Fünftes Kapitel

[647] »Jetzt oder nie!« Diese drohenden Worte erstanden vor Oblomow, sowie er des Morgens erwachte. Er stand auf, schritt dreimal durch das Zimmer und blickte in den Salon hinein. Stolz saß da und schrieb. »Sachar!« rief er, es folgte aber kein Sprung vom Ofen. Sachar kam nicht. Stolz hatte ihn auf die Post geschickt. Oblomow trat an seinen verstaubten Tisch heran, setzte sich, ergriff eine Feder und steckte sie ins Tintenfaß, es war aber keine Tinte darin, dann suchte er nach Papier, es gab aber keines. Er sann nach und begann mechanisch mit dem Finger auf dem Staube zu malen; als er dann nachsah, was er geschrieben hatte, sah er: »Oblomowerei«. Er wischte das Aufgeschriebene schnell mit dem Ärmel ab. Er hatte dieses Wort in der Nacht im Traume gesehen, es stand mit Feuer an den Wänden geschrieben, wie auf Belsazars Fest. Dann kam Sachar, und als er Oblomow nicht auf dem Sofa liegen sah, blickte er ihn mit trüben Augen an, darüber verwundert, daß er schon auf war. In diesem stumpfen, erstaunten Blicke stand: »Oblomowerei!« Ein einziges Wort, dachte Ilja Iljitsch, und wieviel Gift ist darin enthalten! ...

Sachar nahm wie gewöhnlich den Kamm, die Bürste und das Handtuch und wollte den Herrn frisieren.

»Geh zum Teufel!« sagte Oblomow zornig und schlug die Bürste Sachar aus der Hand, dann ließ Sachar auch den Kamm zu Boden fallen.

»Legen Sie sich wieder hin?« fragte Sachar, »ich werde Ihnen das Bett richten.«

»Bringe mir Tinte und Papier«, antwortete Oblomow.[648]

Er sann über die Worte »jetzt oder nie« nach. Indem er diesem verzweifelten Ausruf der Vernunft und der Kräfte lauschte, überlegte er und erwog, was für ein Rest des Willens ihm noch übrig geblieben war, wohin er diese ärmlichen Überbleibsel tragen und worauf er sie verwenden sollte. Nach qualvollem Überlegen erfaßte er die Feder, schleppte aus der Ecke ein Buch heraus und wollte im Laufe einer Stunde alles das lesen, schreiben und denken, was er in zehn Jahren nicht gelesen, geschrieben und gedacht hatte. Was sollte er jetzt tun? Vorwärtsschreiten oder stehenbleiben? Diese Oblomower Frage war für ihn tiefer als die von Hamlet. Vorwärtsschreiten heißt den weiten Schlafrock nicht nur von den Schultern, sondern auch von Seele und Verstand abwerfen; das heißt zugleich mit den Wänden auch die Augen von Staub und Spinngewebe reinigen und sehend werden! Wie sollte der erste Schritt gemacht werden? Womit sollte er beginnen? »Das weiß ich nicht, das kann ich nicht ... nein ... das ist nicht wahr, ich weiß und ... Auch Stolz ist hier bei mir; er wird's mir gleich sagen. Und was wird er sagen? Er wird mir sagen, ich soll binnen einer Woche eine genaue Instruktion entwerfen, einer Vertrauensperson übergeben und sie nach dem Gut schicken, ich soll Oblomowka verpfänden, noch Erde hinzukaufen, einen Plan der Bauten hinschicken, die Wohnung vermieten, einen Paß besorgen, auf ein halbes Jahr ins Ausland reisen, dort das überflüssige Fett und die Schwere abwerfen, die Seele durch jene Luft erfrischen, von der ich einst mit dem Freund geträumt hatte, ohne Schlafrock, ohne Sachar und Tarantjew leben, selbst die Strümpfe anziehen und die Schuhe ausziehen, nur in der Nacht schlafen, auf der Eisenbahn und auf Dampfschiffen überallhin reisen, dann ...« Dann soll er sich in Oblomowka niederlassen, wissen, was Saat und Ausdrusch ist, wovon der Bauer arm und reich wird; er soll aufs Feld gehen, zu den Wahlen, in die Fabrik, in die Mühle und zum Hafen fahren. Dabei soll er Zeitungen und Bücher lesen und[649] sich darüber aufregen, warum die Engländer wohl ein Schiff nach dem Osten gesandt haben ... Das würde er sagen! Das heißt vorwärtsschreiten ... Und so sollte es das ganze Leben sein! Lebe wohl, du poetisches Lebensideal! Das ist eine Schmiede, aber kein Leben; hier ist ewiges Feuer, Hitze, Hämmern und Lärmen ... wann soll man leben? Ist es nicht besser stehenzubleiben? Stehenbleiben heißt das Hemd verkehrt anziehen, das Springen von Sachars Füßen von der Ofenbank hören, mit Tarantjew Mittag essen, über alles wenig nachdenken, die Reise nach Afrika nicht zu Ende lesen, in der Wohnung von Tarantjews Gevatterin friedlich altern ... »Jetzt oder nie!« »Sein oder nicht sein!« Oblomow wollte vom Sessel aufstehen, fand aber mit dem Fuß nicht gleich in den Pantoffel hinein und setzte sich wieder hin.

Nach vierzehn Tagen reiste Stolz bereits nach England ab, nachdem er Oblomow das Wort abgenommen hatte, direkt nach Paris zu kommen. Ilja Iljitsch besaß schon einen fertigen Paß, er hatte sich sogar einen Reisemantel bestellt und eine Mütze gekauft. So weit war die Angelegenheit fortgeschritten! Sachar bewies schon tiefsinnig, daß es genüge, ein Paar Stiefel zu bestellen und das alte besohlen zu lassen. Oblomow kaufte sich eine Decke, ein wollenes Leibchen, ein Reisenecessaire, wollte auch einen Sack für Eßwaren kaufen, aber zehn Menschen bestätigten ihm zugleich, daß man ins Ausland keine Eßwaren mitnimmt. Sachar rannte ganz in Schweiß gebadet zu den Handwerkern und in die Läden hin, und obgleich von dem Rest in den Läden viele Zehner und Fünfer in seine Tasche wanderten, verfluchte er doch Andrej Iwanowitsch und alle, die das Reisen erfunden haben. »Was wird er dort allein tun?« sagte er im Laden, »man sagt, daß man dort nur von Frauenzimmern bedient wird. Wie kann ein Frauenzimmer einen Schuh herunterziehen? Und wie wird sie dem Herrn auf die nackten Füße Strümpfe anziehen ...?« Er lächelte sogar, so daß der Backenbart sich auseinanderschob, und schüttelte den Kopf. Oblomow war nicht zu faul aufzuschreiben,[650] was er mitnehmen wollte und was dazulassen war. Tarantjew wurde beauftragt, die Möbel und die anderen Sachen in die Wohnung der Gevatterin in der Wiborgskajastraße hinzuschaffen, alles in den drei Zimmern einzuschließen und bis zur Rückkehr aus dem Ausland zu hüten.

Oblomows Bekannte sagten schon teils mißtrauisch, teils lachend, teils erschrocken: »Er fährt; denken Sie sich, Oblomow rührt sich tatsächlich vom Fleck.«

Aber Oblomow verreiste weder in einem noch in drei Monaten.

Am Vorabend der Abreise schwoll ihm die Lippe an. »Mich hat eine Fliege gebissen, ich kann doch mit einer solchen Lippe nicht auf die See gehen!« – sagte er und begann auf das nächste Schiff zu warten. Es ist schon August, Stolz ist längst in Paris, schreibt ihm wütende Briefe, erhält aber keine Antwort.

Warum denn? Vielleicht ist die Tinte im Tintenfaß eingetrocknet und es gibt kein Papier? Oder vielleicht, weil im Stil von Oblomow welcher und daß oft aufeinanderstoßen, oder, endlich, hat sich Ilja Iljitsch bei dem drohenden Ruf »jetzt oder nie« zu dem letzteren entschlossen, hat die Hände unter dem Kopf verschränkt, und Sachar versucht es vergeblich, ihn aufzuwecken?

Nein, sein Tintenfaß ist voll Tinte, auf dem Tisch liegen Briefe, Papier, sogar mit einem Wappen und mit seiner Handschrift bedeckt.

Wenn er einige Seiten schrieb, setzte er niemals zweimal welcher, seine Gedanken drückten sich frei und stellenweise ausdrucksvoll und beredt aus, wie in alten Tagen, da er mit Stolz von einem Leben der Arbeit und von Reisen träumte, seine Hefte mit Prosa und Gedichten füllte und über den Dichtern weinte.

Er steht um sieben Uhr auf, liest, trägt seine Bücher irgendwohin. Auf seinem Gesicht ist weder Schläfrigkeit noch Langeweile zu sehen. Es hat sogar Farbe bekommen, die Augen leuchten und drücken etwas wie Kühnheit, jedenfalls aber Selbstbewußtsein aus. Man[651] sieht ihn nicht im Schlafrock; Tarantjew hat ihn mit den anderen Sachen zur Gevatterin hintransportiert. Oblomow sitzt bei einem Buch oder schreibt in einem Mantel, den er zu Hause trägt; um den Hals ist eine leichte Krawatte gewunden; der Hemdkragen schaut hervor und glänzt wie Schnee. Er geht in einem ausgezeichnet sitzenden Rock und einem eleganten Hut aus ... Er ist fröhlich und singt ... Was bedeutet das ...? Er sitzt am Fenster seiner Landwohnung (er lebt auf dem Lande, ein paar Werst von der Stadt entfernt), neben ihm liegt ein Blumenstrauß. Er schreibt eilig etwas fertig, blickt dabei fortwährend durch das Gebüsch auf den Gartenweg hin und schreibt wieder eilig weiter. Plötzlich knistert auf dem Gartenweg der Kies unter leichten Schritten; Oblomow wirft die Feder fort, erfaßt die Blumen und läuft ans Fenster. »Sind Sie es, Oljga Sjergejewna? Gleich, gleich!« sagte er, ergreift den Hut und die Gerte, eilt zur Gartentür hin, reicht einer schönen Frau den Arm und verschwindet mit ihr im Wald, im Schatten der riesenhaften Tannen ... Sachar kommt aus einer Ecke heraus, schaut ihm nach, schließt das Zimmer zu und geht in die Küche.

»Er ist fort!« sagte er zu Anissja.

»Wird er zu Mittag essen?«

»Wer weiß?« antwortete Sachar schläfrig.

Sachar ist noch immer derselbe; er hat denselben großen Backenbart, ein unrasiertes Kinn, dieselbe graue Weste und das Loch im Rock, aber er ist mit Anissja verheiratet, entweder infolge des Bruches mit seiner Gevatterin oder nach dem Prinzip, daß jeder Mensch heiraten muß; er hat geheiratet, hat sich aber trotz des Sprichwortes nicht verändert.

