Sechster Auftritt


[184] La Roquette. Die Vorigen.


LIONNE. Freund Präsident, eine seltene Ehre!

LA ROQUETTE. Vergebung, mein geliebter Bruder, ich bin nur wenig Herr meiner Zeit. Diese vielen barmherzigen Vereine, diese gottesfürchtigen milden Stiftungen, diese Universitätsreformen, Generalsynoden, neuen Schulverfassungen und was alles in das Leben eines Mannes einschlägt, der so gern den Staat auf christlichere Grundlagen verpflanzen möchte –[184]

DUBOIS. Diese Maßregeln bekommen Ihrer Gesundheit vortrefflich.

LA ROQUETTE. Finden Sie das, Leibarzt? Fühlen Sie doch meinen Puls? Oder nein, lassen Sie, ich habe keinen Glauben mehr an die Ärzte.

DUBOIS. Sie, der Sie so reich an Glauben sind! Wer hätte Ihnen diesen Glauben genommen?

LA ROQUETTE. Die Satiriker des Tages! Doktorchen, in Paris wird alles verspottet.

LEFÊVRE. Sogar das Studium der Baumwollenindustrie.

LA ROQUETTE. Der Baumwollen – Wie kommen Sie auf Baumwolle?

LEFÊVRE beiseite. Er stutzt! Laut. Nicht wahr, es werden noch immer so viel fromme Schafe in Frankreich geschoren, daß bei uns von Baumwolle noch nicht viel die Rede ist?

LA ROQUETTE. Sie spielen auf die Advokaten an, Herr Parlamentsrat! Seitdem unsere modernen Satiriker uns gezeigt haben, was Notare sind, kann man beim Gleichnis von der Schafschur nur an Prozesse denken. Doch das beiseit! Lieber Lionne, ich bringe Ihnen eine unangenehme Kommission.

LIONNE. Freund La Roquette war von jeder ein Bote des Friedens!

LA ROQUETTE. Ich habe mich auch ungern mit einer Angelegenheit befaßt, die Ihnen verdrießlich sein wird.

LIONNE. Die Polizei hat abgehärtete Nerven. Tragen Sie Ihre Sache nur vor!

DUBOIS. Privatangelegenheit?


Will seinen Hut nehmen.


LA ROQUETTE. Nur zu öffentlich, Doktor! Eine Anzahl der ehrenwertesten Bürger von Paris, zweihundertundsiebzig Namen richtig gezählt, haben mich beauftragt, Ihnen eine Bittschrift zu überreichen und eine günstige Entscheidung bei Ihnen zu befürworten.


Zieht eine große Rolle aus der Tasche.


LEFÊVRE. Man wünscht vielleicht, daß auf die roten Tücher von Limoges ein Zoll gelegt wird?

LA ROQUETTE beiseite. Was will er denn nur mit den roten Tüchern von Limoges?

LEFÊVRE beiseite. Allerliebst! Der Industriefreund ist La Roquette.

LA ROQUETTE. Ich glaube, es ist eine sündhafte Theaterangelegenheit – zweihundertundsiebzig Bürger wünschen in jenem Papiere –

LIONNE. Eine Kleinigkeit. Das Verbot des Tartüffe!

LEFÊVRE UND DUBOIS. Ist's möglich?[185]

LA ROQUETTE. Ganz recht – man glaubt, daß es in Frankreich Anstoß erregen dürfte, wenn man dem Spottgelächter durch Schauspiele alle aufrichtigen Bekenner der Religion preisgibt –

LEFÊVRE. Alle, Herr Präsident? Nur einen!

LA ROQUETTE. Wen?

DUBOIS. Der gleichsam die ganze Gattung repräsentiert –

LA ROQUETTE. Sagen Sie, der die Religion selbst vertritt! Jene zweihundertundsiebzig Bürger finden in diesen Attentaten auf das Heiligste der Erde etwas Anstößiges und bitten den Polizeiminister, die Aufführung des Tartüffe zu verbieten.

LIONNE. Ich suche in der Liste vergeblich einen Namen, den Ihrigen, La Roquette.

LA ROQUETTE. Nach meinem Glauben steht die Sache der Religion zu fest, als daß sie durch Baalspriester verlieren könnte.

