An Jungfer L.A.V. Kulmus

[402] Ein Jahr ist hin, o Schönste! daß mein Bild

Sich schon bey dir zum Opfer eingefunden:

Doch ist mein Wunsch nach deinem nicht erfüllt;

So sehr seit dem die Herzen sich verbunden.


Erfreue mich, dafern du lieben kannst,

Und laß dein Herz durch keinen Einwurf stören.

Ja, wo du mich nicht aus der Brust verbannst:

So laß dein Bild mich deine Neigung lehren.


Der edle Geist, der deine Stirn erhebt,

Der helle Blitz, aus deinen klugen Blicken,

Wird deinen Freund, der nur durch dich noch lebt,

In manchem Gram, an deiner statt, erquicken.


Victoria! mein Leben, Herz und Licht!

Fleh ich umsonst um deinen bloßen Schatten;

So schmäuchle mir mit deiner Liebe nicht:

Wie schwer wird sich das Wesen selber gatten?

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Band 1: Gedichte und Gedichtübertragungen, Berlin 1968/1970, S. 402-403.
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