Stolz hatte Oblomow mit Oljga und mit ihrer Tante bekanntgemacht. Als Stolz Oblomow zum erstenmal bei Oljgas Tante einführte, waren dort Gäste. Oblomow war es wie gewöhnlich bange und unbehaglich zumute. Es wäre angenehm, die Handschuhe auszuziehen, dachte er, im Zimmer ist es ja warm. Wie ungewohnt mir jetzt alles[652] ist ...! Stolz setzte sich zu Oljga, die allein unter der Lampe in der Nähe des Teetisches saß, sich mit dem Rücken in den Sessel zurücklehnte und wenig darauf achtete, was um sie vorging. Stolzens Kommen hatte sie sehr erfreut; wenn ihre Augen auch nicht aufleuchteten und ihre Wangen nicht aufflammten, verbreitete sich doch ein gleichmäßiger, ruhiger Schein über ihr ganzes Gesicht und darauf erschien ein Lächeln. Sie nannte ihn ihren Freund, liebte ihn, weil er sie immer lachen machte und ihr die Langeweile vertrieb, fürchtete sich aber auch ein wenig, weil sie sich ihm gegenüber zu sehr als Kind fühlte. Wenn in ihr eine Frage, ein Zweifel aufstieg, entschloß sie sich nicht gleich, es ihm anzuvertrauen; er hatte ihr gegenüber einen zu großen Vorsprung erreicht, stand zu hoch über ihr, so daß ihre Eitelkeit manchmal unter dem Bewußtsein ihrer Unreife und des Unterschiedes zwischen ihrem Verstande und ihrem Alter litt. Stolz bewunderte sie auch ganz uneigennützig, als ein wunderbares Geschöpf mit einer duftenden Frische des Geistes und der Gefühle. Sie war in seinen Augen nur ein entzückendes Kind, das zu großen Hoffnungen berechtigte. Stolz unterhielt sich mit ihr aber lieber und öfter als mit anderen Frauen, weil sie, wenn auch unbewußt, einen einfachen, natürlichen Lebensweg verfolgte und dank ihrer glücklichen Natur und ihrer gesunden, ungekünstelten Erziehung selbst in jeder kaum sichtbaren Bewegung der Augen, der Lippen und der Hände nicht von der natürlichen Äußerung der Gedanken, der Gefühle und des Willens abwich. Vielleicht schritt sie mit einer solchen Sicherheit über diesen Weg, weil sie ab und zu andere, noch sicherere Schritte neben sich hörte, diejenigen ihres Freundes, dem sie glaubte, und dem sie ihren Schritt anpaßte. Wie dem auch sein mochte, konnte man doch selten bei einem Mädchen so viel Einfachheit und natürliche Freiheit des Blickes, der Worte und der Handlungen finden. In ihren Augen war nie zu lesen: »Jetzt werde ich ein wenig die Lippe einziehen und nachdenklich werden – das steht[653] mir nicht übel. Ich werde hinblicken, erschrecken und leicht aufschreien, dann laufen alle gleich zu mir hin. Ich setze mich ans Klavier und strecke die Fußspitze ein wenig vor ...« Es war weder Geziertheit noch Koketterie noch Lüge noch Flitterwerk noch etwas Beabsichtigtes an ihr! Darum wurde sie aber auch fast nur von Stolz geschätzt; darum blieb sie mehr als eine Mazurka allein sitzen, ohne ihre Langeweile zu verbergen; darum wurden die liebenswürdigsten jungen Leute bei ihrem Anblick einsilbig, da sie nicht wußten, was und wie sie zu ihr sprechen sollten ... Die einen hielten sie für einfältig, für kurzsichtig und oberflächlich, weil ihren Lippen weder weise Sentenzen über das Leben und über die Liebe noch rasche, unerwartete und kühne Repliken noch aus den Büchern geschöpfte oder bei andern aufgeschnappte Urteile über Musik und Literatur entströmten; sie sprach wenig und nur, was ihrer Persönlichkeit entsprang, nichts Glänzendes – und sie wurde von den klugen, schlagfertigen »Kavalieren« gemieden; die nicht Schlagfertigen hielten sie im Gegenteil für zu gescheit und fürchteten sich ein wenig vor ihr. Nur Stolz sprach unaufhörlich mit ihr und machte sie lachen. Sie liebte die Musik, sang aber meistens, wenn sie allein war oder wenn Stolz oder eine Pensionsfreundin zugegen waren; sie sang aber, wie Stolz sagte, besser als jede Sängerin. Sowie Stolz sich neben sie gesetzt hatte, tönte durchs Zimmer ihr Lachen, das so klangvoll, so aufrichtig und ansteckend war, daß jeder, der es hörte, ohne den Grund zu kennen, unfehlbar mitlachen mußte. Aber Stolz machte sie nicht nur lachen, nach einer halben Stunde hörte sie ihm neugierig zu und richtete dann ihre Augen mit verdoppelter Neugier auf Oblomow, der sich vor diesen Blicken am liebsten unter die Erde versteckt hätte.

Was sprechen sie über mich? dachte er, sie unruhig anschielend. Er wollte schon fortgehen, als Oljgas Tante ihn an den Tisch heranrief und ihm den Platz neben sich anwies, wo er dem Kreuzfeuer der Blicke aller Anwesenden[654] ausgesetzt war. Er wandte sich ängstlich nach Stolz um – doch der war nicht mehr da, blickte Oljga an und begegnete ihren auf ihn gerichteten, neugierigen Augen. Sie schaut mich noch immer an! dachte er, verlegen seine Kleider betrachtend. Er wischte sich sogar das Gesicht mit dem Taschentuche ab, da er glaubte, er hätte sich die Nase verschmiert, betastete seine Krawatte, ob sie nicht aufgegangen sei, das geschah ihm manchmal; nein, alles schien ganz in Ordnung zu sein, und sie schaut noch immer! Doch jetzt reichte ihm der Diener eine Tasse Tee und eine Platte mit Bäckerei. Er wollte seine Verlegenheit unterdrücken und ungeniert erscheinen und nahm dabei einen solchen Haufen Zwieback, Biskuits und Kringel, daß das neben ihm sitzende kleine Mädchen auflachte. Die übrigen Anwesenden blickten den Haufen neugierig an. Mein Gott, auch sie sieht her! dachte Oblomow, was fange ich mit diesem Haufen an? Er sah, ohne hinzublicken, daß Oljga sich von ihrem Platz erhoben hatte und in eine andere Ecke trat. Ihm wurde leichter ums Herz. Das kleine Mädchen blickte ihn gespannt an und wartete, was er mit den Bäckereien tun würde. Ich werde sie geschwind aufessen, dachte er und machte sich über die Biskuits her; zum Glück zerschmolzen sie ihm förmlich im Mund. Es blieben nur zwei Stücke Zwieback übrig; er atmete frei auf und entschloß sich hinzuschauen, wo Oljga war. Sie stand neben einer Büste, sich auf das Piedestal stützend, und beobachtete ihn. Sie war wohl deswegen aus ihrer Ecke fortgegangen, um ihn ungestörter anblicken zu können; sie hatte den Vorfall mit den Bäckereien bemerkt. Beim Souper saß sie am andern Tischende, unterhielt sich und schien sich gar nicht mit ihm zu beschäftigen. Sowie sich Oblomow aber ängstlich nach ihr umwandte, in der Hoffnung, sie sehe ihn nicht an, begegnete er ihrem neugierigen, aber zugleich gütigen Blick ...

Nach dem Souper verabschiedete sich Oblomow eilig von der Tante; sie lud ihn für den nächsten Tag zum Mittagessen ein und bat, die Einladung auch Stolz zu[655] übergeben. Ilja Iljitsch verneigte sich und schritt, ohne die Augen zu heben, durch den Saal. Am Klavier stand ein Wandschirm, und daneben befand sich die Tür. Er blickte auf, am Klavier saß Oljga und blickte ihn mit großer Neugierde an. Ihm schien, daß sie lächelte.

Andrej hat gewiß erzählt, daß ich gestern verschiedene Strümpfe anhatte und das Hemd verkehrt angezogen habe! kam er bei sich überein und fuhr, durch die Voraussetzung und noch mehr durch die Einladung zum Mittagessen, die er mit einer Verbeugung beantwortet, also angenommen hatte, verstimmt nach Hause.

Von diesem Augenblicke an dachte Oblomow unausgesetzt an Oljgas beharrlichen Blick. Vergeblich streckte er sich seiner Größe nach auf dem Rücken aus, vergeblich nahm er die trägsten und bequemsten Stellungen ein – er schlief nicht ein. Sein Schlafrock widerte ihn an, Sachar erschien dumm und unerträglich, und der Staub und das Spinngewebe bedrückten ihn. Er ließ ein paar schlechte Bilder hinaustragen, die ihm irgendein Gönner armer Künstler aufgedrängt hatte, brachte selbst die Jalousie in Ordnung, die lange nicht mehr aufgezogen worden war, rief Anissja und befahl ihr, die Fenster abzuwischen, nahm das Spinngewebe ab, legte sich dann auf die Seite und dachte eine Stunde lang an Oljga. Er befaßte sich zuerst eingehend mit ihrem Äußern und rief immer wieder in seiner Erinnerung ihr Bild hervor. Oljga war, streng genommen, keine Schönheit, das heißt, sie war nicht blendend weiß, hatte nicht das lebhafte Kolorit der Wangen und Lippen, und ihre Augen strahlten kein inneres Feuer aus; sie hatte weder einen Korallenmund noch Perlenzähne noch winzige Hände wie ein fünfjähriges Kind, mit Fingern wie Weintrauben. Hätte man sie aber in eine Statue verwandeln können, so wäre diese voll Grazie und Harmonie gewesen. Ihrer ziemlich großen Gestalt entsprach streng die Größe des Kopfes und diesem das Oval und die Linien des Gesichtes; das alles harmonierte seinerseits mit den Schultern und diese mit der Taille ... Wer ihr auch begegnen[656] mochte, selbst ein Zerstreuter, blieb für einen Augenblick vor diesem streng, überlegt und künstlerisch erdachten Geschöpf stehen. Die Nase bildete eine kaum sichtbar geschweifte, anmutige Linie; die Lippen waren fein umrissen und größtenteils aufeinandergepreßt: das Anzeichen des immer auf irgend etwas gerichteten Denkens. Dasselbe Vorhandensein eines lebhaften Verstandes leuchtete aus dem scharfen, immer wachen, alles bemerkenden Blick der dunklen, blaugrauen Augen. Die Brauen verliehen ihren Augen besondere Schönheit; sie waren nicht bogenförmig, rundeten sich nicht als zwei dünne, mit den Fingern geplättete Striche über den Augen, nein, das waren zwei dunkelblonde, flaumige, fast gerade Streifen, die nicht ganz symmetrisch lagen; die eine war um eine kleine Linie höher als die andere, und infolgedessen bildete sich eine kleine Falte, die zu sagen schien, daß darin ein Gedanke ruhte. Oljga hielt beim Gehen den Kopf ein wenig nach vorn geneigt, und er ruhte so schlank und edel auf dem feinen stolzen Hals; sie bewegte ihren ganzen Körper gleichmäßig und schritt leicht, fast unsichtbar einher ... Warum hat sie mich gestern so forschend angeschaut? dachte Oblomow. Andrej schwört, daß er von den Strümpfen und dem Hemde nichts erzählt hat, sondern nur von seiner Freundschaft für mich und davon, wie wir zusammen aufwuchsen und lernten, von allem, was es Schönes gegeben hat, und auch davon, wie unglücklich Oblomow sei, wie alles Gute in ihm aus Mangel an Teilnahme und an Tätigkeit zugrunde ginge, wie schwach sein Lebenslicht brannte und wie ... Worüber ist denn da zu lächeln? setzte Oblomow seine Gedanken fort. Wenn sie nur ein wenig Herz besitzt, müßte es vor Mitleid erstarren und von Blut überströmen, und sie ... nun, Gott sei mit ihr; ich werde nicht mehr an sie denken! Ich fahre nur heute hin, esse dort und setze dann meinen Fuß nicht mehr über ihre Schwelle.

Ein Tag folgte auf den andern, und er war dort mit beiden Füßen und Händen und mit dem Kopfe. Eines[657] schönen Tages hatte Tarantjew alles, was Oblomow besaß, zu der Gevatterin auf die Wiborgskajastraße hingeschafft, und Ilja Iljitsch verlebte drei Tage, wie er es lange schon nicht getan hatte: ohne Bett, ohne Sofa, und aß bei Oljgas Tante zu Mittag. Plötzlich erfuhr er, daß sich ihrem Landhause gegenüber eine freie Wohnung befand. Oblomow mietete sie, ohne sie gesehen zu haben, und lebt jetzt dort. Er ist von früh bis spät mit Oljga zusammen; er liest ihr vor, schickt ihr Blumen, geht mit ihr am See und auf den Bergen spazieren ... er, Oblomow! Was alles auf der Welt vorkommt! Wie konnte das nur geschehen? Das kam so:

Als er mit Stolz bei ihrer Tante zu Mittag aß, litt er die selben Folterqualen wie am Tage vorher, kaute unter ihrem Blick, sprach fühlend und wissend, daß über ihm dieser Blick wie die Sonne schien, ihn sengte, beunruhigte, die Nerven und das Blut in Aufregung brachte. Mit Mühe und Not gelang es ihm, sich mit der Zigarre auf den Balkon zu retten und sich im Rauch für einen Augenblick vor diesem schweigenden, beharrlichen Blick zu verstecken.

Was ist das? dachte er, sich nach allen Seiten windend, das ist ja eine Qual! Will sie mich denn verhöhnen? Sie schaut sonst niemand so an, sie wagt es nicht. Ich bin sanfter, darum tut sie's ... Ich werde mit ihr ein Gespräch beginnen! beschloß er, und werde ihr lieber mit Worten das sagen, was sie mir mit den Augen aus der Seele ziehen möchte.

Plötzlich erschien sie vor ihm auf der Schwelle des Balkons; er schob ihr einen Sessel hin, und sie setzte sich neben ihn.

»Ist es wahr, daß Sie sich sehr langweilen?« fragte sie ihn.

