Wandergruß

[98] Dort am Bergschloß, da ich raste,

Lädt der Blüthenbaum mich ein,

Freundlich winkt der Vogt zu Gaste

Mit dem vollen Becher Wein.


Den Urahn und seine Gäste

Hat dieß Kelchglas schon geletzt,

Und an ihrem Hochzeitfeste

Ahnfrau diesen Baum gesetzt.


Drum wie seinen Blüthenregen

Ueber mich der Baum jetzt streut,

Dünkt's mich wie ein Ahnensegen

Aus der alten fernen Zeit.


Und wie ich, vom Born zu nippen,

Mit dem Glas berührt den Mund,

Ist's, als ob des Ahnherrn Lippen

Böten mir den Gruß zum Bund.
[99]

Die in weiter Welt sich mieden,

Einte dieses Glases Kreis;

Was durch Zeit und Land geschieden,

Drückt hier Lipp' an Lippe leis.


Von Geschlechten zu Geschlechten

Schlinge sich der heil'ge Bund!

Fort und fort sein Band zu flechten,

Weiht, o Glas, dich Herz und Mund!


Diesen Kuß, zu fernen Tagen,

Wenn zu Staube längst ich bin,

Sollst du auf die Lippen tragen

Einer späten Enkelin.


Für den Enkel Gruß und Segen

Will ich dir, o Baum, vertrau'n,

Daß du ihn als Blüthenregen

Um sein Haupt magst niederthau'n.


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 98-100.
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Gedichte
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