Mirene

[252] Mirene stand an einer Quelle,

Bei welcher schöne Veilchen blühn,

Und sah um rasche Wasserfälle

Die ungezählte Heerde ziehn.

Die zählte sie mit wenig Freude,

Und sprach: Kaum daß ich's dulden kann;

Bei allen Weibchen, die ich weide,

Treff' ich nur einen Widder an.


Will meine Mutter mich nur hören,

Ihr Schafe, so gelob' ich euch,

Ich will bald euer Wohl vermehren,

Und meines auch vielleicht zugleich.

Ich kenne schon aus eignem Triebe,

Wie ungerecht das Glück verfährt,

Wann es der Jugend und der Liebe

Die Freiheit und die Wahl verwehrt.


Nichts auf der Welt ist fast verliebter,

Als Damon, der sich mir geweiht:

Doch auf der Welt ist nichts betrübter,

Als seine trockne Zärtlichkeit.

Er folgt mir, wo ich geh' und stehe,

Und kennet noch nicht meine Brust.

Ein solches Leben gleicht der Ehe:

Allein, ihm fehlt noch ihre Lust.
[252]

Er schneidet in die nahen Linden

Wol zehnmal meines Namens Zug.

Die Mühe kann mich zwar verbinden,

Und ihm scheint auch mein Dank genug.

Mein Lob erklingt auf seiner Leier;

Mich wecket oft sein Saitenspiel:

Hingegen wird er nimmer freier,

Und ehret mich vielleicht zu viel.


Ich ehrt' und liebt' ihn selbst vor Zeiten:

Das aber that ich als ein Kind.

Nun wachs' ich auf, und gleiche Leuten,

Die klüger und erfahrner sind.

Wahr ist's: mir hat er sich verschrieben.

Soll ich daraus die Folge ziehn:

Ich müsse Damon ewig lieben,

Und keinen lieben, als nur ihn?


Will hier ein Schäfer sich erfreuen:

(Mich däucht, ich merk' es ziemlich oft,)

So führet er mich zu den Reihen,

Und tanzt und küßt mich unverhofft.

Ein einz'ger scheint mir zu gefallen.

Verräth mir Damon seinen Neid,

Ihr Schäfer: ja, so gönn ich allen

Den Kuß, den Damon mir verbeut.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 252-253.
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