LIONNE. Brav, La Roquette! Teilen Sie Ihren Klienten ganz dieselbe Antwort mit. Der Tartüffe von Molière wird in drei Tagen gegeben werden.

LA ROQUETTE. In drei – Tagen –?

LEFÊVRE. Die Schauspieler haben so gut gelernt, daß sie nur noch wenig Proben nötig haben. Besonders geht die Szene mit dem Tuche sehr gut –

LA ROQUETTE. Welche?

LEFÊVRE. Kommen mehrere Tuchszenen vor?

LA ROQUETTE. Meine Herren, ich wiederhole, was ich jenen zweihundertundsiebzig der ersten und angesehensten Bürger von Paris sagte, daß die Religion den Spott eines Gauklers nicht zu fürchten hat –

DUBOIS. Aber dieser Gaukler soll viel Geist und ein sehr großes Nachahmungstalent haben.

LA ROQUETTE. Das werden Sie bald selbst erfahren – Wissen Sie nicht, daß nach glücklichem Erfolge des Tartüffe sein nächstes Sujet der »Kranke in der Einbildung« sein wird?

DUBOIS. Molière wird kranke Menschen nicht verspotten.

LA ROQUETTE. Die Kranken nicht, aber die Ärzte.

DUBOIS. Was sollte Molière an den Ärzten zu tadeln haben?

LA ROQUETTE. Lassen Sie sich die zwei ersten Akte eines Lustspielchens geben, das Molière bei Ninon de Lenclos vorgelesen hat. Binnen wenig Monaten werden nicht nur die Tartüffes, sondern auch die Diafoirus dem Gelächter von Paris preisgeben sein.

DUBOIS. Wer ist Diafoirus?

LA ROQUETTE. Der größte Ignorant in der Medizin, der sich jemals Doktor genannt hat, ein Quacksalber, der ohne Sinn und[186] Verstand die Menschen mit Purganzen umbringt, ein gewissenloser Küchenlateiner, der von der Fakultät in Montpellier für eine neue Gattung Pillen belobt wurde, die aus Brotkrumen gedreht wurden, für eine Tinktur, die Brunnenwasser war, für ein Pflaster, das aus ganz gewöhnlichem Pech bestand! Herr, binnen einem Jahr werden die Ärzte ihre Kutschen abschaffen müssen, und wo ein Kranker liegt und ein Arzt erscheint, da wird man den Arzt zur Tür hinauswerfen.

DUBOIS sieht nach seiner Uhr. Ich plaudre – und plaudre – man hat mir allerdings gesagt, daß bei Ninon über zwei Akte von Molière sehr anzüglich und in der Tat über uns Ärzte gelacht worden ist – aber, Exzellenz, hören Sie darauf gar nicht – die Bühne muß ihre Freiheit haben.

LA ROQUETTE. Und noch ein anderer Arzt kommt in jenem Lustspiel vor, ein gewisser Purgon, und ein Apotheker, namens Fleurant, der Blühende, weil Ärzte und Apotheker zusammen blühen und gedeihen, während die Kranken zugrunde gehen – und Purgon und Diafoirus haben sich beide den Tod geschworen, und mit Pillen und Latwergen liefern sie ihre Schlachten – in dem kranken Leichnam des armen Argant. Noch weiß ich nicht, ob Dubois mehr dem Diafoirus oder dem Purgon ähnlich sehen wird, aber das weiß ich, daß die Ärzte sich beeilen können, ihre goldgesegnete Praxis sicherzustellen; denn nach Molières »Krankem in der Einbildung« werden die Pariser nicht mehr wissen, wie man einen Arzt von einem Scharlatan unterscheidet.

DUBOIS. Exzellenz, allerdings sollte die Bühnenfreiheit gewisse Grenzen haben, die Molière, ein Mann, der mir am Unterleib zu leiden scheint, mit einem Wort ein Hypochonder, nicht überschreiten sollte. Indessen – allerdings – wenn man freilich – gesetzt auch – gewissermaßen – Es ist das nur so meine einfache, schlichte Meinung, Exzellenz. Ich habe die Ehre, guten Morgen zu wünschen.


Ab.


LEFÊVRE den Minister betrachtend, der die Adresse liest. Die Adresse scheint zu wirken. Herr Präsident hat Molière in seinem Pult auch ein Stück gegen die Advokaten liegen? Mich sollen Sie so bald nicht bekehren.

LA ROQUETTE. Herr Parlamentsrat, es sollte mir leid tun, wenn Sie glaubten, daß ich gegen Molière eingenommen bin und überhaupt das Verbieten von Büchern und Theatervorstellungen billigte. Indessen schätz' ich die Advokaten zu sehr – Bin ich doch selbst der Präsident eines Gerichtshofes –

LEFÊVRE. Molière wird die Advokaten nicht angreifen.

LA ROQUETTE. Er hat sie schon angegriffen.[187]

LEFÊVRE. Wo?

LA ROQUETTE. Im Tartüffe. Ich habe den Tartüffe gelesen.

LEFÊVRE. Wissen Sie, daß dem Dichter ein Exemplar gestohlen wurde?

LA ROQUETTE. In – der – Versammlung jener zweihundertsiebzig Bürger war ein Exemplar aufgeschlagen. Wie es dorthin gekommen, weiß ich nicht. Hier ist der Tartüffe.


Holt ein Buch in Kleinquart aus der Tasche.


LIONNE nimmt es. Das also ist das Werk, das uns in der Tat so ernst zu beschäftigen anfängt!

LEFÊVRE. Nun bin ich doch begierig, wo Molière hier auch die Advokaten und Notare lächerlich gemacht haben kann.

LA ROQUETTE. Vier Akte hindurch gilt der Jubel des Publikums jenem Scheinheiligen, in dessen Zeichnung sich kein in dem Herrn Gerechter wiedererkennen wird. Aber im fünften Akt dreht sich die Sache. Tartüffe hat durch Erbschleicherei – lesen Sie selbst – sich ein Kodizill zu verschaffen gewußt, das ihn in den Besitz eines bedeutenden Teils von Orgons Vermögen setzt. Die Justiz, im Bund mit der Scheinheiligkeit, wird dargestellt in der Person eines Herrn Loyal – Loyal, Advokat, Notar und erster Huissier am obersten Gerichtshof von – Konstantinopel oder Kalkutta, wo Sie wollen – wer wird da an Paris denken?

LEFÊVRE für sich. Sonderbar, ich bin Advokat, Notar und erster Huissier –

LA ROQUETTE. Akt fünf, Szene vier. Lesen Sie nur die salbungsvollen Worte, die Herr Molière dem Repräsentanten der Notare in den Mund legt, lesen Sie die Worte, die Herr Loyal von sich selber spricht: Ich bin der Herr Loyal, ja, aus der Normandie –

LEFÊVRE. Ich bin aus der Normandie! Beiseite. Ist das die Rache für die polizeiliche Leseprobe?

LA ROQUETTE. Herr Loyal setzt sein ganzes System erbärmlicher Schikanen auseinander, durch welches dieser Stand der Notare, wie Sie wissen, sich im Pariser Publikum einer so großen Popularität zu erfreuen hat. Glauben Sie, Exzellenz, daß das Parterre bei der Stelle weinen wird, wenn der arme geprellte und betrogene Orgon sagt – hier lesen Sie, Exzellenz – er gebe hundert Louisdor darum, wenn er dem rechtsverdrehenden Herrn Loyal geben dürft' einen Schlag, den er verspüren sollt' bis auf den Jüngsten Tag!

LEFÊVRE. Dieser Vers steht dort? Das ist arg von Molière! Ich habe nicht geglaubt, daß Molière darauf ausgeht, den Stand der Notare und Huissiers lächerlich zu machen. Exzellenz, [188] gewisse Grenzen muß die Bühne haben – Grenzen, die ein Mann, wie Molière, ein Mann, der sich ärgert, daß Fälle vorkommen, wo er Prozesse verliert, respektieren sollte.

LIONNE. Sie wünschen das Verbot des Tartüffe?

LEFÊVRE. Das nicht – keineswegs – allein – indessen – allerdings – wenn man freilich – gesetzt auch – ich habe die Ehre, mich gehorsamst zu empfehlen.


