen, macht mir eine[1] Freude, deren Sie mich so wenig als eines wahren Enthusiasmus fähig glauben können, nach dem Bilde, das Sie sich einmal von mir haben machen müssen. Genug, ich habe noch aus Elsaß zwölf Lieder mitgebracht, die ich auf meinen Streifereien aus denen Kehlen der ältesten Mütterchens aufgehascht habe. Ein Glück! denn ihre Enkel singen alle: »Ich liebte nur Ismenen.« Sie waren Ihnen bestimmt, Ihnen allein bestimmt. so daß ich besten Gesellen keine Abschrift aufs dringenste Bitten erlaubt habe. Ich will mich nicht aufhalten, etwas von Ihrer Fürtrefflichkeit, noch von dem Unterschiede ihres Werthes zu sagen. Aber ich habe sie bisher als einen Schatz an meinem Herzen getragen; alle Mädchen, die Gnade vor meinen Augen finden wollen, müssen sie lernen und singen; meine Schwester soll Ihnen die Melodien, die wir haben (sind NB. die alten Melodien, wie sie Gott erschaffen hat) sie soll sie Ihnen abschreiben. Und nun geschwind Adieu, daß ich ans Abschreiben komme.


Nun bin ich fertig, und warte, bis die Post abgeht. Ich hoffe die Lieder sollen Ihnen Freude machen. Und hiermit Adieu. Von Celtischen, Galischen, Sachen soll nächstens etwas folgen. Es fehlen mir noch gewisse Bücher, die ich aber bald kriegen muß. Einige Gravamina über Ihren Brief, mit dem ich, im ganzen, sehr zufrieden zu sein Ursache hab'. Eins zum voraus: machen Sie künftig ein Couvert; es sind[2] einige Stellen versiegelter als die Offenbarung Johannis.

Weiter nichts für diesmal. Ich bin

Ihr Goethe.


Meine Schwester macht mich noch einmal ansetzen. Ich soll Sie grüßen, und Sie auf den 14. October invitiren, da Shakespeares Namenstag mit großem Pomp hier gefeiert werden wird. Wenigsten sollen Sie im Geiste gegenwärtig sein, und wenn es möglich ist, Ihre Abhandlung auf den Tag einsenden, damit sie einen Theil unsrer Liturgie ausmache.

Meine Eltern empfehlen sich Ihrem Andenken.[3]


2/81.


An Johann Gottfried Herder

[Frankfurt, October 1771.]


Pualid teud, a mhic Rühr Saitedu Sohn

Alpin na mfón,Alpins des G'sangs

Ambail solas a nclarisch Wohnt Trost in d'n

na nieölHarfen der Lüffte.

Taom air Ossian gu trómWälz über Ossian, zu

Osian dem traurgen.

Ta anam a snamh a nceö.Seine Seel ist

gehüllt in Nebel.


Son of Alpin strike the string. Is there ought of ioy in the Harp? Pour it then, on the Soul of Ossian: it is folded in mist


Vllin, a Charril,Ullin und Carril

a Raono,und Raono,

Guith amsair aStimmen vergangne der

dh'aom o-shean,Tage vor Alters

Cluinim an dorchadasHört ich euch in

ShelmaFinsternus Shelma,

Agus mosglibhse ananBald erhübs die Seele

nan dan.des Lieds.[3]


Ullin, Carril and Ryno, voices of the days of old, let me hear you, in the darkness of Selma, and awake the soul of songs.


Ni nculinim siobhNicht hör'ch euch

Shiol na mfónSöhne des G'sangs.

Cia an talla do neoil,In welcher Wohnung der

m'bail ar suianWolcken ist eure Ruh

Na tribuail siobh,Nicht rühret ihr,

clarsach nach trom,Harfe die düstre,

An truscan ceo-madin'sEin hüllen Nebel,

cruaim's Morgens tief.

Far an erich, guDort aufsteigt, mit

fuaimar a ghrianGetön die Sonne,

O Stuaigh na nceanÜber Wellen die

glas.blau

Häupter grün


I hear You not, ye children of music, in what hall of clouds is your rest? Do you touch the shadow harp, robed with morning mist, where the sun comes sounding forth from his greenheaded wawes


O linna doir-choilleVon Wassern Buschwaldigen

na Leigo,des Lego,

Air uair, eri' ceoDrüber 'nüber steigen

Nebel Busen – finster

taobh-ghórm nan tónvon Wellen.

