Jagello

[247] Nachtigallenmacht

Füllt den Eichenwald,

Weithin widerhallt

Jauchzen der Liederschlacht.


Polens Heeresmacht

Lagert am Waldessaum,

Fürst Jagello, im Traum,

Ruht, vom Zelt umdacht.


Plötzlich ihn erweckt

Langentbehrter Klang, –

Ha, der Sprosser Sang

Hat ihn aufgeschreckt.


Durch Verhau und Wacht

Dringt's ins Königszelt,

Und ihn überfällt

Nachtigallenmacht.
[248]

Von dem Schilde dort

Als ein Echo prallt's,

In dem Helmrund wallt's

Tönend fort und fort;


Süßer Klang umspinnt

Ihm das Schwert zugleich,

Wie mit Watte weich,

Wie mit Seide lind.


»Klang der Seligkeit,

Längstvergess'ner Laut,

Wie erweckst du traut

Längstvergess'ne Zeit!


Meine Kinderzeit,

Als ich dir gelauscht,

Nachtigallberauscht,

Tief in Einsamkeit;


Mich im Forst verlor,

Bis mich Mütterlein

Fand in Todespein

Unter Busch und Rohr.


Dort ein muntrer Knab',

Hier ein müder Greis;

Dort das frische Reis,

Hier der morsche Stab!
[249]

Was dazwischen liegt,

Traurig sieht's mich an:

Dornenvolle Bahn,

Die der Fürst durchfliegt!


Kronen zwei vereint,

Länder doch entzweit,

Im Senate Streit,

Frieden nur vom Feind!


Blutumgrenzter Kreis,

Kampf um Reich und Thron,

Mühen ohne Lohn,

Kränze ohne Preis!


Hohes halb erreicht,

Schlimmes halb besiegt!

Staat und Macht erliegt,

Und der Purpur bleicht.


Gib mir dein Geleit,

Wonniger Waldchoral,

Tauche mich noch einmal

In die ferne Zeit!«


Und er stürzt zum Wald,

Nachtigallberauscht,

Horcht und wallt und lauscht,

Wo's am schönsten schallt.
[250]

Doch die Klänge scheu

Vor dem Lauscher fliehn,

Locken ihn und ziehn

Mit sich fort aufs Neu;


Hier der rollende Fall,

Dort das flötende Flehn;

Holdes Irregehn!

Wohlklang überall! – –


Weißer Nebelflor

Hängt am Binsenstrauch,

Und mit qualmendem Hauch

Athmet schwer das Moor.


Kalt und scharf der Thau

Von den Blättern fällt,

Und der Irrwisch hält

Dort die Leuchte blau.


Durch das knisternde Rohr

Schleicht das Fieber sacht,

Auf den Lüften der Nacht

Schnellt's den Pfeil hervor;


Trifft ins Königsherz!

Greises Heldengebein

Ist nicht Stahl und Stein,

Nieder wirft ihn Schmerz.
[251]

An der Eiche Saum

Sinkt er todesmatt,

Letzte Liegerstatt

Beut der alte Baum.


So im Kriegeszug

Polens König starb,

Den kein Feind verdarb,

Den kein Schwert erschlug;


Starb nicht auf dem Thron,

Starb im Wald und Rohr,

Noch in seinem Ohr

Nachtigallenton.


In Gesang gewiegt,

Eingesargt in Sang!

So verschönt der Klang,

Was dazwischen liegt.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 2, Berlin 1907, S. 247-252.
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