Erster Auftritt

[771] Sappho sitzt halbliegend auf der Rasenbank, unbeweglich vor sich hinstarrend.

In einiger Entfernung steht Eucharis; weiter zurück mehrere Sklavinnen. Rhamnes kömmt


EUCHARIS den Finger auf dem Munde.

Still! still!

RHAMNES.

Schläft sie?

EUCHARIS.

Die Augen stehen offen,

Der Körper wacht, ihr Geist nur scheint zu schlafen!

So liegt sie seit drei Stunden, regungslos!

RHAMNES.

Ihr solltet sie ins Haus doch –

EUCHARIS.

Ich versucht es,

Allein sie will nicht! – Und noch nichts?

RHAMNES.

Noch nichts!

Soweit das Auge trägt nur See und Wolken,

Von einem Schiffe nicht die kleinste Spur.

SAPPHO emporfahrend.

Schiff? Wo?

RHAMNES.

Wir sahn noch nichts, Gebieterin!

SAPPHO zurücksinkend.

Noch nicht! – Noch nicht! –[771]

RHAMNES.

Die Morgenluft weht kühl,

Erlaube, daß wir dich in dein Gemach –


Sappho schüttelt verneinend den Kopf.


RHAMNES.

Laß dich erbitten, folge mir ins Haus!


Sappho schüttelt noch einmal.


RHAMNES zurückweichend.

Du willsts – Ihr Anblick schneidet mir ins Herz!

EUCHARIS.

Ei sieh, was drängt sich dort das Volk!

RHAMNES.

Laß sehn!

EUCHARIS.

Es strömt dem Ufer zu. Mir deucht, sie kommen!

SAPPHO aufspringend.

Ha!


Während des Folgenden steht sie in ängstlich horchender Stellung zurückgebeugt.


EUCHARIS.

Dort tritt an den Felsen und sieh zu,

Vielleicht erblickst du sie!

RHAMNES.

Wohl, ich will sehn!


Steigt auf eine Erhöhung des Ufers.


EUCHARIS.

Nur schnell, nur schnell! Nun, siehst du?

RHAMNES.

Dank den Göttern!

Sie kommen!

SAPPHO.

Ah!

RHAMNES.

Die waldbewachsne Spitze,

Die links dort weit sich ins Gewässer streckt,

Verbarg mir vorher den willkommen Anblick.

Ein Heer von Kähnen wimmelt durcheinander

Mit raschem Ruderschlag dem Ufer zu.

EUCHARIS.

Und die Entwichnen, sind sie unter ihnen?

RHAMNES.

Die Sonne blendet, ich erkenn es nicht!

Doch halt, da naht dem Ufer schon ein Kahn,

Vorausgesendet mit der frohen Botschaft.

Jetzt legt er an! – Der Hirte ists vom Tal –

Er schwenkt den Stab! – Gewiß, sie sind gefangen!

Hierher, mein Freund, hierher! – Er kommt heran!


Herabsteigend.


EUCHARIS.

Gebieterin, sei ruhig, sei gefaßt![772]


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 771-773.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sappho
Sappho
Sappho
Sämtliche Werke: Dritter und vierter Band: Gedichte, Die Ahnfrau, Sappho

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon