Ein Erinnerungsblatt

[73] Das war der erste Lenztag dieses Jahrs!

Der Schnee zerschmolz, die Sonne leuchtete

ins Herz der Menschen wie zum ersten mal ...


Da sind auch wir zur Stadt hinausgegangen.

Uns wunderte der Erde Wandlung nicht,

wir wussten, dass es Frühling werden würde:

Frühling! Wars denn nicht lang schon so?


Der Wald

mit seinen schwarzen, kahlen Winterästen,

die nassen Wege und das faule Laub –

traurig und hässlich war es, doch die Sonne,

die Zauberin, mit ihren warmen Armen

umfasste sie die spröde Wintererde,

bis dass vor Glück sie lachte!


Weisst du, Ellen:

den Tag kann ich nun niemals mehr vergessen!

Ich will nicht sagen, was geschehen, was

dein Mund mir gab und sagte. Wenn du einst

dies Blatt, schon gelb, in deiner Mappe findest,

auch du wirst jenes Tages dich erinnern.
[74]

Du wirst gedenken, wie die Sonne sank,

und es uns doch immer lichter wurde –

du wirst gedenken, wie die Lippe schwieg,

und was das Herz, das Herz doch jubelnd sagte

Du wirst gedenken!


Wenn ich einst mit dir

den Pfad durch diese Welt gefunden habe,

dann wollen wir vereint dem Wandrer gleich,

der einen Berg hinangeht, oft sich wendet

und einen Blick ins schöne Thal hinabwirft,

dann wollen oft wir, Arm in Arm verschränkt,

zurückschaun auf die Schönheit jener Stunde.

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 73-75.
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