»Ja«, antwortete er, »aber nicht sehr; ich habe eine Beschäftigung.«

»Andrej Iwanowitsch sagt, daß Sie irgendeinen Plan entwerfen?«

»Ja, ich will auf dem Gute leben und bereite mich allmählich dazu vor.«[658]

»Werden Sie ins Ausland reisen?«

»Ja, bestimmt, sowie Andrej Iwanowitsch fertig ist.«

»Reisen Sie gern?« fragte sie.

»Sehr gern ...«

Er blickte sie an; über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, das bald die Augen beleuchtete, bald sich über die Wangen ausbreitete; nur die Lippen waren wie sonst aufeinandergepreßt. Er hatte nicht den Mut, ruhig zu lügen.

»Ich bin ein wenig ... faul ...« sagte er ...

Er ärgerte sich darüber, daß sie ihm so leicht, fast schweigend, das Bekenntnis seiner Trägheit entlockt hatte. Was ist sie mir? Fürchte ich mich denn vor ihr? dachte er.

»Sie sind faul!« antwortete sie mit kaum merklichem schelmischem Ausdruck, »ist das möglich? Ein träger Mann? Das verstehe ich nicht.«

Was ist denn dabei unverständlich? dachte er, mir scheint, das ist einfach. – Ich sitze immer zu Hause, darum glaubt Andrej, daß ich ...

»Aber Sie schreiben gewiß viel«, sagte sie, »und lesen. Haben Sie ...«

Sie blickte ihn so forschend an.

»Nein, ich hab's nicht gelesen!« entschlüpfte es ihm vor Angst, sie könnte ihn examinieren.

»Was?« fragte sie lachend. Und er lachte auch ...

»Ich dachte, Sie wollten mich über irgendeinen Roman fragen; ich lese derlei nicht.«

»Sie haben es nicht erraten; ich wollte über Reisebeschreibungen fragen.«

Er blickte sie durchdringend an; ihr ganzes Gesicht außer den Lippen lachte.

Oh, wie sie ist ...! Man muß mit ihr vorsichtig sein ..., dachte Oblomow.

»Was lesen Sie denn?« fragte sie neugierig.

»Ich liebe wirklich die Reisebeschreibungen ...«

»Über Afrika?« fragte sie leise und schelmisch.

Er errötete, da er nicht ohne Grund vermutete, daß sie nicht nur darüber, was er las, sondern auch darüber, wie er es tat, unterrichtet war.[659]

»Sind Sie musikalisch?« fragte sie, um ihn von seiner Verlegenheit zu befreien.

Jetzt kam Stolz heran.

»Ilja! Ich habe Oljga Sjergejewna gesagt, daß du leidenschaftlich Musik liebst und habe sie gebeten, etwas zu singen ... Casta diva ...«

»Warum erzählst du solche Sachen von mir!« antwortete Oblomow, »ich liebe Musik gar nicht leidenschaftlich ...«

»Was sagen Sie dazu?« unterbrach ihn Stolz, »er scheint beleidigt zu sein! Ich stelle ihn als einen anständigen Menschen hin, und er beeilt sich, die Leute diesbezüglich gleich zu enttäuschen!«

»Ich lehne nur die Rolle eines Amateurs ab, das ist eine zweifelhafte und auch schwierige Rolle.«

»Welche Musik gefällt Ihnen denn am meisten?« fragte Oljga.

»Diese Frage ist schwer zu beantworten: jede beliebige! Manchmal höre ich voll Vergnügen von einem verstimmten Leierkasten irgendeine Melodie, die sich in meinem Gedächtnisse festgesetzt hat, ein anderes Mal gehe ich in der Mitte irgendeiner Oper fort; oder Meyerbeer erschüttert mich, manchmal auch ein einfaches Schifferlied: je nachdem ich aufgelegt bin! Manchmal halte ich mir auch, wenn ich Mozart höre, die Ohren zu ...«

»Sie lieben also wahrhaft Musik!«

»Singen Sie doch etwas, Oljga Sjergejewna«, bat Stolz.

»Und wenn Herr Oblomow jetzt so aufgelegt ist, daß er sich die Ohren zuhalten wird?« fragte sie, sich an ihn wendend.

»Jetzt müßte ich irgendein Kompliment sagen«, antwortete Oblomow. »Ich kann das aber nicht, und wenn ich's auch könnte, würde ich es nicht wagen ...«

»Warum denn nicht?«

»Und wenn Sie schlecht singen?« fragte er naiv, »es wäre mir dann peinlich ...«

»Wie gestern mit der Bäckerei ...« entschlüpfte es ihr plötzlich, und sie errötete selbst und hätte viel darum[660] gegeben, es nicht gesagt zu haben. »Verzeihen Sie ...!« sagte sie.

Oblomow hatte das nicht erwartet und wurde verwirrt. »Das ist boshafter Verrat!« sagte er halblaut.

»Nein, vielleicht nur eine kleine Rache, und, bei Gott, keine beabsichtigte, weil Sie für mich nicht einmal ein Kompliment finden konnten.«

»Vielleicht finde ich eins, nachdem ich Ihnen zugehört habe.«

»Wollen Sie, daß ich singe?« fragte sie.

»Nein, er will das«, antwortete Oblomow, auf Stolz hinweisend.

»Und Sie?«

Oblomow schüttelte verneinend den Kopf.

»Ich kann nicht etwas wollen, was ich nicht kenne.«

»Du bist grob, Ilja!« bemerkte Stolz. »Das kommt davon, wenn man zu Hause liegt und die Strümpfe ...«

»Ich bitte dich, Andrej«, unterbrach Oblomow rasch, um ihn nicht ausreden zu lassen, »es würde mich nichts kosten zu sagen: ›Ach, es wird mich sehr freuen, ich werde glücklich sein, Sie singen gewiß ausgezeichnet ...‹« setzte er fort, sich an Oljga wendend, »›das wird mir einen Genuß bereiten‹ und so weiter. Ist das aber notwendig?«

»Sie könnten aber trotzdem wünschen, ich möchte singen ... Wenigstens aus Neugierde!«

»Ich wage es nicht, Sie sind keine Schauspielerin ...«

»Gut, ich werde Ihnen vorsingen«, sagte sie zu Stolz.