Nuair dhunas dorsaWenn geschlossen werden

na hoichaThore der Nacht.[4]

Air iulluir shuilÜberm Adler-Aug der

grina nan espeur.Sonn am Himmel

Tomhail, mo LaraWeit nach Lara

nan sruthdem Fluss,

Thaomas du'-nail asWälzen düster – Nebel

doricha cruaimso dunckl' und tief.

Mar ghlas-Scia', roiWie trüb – Schild starck

taoma nan nial,rollt im Nebel.

Snamh seachad, taGehüllet siebenmal, der

Gellach na hoicha,Mond der Nacht.


From the wood-skirted waters of Lego, ascend, at times, grey bosomed mist, when the gates of the west are closed on the suns eagle eye. Wide, over Lara's Stream, is poured the vapour dark and deep: the moon like a dim shield is swimming thro' its folds.


Le so edi taisin oshean– – – – – –

An dlu'-gleus, a– – – – – –

measc na gaoith

'S iad leamnach, oWenn sie gauckeln

osna gu osna,von Wind zu Wind,

Air du aghai oichaÜber's dunckle – Gesicht

nan siander Nacht des Sturms.

An taobh oitaig, guAuf düstern Lüfften, zum

patin nan seoid,Grab des Kriegers

Taomas iad ceächWälzen sie Nebel

nan speuram Himmel

Gorm-thalla do thannaisFinstere Wohnung denen

nach beo,Geistern nicht /muthigen

/starcken

/lebendgen[5]

Gu am eri fon marbh-ranBiss dass steige Gesang

nan teud.Todten- /Ruhm

/Erinnerung

von Saiten


With this clothe the spirits of old their sudden gestures on the Wind, when they stride, from blast to blast, along the dusky face of the night. Often blended with the gale, to some warriors grave, they roll the mist, a grey dwelling to his ghost, until the songs arise


An codal so don'fhear-Wie schläft so hoher

phosdaaig Clatho,Mann der Clatho

Am bail coni do m'athair,Ist Wohnend d' Stärcke

an swain?meines Vaters in Ruh?

Am bail cuina, 's miBinn 'ch wohnend

in Vergessenheit,

'ntruscan nan nial,wie mich hüllen die Nebel

'S mi m 'aonar an– – – – – –

ám na hoicha


Sleeps the husband of Clatho? dwells the father of the fallen in the rest? Am I forgot in the folds of darkness; loney in the season of dreams


der Flüss'!

Lumon na sruth!Lumon des Fluss's!

'Ta u dealra, airDu bist leuchtend über

m'anam fein,m' Seele fein,

Ta do ghrian, air'S ist deine Sonne,


do thaobh,über deine Seite,

Air carrie nan cran,Über Felsen des Schalls

bu tromder Bäume.[6]


Luom of foamy streams, thou risest on Fonars Soul! Thy sun is on thy side, on the rock of thy bending trees[7]