Ab.


LIONNE. Sie mögen in manchem Punkt recht haben, lieber Freund, und ich selbst gehöre am wenigsten zu denen, welche die Ausgelassenheit der Literatur billigen. Indessen Sie kennen den Lärm, den solche Verbote hervorrufen, Sie wissen, daß der König, wenn ihn auch Krieg, Administration und Bauten so einnehmen, daß er selbst wenig lesen kann, sich doch einen freien Sinn über die Interessen der Kunst erhalten hat; er liebt Molière –

LA ROQUETTE. Sr. Majestät dem König wird ohnehin die Aufführung des Tartüffe sehr schmeichelhaft sein –

LIONNE. Wieso dem – König?

LA ROQUETTE. Weil sich am Schluß des Stücks eine pikante Hinweisung auf ihn selber findet.

LIONNE. Auf Se. Majestät?

LA ROQUETTE. Eine Person des Stücks hat die Keckheit, Ludwig XIV. eine Art Triumph- und Lobrede von der Bühne herab zu halten.

LIONNE. Eine Person –? Doch wohl nicht gar –

LA ROQUETTE. Eine Dame? Das wäre sehr indiskret.

LIONNE. Präsident! Bleiben Sie bei der Sache – Molières Herz mag ihn hierin irregeleitet haben. Indessen gilt diese Lobrede doch wohl nur dem Gerechtigkeitssinn des Fürsten?

LA ROQUETTE. Die Schlußworte sprechen die Freude aus, daß Ludwig XIV. einfache, schlichte Religiosität dem gleißnerischen Treiben der Tartüffes vorzieht –

LIONNE. Die Freude, daß –? Hm!

LA ROQUETTE. Se. Majestät ist bis zur Stunde noch im Zweifel, was Sie vom Kampf gegen die Jansenisten, von unsern Missionen in den Provinzen, von den Ordensverbrüderungen denken sollen – nun nimmt sich bereits ein Schauspieler die Freiheit, ihm vor ganz Frankreich den Weg zu zeigen, den er im gegenwärtigen Kampf der Religion gegen die Weltlichkeit dieser Tage einschlagen soll!

LIONNE. Der König wird sich verletzt, beleidigt fühlen, wenn man sich erlaubt, aus seiner Seele heraus Theorien und Grundsätze zu proklamieren, die ihm, öffentlich auf der Bühne ausgesprochen, auf diese Art gleichsam zwangsweise zugemutet werden.[189]

LA ROQUETTE. Namentlich durch den Mund der Polizei!

LIONNE. Der Poli –?

LA ROQUETTE. Jene Lobrede hält dem König ein einfacher, biederer, gemütlicher Polizeikommissarius.

LIONNE sieht das Buch an. Polizeikommiss –?

LA ROQUETTE. Man wird nun in England sagen, wenn in Frankreich der König gelobt werden will, muß er die Polizei zu Hilfe rufen!

LIONNE. Wirklich die Popo – Popolizei? Auch die Polizei soll der Satire nicht mehr heilig sein? La Roquette, setzen Sie diese ehrenwerten Bürger von Paris in Kenntnis, daß ich mich bewogen fühle, an das Wohl der Menschheit zu denken. Wenn die Polizei nicht mehr sicher ist –! Genug, dies Buch werd' ich Molière, als durch meine Bemühungen aufgefunden, zurückstellen, aber mit dem Bemerken, daß ich im Interesse der einzig wahren Religion eines gebildeten Staates, im Interesse der Polizei, die Aufführung seines Tartüffe verbieten müsse!


Ab.


LA ROQUETTE triumphierend. Alle sind sie Tartüffes! Alle –! Ob in schwarzen Gewändern, ob heimlich oder offen, ob betend oder fluchend, ob vor Heiligen kniend oder vor schönen Weibern oder – vor ihrem eigenen Egoisums – alle sind sie Tartüffes! Der Sieg ist mein! Jetzt hab' ich nur noch die eine Frage: Duplessis, wie ist Molière zu deiner Geschichte gekommen? Bleibt in sinnender Überlegung stehen.


Der Vorhang fällt.


Quelle:
Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1912], S. 184-190.
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Das Urbild des Tartüffe
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