»Ilja, bereite ein Kompliment vor.«

Unterdessen war der Abend angebrochen. Man zündete die Lampe an, die wie ein Mond durch das mit Efeu umwundene Gitterwerk schimmerte. Das Dunkel verbarg die Umrisse von Oljgas Gesicht und von ihrer Gestalt und warf gleichsam einen Florschleier über sie; ihr Gesicht war im Schatten, man hörte nur ihre weiche, aber starke Stimme, mit dem nervösen Zittern des Gefühls. Sie sang viele Arien und Lieder, nach den Angaben von Stolz; in den einen drückte sich Leiden,[661] mit der unklaren Vorahnung von Glück, in den andern Freude, mit einem Keim von Traurigkeit, aus. Die Worte, die Töne, diese reine, starke Mädchenstimme machte das Herz schlagen, die Nerven beben, die Augen funkeln und von Tränen überströmen. Man wollte in einem und demselben Augenblick sterben, nach diesen Tönen nicht mehr erwachen, und zugleich dürstete das Herz nach Leben ... Oblomow flammte auf, ermattete, hielt mit Mühe die Tränen zurück und erstickte mit noch größerer Mühe den freudigen Schrei, der sich von seiner Seele loslösen wollte. Er hatte schon lange nicht mehr eine solche Frische und Kraft in sich gefühlt, die aus der Tiefe seiner Seele aufzusteigen schienen und zu einer Heldentat bereit waren. Er würde in diesem Augenblick sogar ins Ausland reisen, wenn er sich nur hinsetzen und abzufahren brauchte.

Zum Schlusse sang sie Casta diva. Das Entzücken, die wie Blitze im Kopfe aufleuchtenden Gedanken, das Beben, das wie Nadeln durch seinen Körper rieselte – das alles hatte Oblomow geradezu vernichtet; er war am Ende seiner Kräfte.

»Sind Sie heute mit mir zufrieden?« wandte sich Oljga plötzlich an Stolz, nachdem sie zu singen aufgehört hatte.

»Fragen Sie Oblomow, was er wohl sagen wird?« antwortete Stolz.

»Ach!« rang es sich aus seiner Brust los. Er faßte Oljga bei der Hand, ließ sie aber gleich wieder los und wurde sehr verlegen.

»Verzeihen Sie ...« murmelte er.

»Hören Sie?« sagte Stolz zu ihr. »Sag einmal aufrichtig, Ilja, wie lange ist dir das nicht mehr passiert?«

»Das hätte heute früh passieren können, wenn ein verstimmter Leierkasten vor dem Fenster gespielt hätte ...« bemerkte Oljga gütig und so sanft, daß sie den Sarkasmus des Stachels beraubte.

Er blickte sie vorwurfsvoll an.

»Er hat noch immer Doppelfenster; er hört nicht, was draußen vorgeht«, fügte Stolz hinzu.[662]

Oblomow wandte jetzt seinen vorwurfsvollen Blick Stolz zu.

Stolz ergriff Oljgas Hand.

»Ich weiß nicht, aus welchem Grunde Sie heute so gesungen haben, wie noch nie, Oljga Sjergejewna, wenigstens habe ich Sie schon lange nicht so singen gehört. Das ist mein Kompliment!« sagte er, ihr jeden einzelnen Finger küssend.

Stolz verabschiedete sich. Oblomow wollte auch aufbrechen, aber Stolz und Oljga hielten ihn zurück.

»Ich habe noch zu tun«, bemerkte Stolz, »und du willst ja nur deswegen nach Hause fahren, um liegen zu können ... es ist noch früh ...«

»Andrej, Andrej!« sagte Oblomow mit flehender Stimme. »Nein, ich kann heute nicht dableiben, ich gehe!« fügte er hinzu und ging.

Er schlief die ganze Nacht nicht. Traurig und sinnend ging er im Zimmer auf und ab; beim Morgengrauen verließ er das Haus, ging an die Newa und durch die Straßen, und Gott weiß, was er dabei fühlte und woran er dachte ...

Nach drei Tagen war er wieder dort, und des Abends, als die übrigen Gäste sich an die Kartentische setzten, befand er sich mit Oljga zu zweit am Klavier. Die Tante hatte Kopfschmerzen, sie saß mit dem Riechfläschchen in ihrem Zimmer.

»Ich werde Ihnen die Sammlung von Zeichnungen zeigen, die Andrej Iwanowitsch mir aus Odessa mitgebracht hat«, sagte Oljga. »Hat er sie Ihnen nicht gezeigt?«

»Mir scheint, Sie bemühen sich, die Pflichten der Hausfrau zu erfüllen und mich zu unterhalten?« fragte Oblomow. »Das ist ganz überflüssig.«

»Warum ist es denn überflüssig? Ich will, daß Sie sich nicht langweilen, daß Sie sich hier wie zu Hause fühlen, daß es Ihnen leicht, frei und behaglich zumute ist, damit Sie nicht fortgehen ... um zu liegen.«

Sie ist ein boshaftes, spöttisches Geschöpf! dachte er, unwillkürlich jede ihrer Bewegungen bewundernd.[663]

»Sie wollen, daß es mir leicht und frei zumute sei und daß ich mich nicht langweile?« wiederholte er.

»Ja«, antwortete sie, ihn wie gestern, aber mit einem noch erhöhteren Ausdruck der Neugierde und Güte anblickend.

»Dann dürfen Sie mich erstens nicht so anblicken wie jetzt und neulich ...«

Die Neugierde in ihren Augen verdoppelte sich.

»Ja, gerade bei diesem Blick wird es mir sehr unbehaglich ... Wo ist mein Hut?«

»Warum wird es Ihnen denn unbehaglich?« fragte sie sanft, und ihr Blick verlor den Ausdruck von Neugierde. Er wurde nur gütig und freundlich.

»Ich weiß nicht; aber mir scheint, daß Sie mir mit diesem Blick alles das entlocken, was ich die anderen und besonders Sie nicht wissen lassen will ...«

»Warum denn? Sie sind Andrej Iwanowitschs Freund, und er ist mein Freund, folglich ...«

»Folglich ist kein Grund vorhanden, daß Sie alles erfahren, was Andrej Iwanowitsch von mir weiß«, beendete er ihren Satz.

»Es ist kein Grund vorhanden, wohl aber eine Möglichkeit ...«

»Dank der Aufrichtigkeit meines Freundes; er hat mir damit einen schlechten Dienst erwiesen!«

»Haben Sie denn Geheimnisse?« fragte sie. »Vielleicht haben Sie etwas verbrochen«, fügte sie hinzu, indem sie lachend von ihm fortrückte.

»Vielleicht!« antwortete er seufzend.