Diese Stellen sind alle aus dem siebenten Buch. Wenn Sie schon einen Ossian haben, so braucht' ich das nicht dazu zu fügen. sie werden sehen, ob Sie mit mir einig sein können, wann ich sage, die Relicks und Ossians Schottisches machen ganz verschiedene Würckung auf Ohr und Seele. Der ungebildete Ausdruck, die wilde Ungleichheit des Sylbenmaßes (von dem ich freilich nicht mehr sagen kann, als daß es ungleich ist), das nachklingende Pleonastische, das zwar Macpherson manchmal übersetzt (sons of song, of[3] foamy streams), im Original hängts aber fast am jeder Zeile (nan speur, na h'oicha, nach beo, nan teud, nan nial) gibt dem Sylbenmaß einen eignen Fall, und dem Bild eine nachdrückliche Bestimmung; das alles zusammen rückt so weit von dem Englischen Balladenrhythmus, von ihrer Eleganz pp.1 das Sie alles besser finden werden, als ichs sagen kann. Ueberhaupt ist es ein Ueberfluß, Euch Herren seine Meinungen zu sagen, wenn Ihr über eine Sache selbst nachgedacht habt, oder denken wollt. Soviel können Sie hieraus sehen, daß ich mich mit Ihnen, für Sie eine Zeit her beschäftigt habe, und daß ich keiner von den letzten bin, für die Sie schreiben. Wenn Sie noch mehr aus dem Schottischen übersetzt haben wollen, so schreiben Sie's. Wenn Sie keinen Ossian kriegen können, steht meiner zu Diensten, aber ich muß ihn wieder haben. Melden Sie's bald; denn ich kann unmöglich sehen, daß Sie noch lange sind, ohne soviel Freude zu haben, als ich; denn es geht doch nichts darüber. Die deutschen Balladen werden Sie haben. Eschenburg ist ein elender Kerl. Seine Uebersetzung (der Stellen Shakespeares versteht sich) verdient keine Nachsicht; sie ist abscheulich. Die Abhandlung selbst hab' ich nicht gelesen, werde auch schwerlich.[4] Schicken Sie nur Ihre auf den 14. October. Die erste Gesundheit nach dem Will of all Wills soll auch Ihnen getrunken werden. Ich habe schon dem Warwickshirer ein schön Publicum zusammengepredigt, und übersetze Stückchen aus dem Ossian, damit ich auch den aus vollem Herzen verkündigen kann.


Meine Schwester läßt Sie grüßen. Sie hat mir weitläufig erzählen müssen, was bei Ihrer Anwesenheit geredet wurde, und da verstand ich den Anfang Ihres Briefes erst ganz und lachte mit mir und dachte: Wie wird Herder geguckt haben, da er von Dominicus Baham Feti so reden hörte? Sie haben aber doch (ut soles) das Facit richtig herausgebracht. Subtrahendo zuvörderst und dann addendo den Rest zu meiner Straßburger Summe. Es ist auch verplaudert worden, daß ich fürtreffliche Werke geschrieben habe. Meine Schwester weiß selbst nicht, warum sie sie auf Ihr anhaltendes Gesuch nicht herausgeben wollte. Es würde Ihnen nicht unangenehm gewesen sein, die Geschichte meiner Seele zu lesen und den seltsamen Standort zu kennen, von dem ich damals die Welt sah. Es war Ihnen nicht gegönnt. Dem sei nun, wie ihm sei. Apostel oder Philister! ich bleib' für Sie, was ich war. Adieu.

Goethe.


[5] 1 Nach geendigtem Brief les' ich die Stelle in Ihrem, da Sie von Ossian reden, und fühle, daß ich nichts hätte sogen sollen, bis ich Ihre Abhandlung gelesen hätte. Es mag sein. Nur könnten Sie nach diesem glauben, ich habe Sie nicht verstanden.


2/82.


An Johann Daniel Salzmann

[Frankfurt, Herbst 1771.]

Lieber Herr Aktuarius.

Ihr Zettelchen hat mir Freude gemacht, Ihre Hand mich in Frankfurt sehen zu lassen. Hier sehen Sie meine, und eine Versicherung daß ich Sie liebe. Mit den Kupfern verlassen Sie sich auf ihr Gesicht. Wenn die Zeichnung gustös ist, und der Stich schön schwarz, so ist alles gut; es sind zween Cahiers, etwan Eins von 6-8 Blättern, Papillon oder Papiller invenit. Schicken Sie es der guten Friederike, mit oder ohne ein Zettelchen wie Sie wollen. Was ich mache ist nichts. Desto schlimmer! Wie gewöhnlich mehr gedacht als gethan; deßwegen wird auch nicht viel aus mir werden. Wenn ich was vor mich bringen werde, sollen Sie's erfahren.

Empfehlen Sie mich u.s.w.

Dem Herrn Silbermann, wenn Sie ihn sehen, viel Grüße von meinetwegen. Bitten Sie ihn um eine flüchtige Copie des Münsterfundaments. Und seyn Sie so gut, unter der Hand zu fragen, ob und wie man zu einer Copie des großen Risses kommen könnte.

Ich bin Ihr alter

Goethe.[6]


2/83.