»Ja, das ist ein großes Verbrechen«, sagte sie schüchtern und leise, »verschiedene Strümpfe anzuziehen ...«

Oblomow griff nach seinem Hut.

»Ich halte es nicht länger aus!« sagte er. »Und Sie wollen, ich soll mich behaglich fühlen? Ich werde Andrej nicht mehr lieben ... Er hat Ihnen auch das erzählt?«

»Er hat mich heute dadurch so zum Lachen gebracht!« fügte Oljga hinzu. »Er macht mich immer lachen. Verzeihen[664] Sie, ich werde nicht mehr so sprechen, und ich werde mich bestreben, Sie anders anzublicken ...«

Sie machte eine ernsthaft-schelmische Miene.

»Das alles ist aber noch erstens«, fuhr sie fort, »nun, jetzt schaue ich Sie ja nicht mehr wie gestern an, Sie müssen sich also frei und behaglich fühlen. Jetzt kommt das ›Zweitens‹, was muß ich also noch tun, damit Sie sich nicht langweilen?«

Er blickte ihr in die graublauen, freundlichen Augen.

»Jetzt sehen Sie selbst mich so merkwürdig an«, sagte sie.

Er blickte sie tatsächlich gleichsam nicht mit den Augen, sondern wie ein Magnetiseur mit seinem ganzen Willen an; er tat es aber unwillkürlich, ohne die Kraft zu haben, nicht hinzublicken. Mein Gott, wie hübsch sie ist! Daß es so etwas auf der Welt gibt! dachte er, sie beinahe mit erschrockenen Augen betrachtend. Dieses Weiß, diese Augen, wo es dunkel wie in einem Abgrund ist und wo zugleich etwas leuchtet, gewiß die Seele! Das Lächeln kann wie ein Buch gelesen werden, dabei sieht man auch diese Zähne, und dann dieser ganze Kopf ... wie zart ruht er auf den Schultern, er scheint sich wie eine Blume zu wiegen und zu duften ... Ja, ich entlocke ihr etwas, dachte er, etwas von ihr geht in mich über. Hier am Herzen beginnt es zu wogen und zu stürmen ... Ich fühle hier etwas Neues, das, wie mir scheint, nicht da war ... Mein Gott, was für ein Glück ist es, sie anzuschauen! Man vermag kaum zu atmen! ...

Diese Gedanken flogen wie ein Wirbel dahin, und er blickte sie immer an, wie man in eine endlose Ferne, in einen bodenlosen Abgrund blickt, voll Selbstvergessen und Wonne.

»Aber so hören Sie doch auf, Herr Oblomow, wie sehen Sie selbst mich jetzt an!« sagte sie, den Kopf verlegen abwendend; doch die Neugier gewann die Oberhand, und sie riß ihren Blick von seinem Gesicht nicht los.

Er hörte nichts.

Er blickte sie wirklich ununterbrochen an und verstand[665] ihre Worte nicht; er untersuchte schweigend, was in ihm vorging; er berührte seinen Kopf – auch dort war etwas in Aufruhr und stürmte im Wirbel dahin. Er hatte keine Zeit, die Gedanken aufzufangen; sie flatterten wie ein Vogelzug vorüber, und im Herzen, an der linken Seite, schien ihm etwas wehzutun.

»Schauen Sie mich doch nicht so seltsam an«, sagte sie, »auch ich fühle mich unbehaglich ... Mir scheint, auch Sie wollen meiner Seele etwas entlocken ...«

»Was kann ich Ihnen entlocken?« fragte er mechanisch.

»Auch ich habe angefangene und nicht beendete Pläne«, antwortete sie.

Er kam bei dieser Andeutung auf seinen unvollendeten Plan zur Besinnung.

»Seltsam!« bemerkte er. »Sie sind boshaft, Sie haben aber einen gütigen Blick. Man sagt mit Recht, daß man den Frauen nicht glauben darf; sie lügen absichtlich mit der Zunge und unabsichtlich mit dem Blick, dem Lächeln, dem Erröten, sogar mit den Ohnmachten ...«

Sie ließ diesen Eindruck sich nicht verstärken, nahm ihm leise den Hut fort und setzte sich auf den Sessel hin.

»Nein, nein, ich tu's nicht mehr!« sagte sie lebhaft. »Ach! verzeihen Sie, ich habe eine solche unausstehliche Zunge! Aber das ist bei Gott keine Spöttelei!« sagte sie fast singend, und in dem Satze zitterte ein wahrhaftes Gefühl.

Oblomow beruhigte sich.

»Dieser Andrej!« sagte er vorwurfsvoll.

»Nun, sagen Sie, was ich zweitens tun soll, damit Sie sich nicht langweilen?« fragte sie.

»Singen Sie!« sagte er.

»Das ist das von mir erwartete Kompliment!« rief sie freudig errötend aus. »Wissen Sie«, fuhr sie dann lebhaft fort, »wenn Ihnen vorgestern nach meinem Gesang nicht dieses ›Ach!‹ entschlüpft wäre, könnte ich, wie mir scheint, die ganze Nacht nicht schlafen und würde vielleicht weinen.«

»Warum?« fragte Oblomow erstaunt.[666]

Sie sann nach.

»Ich weiß selbst nicht«, sagte sie dann.

»Sie sind ehrgeizig; wohl deshalb.«

»Ja, natürlich deshalb«, sagte sie, nachdenklich die Tasten mit einer Hand berührend. »Der Ehrgeiz ist ja überall und in großem Maße zu finden. Andrej Iwanowitsch sagt, daß er fast die einzige treibende Kraft ist, die den Willen beherrscht. Sie haben wohl keinen Ehrgeiz, darum ...«

Sie sprach nicht zu Ende.

»Was denn?« fragte er.

»Nein, nichts!« suchte sie zu vertuschen. »Ich liebe Andrej Iwanowitsch«, sprach sie weiter, »nicht weil er mich lachen macht – manchmal weine ich, wenn er mit mir spricht – und nicht weil er mich liebt, sondern ich glaube, weil ... er mich mehr als die anderen liebt. Sehen Sie, wieweit der Ehrgeiz reicht!«

»Sie lieben Andrej?« fragte Oblomow sie und versenkte seinen gespannten, prüfenden Blick in ihre Augen.

»Ja, gewiß, wenn er mich mehr als die anderen liebt, tu ich's um so mehr!« antwortete sie ernst.

Oblomow blickte sie schweigend an und begegnete ihrem einfachen, schweigenden Blick.

»Er liebt auch Anna Wassiljewna und Sinaida Michailowna, aber nicht so«, fuhr sie fort, »er wird mit ihnen nicht zwei Stunden lang sitzen, wird sich nicht die Mühe geben, sie zum Lachen zu bringen und ihnen etwas Intimes zu erzählen; er spricht mit ihnen von Geschäften, vom Theater, von den Neuigkeiten, und mit mir spricht er wie mit einer Schwester ... nein, wie mit einer Tochter«, fügte sie eilig hinzu; »manchmal schilt er sogar, wenn ich etwas nicht sofort verstehe oder nicht gehorche oder mit ihm nicht einverstanden bin. Die anderen schilt er aber nicht, und mir scheint, ich liebe ihn dafür noch mehr. Der Ehrgeiz!« sagte sie dann sinnend, »ich weiß gar nicht, wie er jetzt in meinen Gesang hineingeraten ist? Man sagt mir darüber schon lange viel Schönes, und Sie wollten mir gar nicht zuhören, man hat Sie fast dazu[667] gezwungen. Und wenn Sie dann fortgegangen wären, ohne mir ein Wort zu sagen, wenn ich in Ihrem Gesichte nichts gelesen hätte ... würde ich, scheint mir, krank geworden sein ... ja, gewiß, das ist Ehrgeiz!« schloß sie mit Bestimmtheit.

»Und haben Sie denn auf meinem Gesichte etwas bemerkt?« fragte er.

»Tränen, wenn Sie sie auch verbergen wollten; es ist eine schlechte Eigenschaft der Männer, ihre Gefühle verbergen zu wollen. Das ist auch Ehrgeiz, nur ein falscher. Sie sollten sich manchmal lieber ihrer Vernunft schämen; diese irrt häufiger. Sogar Andrej Iwanowitsch hat ein schamhaftes Herz. Ich habe es ihm gesagt, und er hat es zugegeben. Und Sie?«

»Was würde man denn nicht zugeben, wenn man Sie anblickt!« sagte er.

»Wieder ein Kompliment! Und was für ein ...« Sie fand das Wort nicht.

»... banales!« sagte Oblomow, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Sie bestätigte durch ein Lächeln die Bedeutung des Wortes.

»Das habe ich ja befürchtet, als ich Sie nicht bitten wollte zu singen ... Was kann man sagen, wenn man zum ersten Male zuhört? Und man muß doch etwas sagen. Es ist schwer, zugleich gescheit und aufrichtig zu sein, besonders in Gefühlssachen und unter dem Bann eines solchen Eindruckes, wie damals ...«

»Und ich habe damals wirklich so gesungen, wie schon lange nicht, vielleicht sogar wie noch nie ... Bitten Sie mich nicht, ich werde nicht mehr so singen ... Warten Sie, ich singe Ihnen nur eines ...« sagte sie, und ihr Gesicht schien in dem Augenblicke aufzuflammen, die Augen begannen zu leuchten, sie setzte sich auf den Sessel, schlug zwei, drei laute Akkorde und sang.

O Gott, was war in diesem Gesange alles zu hören! Hoffnungen, dunkle Furcht vor Sturm, der Sturm selbst, das Streben nach Glück – das alles erklang nicht im[668] Liede, sondern in ihrer Stimme. Sie sang lange, sich ab und zu nach ihm umwendend und kindlich fragend: »Genug? Nein, noch das?« und sie sang weiter. Ihre Wangen und Ohren glühten vor Erregung; manchmal leuchtete auf ihrem Gesicht das Spiel von Gefühlsblitzen und flammte der Strahl einer so reifen Leidenschaft auf, als ob sie in ihrer Seele eine ferne, künftige Zeit des Lebens durchlebte, und dann erlosch dieser flüchtige Strahl, und die Stimme klang wieder frisch und silberhell. Auch Oblomow durchlebte dasselbe; ihm schien, er hörte und fühlte das alles nicht eine oder zwei Stunden lang, sondern ganze Jahre ... Sie wurden beide, äußerlich reglos, von einem inneren Feuer verzehrt und erzitterten von den gleichen Schauern; in ihren Augen waren Tränen, die die gleiche Stimmung hervorgerufen hatte.

Das alles waren die Anzeichen jener Leidenschaften, die einst in Oljgas junger Seele erwachen sollten, die jetzt nur zeitweise von flüchtigen Regungen und von kurzem Aufblitzen der schlafenden Lebenskräfte aufgerüttelt wurde. Sie schloß mit einem langen, klangvollen Akkord, und ihre Stimme ging darin unter. Sie hörte plötzlich ermüdet auf, legte die Hände in den Schoß und blickte selbst ganz aufgeregt Oblomow an, wie er sich wohl demgegenüber verhalte? Auf seinem Gesicht leuchtete das Morgenrot des erwachenden, vom Grunde seiner Seele aufsteigenden Glückes; sein tränenvoller Blick war auf sie gerichtet.

Jetzt ergriff sie unwillkürlich seine Hand.

»Was haben Sie?« fragte sie. »Was machen Sie für ein Gesicht! Warum?«

Doch sie wußte, warum er ein solches Gesicht machte, und triumphierte innerlich in aller Bescheidenheit über diesen Ausdruck ihrer Macht.

»Schauen Sie in den Spiegel«, fuhr sie fort, ihm lächelnd sein Gesicht im Spiegel zeigend. »Ihre Augen glänzen, mein Gott, es sind Tränen darin! Wie tief Sie Musik empfinden!«[669]

»Nein, ich empfinde ... keine Musik ... sondern ... Liebe!« sagte Oblomow leise.

Sie ließ seine Hand augenblicklich los und wechselte die Gesichtsfarbe. Ihr Blick begegnete dem seinigen, der auf sie gerichtet war. Dieser Blick war reglos und fast wahnsinnig; er ging nicht von Oblomow, sondern von der Leidenschaft aus. Oljga begriff, daß dieses Wort ihm entschlüpft war, daß er darüber keine Macht hatte, und daß darin die Wahrheit war.

Er kam zur Besinnung, ergriff den Hut und lief, ohne sich umzuwenden, aus dem Zimmer. Sie begleitete ihn nicht mehr mit einem neugierigen Blick, sondern blieb lange, ohne sich zu bewegen, wie eine Statue am Klavier stehen und schaute starr zu Boden; nur ihre Brust hob und senkte sich heftig ...

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 647-670.
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