An Johann Daniel Salzmann

Sie kennen mich so gut, und doch wett' ich, Sie rathen nicht warum ich nicht schreibe. Es ist eine Leidenschaft, eine ganz unerwartete Leidenschaft, Sie wissen wie mich dergleichen in ein Cirkelgen werfen kann, daß ich Sonne, Mond und die lieben Sterne darüber vergesse. Ich kann ohne das seyn, Sie wissen lang, und koste was es wollte, ich stürze mich drein. Diesmal sind keine Folgen zu befürchten. Mein ganzer Genius liegt auf einen Unternehmen worüber Homer und Schäkespear und alles vergessen worden. Ich dramatisire die Geschichte eines der edelsten Deutschen, rette das Andenken eines braven Mannes, und die viele Arbeit die mich's kostet, macht mir einen Wahren Zeitvertreib, den ich hier so nöthig habe, denn es ist traurig am einem Ort zu leben wo unsre ganze Wirksamkeit in sich selbst summen muß. Ich habe Sie nicht ersetzt, und ziehe mit mir selbst im Feld und auf dem Papier herum. In sich selbst gekehrt, ist's wahr, fühlt sich meine Seele Efforts die in dem zerstreuten Straßburger Leben verlappten. Aber eben das wäre eine traurige Gesellschaft, wenn ich nicht alle Stärke die ich in mir selbst fühle auf ein Object würfe, und das zu packen und zu tragen suchte, so viel mir möglich, und was nicht geht, schlepp ich. Wenn's fertig ist sollen Sie's haben, und ich[7] hoff Sie nicht wenig zu vergnügen, da ich Ihnen einen edeln Vorfahr (die wir leider nur von ihren Grabsteinen kennen) im Leben darstelle. Dann weiß ich auch Sie lieben ihn auch ein bisgen weil ich ihn bringe.


Sehr einfach wie Sie sehen ist meine Beschäftigung, da meine Praxis noch wohl in Nebenstunden bestritten werden kann. Wie oft wünsch ich Sie um Ihnen ein Stückgen Arbeit zu lesen, und Urteil und Beyfall von Ihnen zu hören. Sonst ist alles um mich herum todt. Wie viel Veränderungen dennoch mit mir diese Monate vorgegangen, können Sie ahnden, da Sie wissen wie viel Papier zum Diarium meines Kopfes zu einer Woche gehörte.

Frankfurt bliebt das Nest. Nidus wenn Sie wollen. Wohl und Vögel auszubrüten, sonst auch figürlich spelunca, ein leidig Loch. Gott helft aus diesem Elend. Amen.

Ich suchte Ihren Brief vom 5. Oktober und fand noch eine Menge die zu beantworten sind. Lieber Mann, meine Freunde müssen mir verzeihen, mein nisus vorwärts ist so stark, daß ich selten mich zwingen kann Athem zu holen, und rückwärts zu sehen, auch ist mir's immer was trauriges, abgerissene Faden in der Einbildungskraft anzuknüpfen.

Hr. Eilbermann hat mir das Münsterfundament geschickt. Danken Sie ihm vielmal und versichern Sie ihn aller Ergebenheit die ich seiner sonderbaren Gefälligkeit schuldig bin.

[8] Mit den Rissen mag es anstehen.

Wollten Sie so gütig seyn das Manuscript der Comödia von ô Feral oder wer es sonst hat, zurück zu nehmen, (wenn's die Leute nicht mehr brauchen) und unter meiner adresse versiegelt an Hrn. Herder zu senden. Grüßen Sie Lersen und Jungen; ich hab ihre Briefe erhalten. Sie sollen mich lieb behalten.

Viel Empfehlungen u.s.w.

am 28. November 1771.

Goethe.[9]


2/85.


An Johann Gottfried Herder

[Frankfurt, Ende 1771.]

Das Resultat meiner hiesigen Einsiedelei kriegen Sie hier in einem Skizzo, das zwar mit dem Pinsel auf Leinewand geworfen, an einigen Orten sogar einigermaßen ausgemalt, und doch weiter nichts als Skizzo ist. Keine Rechenschaft geb' ich Ihnen, lieber Mann, von meiner Arbeit, noch sag' ich meine jetzige Empfindungen darüber, da ich aufgestanden und in[10] die Ferne getreten bin; es würde aussehn, als wollt ich Ihr Urtheil leiten, weil ich fürchtet', es wandelte an einen Platz, wo ichs nicht wünschte. Das aber darf ich sagen, daß ich recht mit Zuversicht arbeite, die beste Kraft meiner Seele dran wendete, weil ichs that, um Sie drüber zu fragen, und wußte, Ihr Urtheil wird mir nicht nur über dieses Stück die Augen öffnen, sondern vielmehr über diesem Stück dich lehren, wie Oeser, es als Meilensäule pflanzen, von der wegschreitend du eine weite, weite Reise anzutreten, und bei Ruhestunden zu berechnen hast.

Auch unternehm' ich keine Veränderung, bis ich Ihre Stimme höre; denn ich weiß doch, daß alsdann radicale Wiedergeburt geschehen muß, wenn es zum Leben eingehn soll.


Jetzo studir' ich Leben und Tod eines andern Helden, und dialogisir's in meinem Gehirn. Noch ist's nur dunkle Ahndung. Den Sokrates, den philosophischen Heldengeist, die »Eroberungswuth aller Lügen und Laster, besonders derer, die keine scheinen wollen,« oder vielmehr den göttlichen Beruf zum Lehrer der Menschen, die exousian des metanoeite die Menge, die gafft, die wenigen, denen Ohren sind zu hören, das Pharisäische Philisterthum der Meliten und Anyten, die Ursache nicht, die Verhältnisse nur der Gravitation und endlichen Uebregewichts der Nichtswürdigkeit. Ich brauche Zeit, das zum Gefühl zu entwickeln. Und dann weiß ich doch nicht, ob ich von der Seite mit Aesopen und La Fontanien verwandt[11] bin, wo sie nach Hamannen mit dem Genius des Sokrates sympathisiren; ob ich mich von dem Dienste des Götzenbildes, das Plato bemalt und verguldet, dem Xenophon räuchert, zu der wahren Religion hinaufschwingen kann, der statt des Heiligen ein großer Mensch erscheint, den ich nur mit Liebenthusiasmus an meine Brust drücke, und rufe: Mein Freund und mein Bruder! Und das mit Zuversicht zu einem großen Menschen sagen zu dürfen! – Wär' ich einen Tag und eine Nacht Alcibiades, und dann wollt' ich sterben! –

Vor wenigen Tagen hab' ich Sie recht aus vollem Herzen umfaßt, als säh' ich Sie wieder und hörte Ihre Stimme. Ich sah den gepeitschten Heliodor an der Erde, und der himmlische Grimm der rächenden Geister säuselte um mich herum. Sie würden diese Tropen vielleicht entziffern, wenn ich Ihnen auch nicht den Wandsbecker Boten und den Biographisten nennte. Ich kann nicht läugnen, daß sich in meine Freude ein bißchen Hundereminiscenz mischte, und gewisse Striemen zu jucken anfingen, wie frisch verheilte Wunden bei Veränderung des Wetters; ich merkt's zwar erst eine Zeit lang hintendrein, und streichelte meinen Genius mütterlich mit Trost und Hoffnung.

Vor einiger Zeit bracht' ich auch einen reichen Abend mit Mercken zu. Ich war so vergnügt, als ich sein kann, wieder einen Menschen zu finden, in[12] dessen Umgang sich Gefühle entwickeln und Gedanken bestimmen.

Und nun, hochwürdiger Priester, vergiß über der Pflege des Altars der Zucht der Akoluthen nicht, deren Phantasie natürlich nach deinem Meßgewande geizt, deren Kraft aber leider in der Adjunctus – und Küstermannsstelle meistentheils ans non plus ultra anrennt. Den Schluß mache der Schluß des Platonischen apologisirenden Sokrates. Kai ean dokôsi ti einai mêden ontes oneidizete autois, hoti ouk epimelountai hôn dei, kai oiontai ti einai ontes oudenos axioi. Kai ean tauta poiête dikaia peponthôs egô es omai hyph hymôn.


Quelle:
Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, IV. Abteilung, Bd. 2, S. 3-13.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon