Ein Gesicht

[125] Du sitzt auf einem Stein und schweigst und schaust ..


Gewitterleuchtend zog die Nacht herauf.

Die Ebne, die vom Fusse des Gebirges

sich hinstreckt in den schwarzen Horizont,

sie lechzt und dürstet. Mit verhaltnem Athem

harrt sie des Wetters und der Regenfluthen.


Dort links, fern im Gefilde, wallumringt,

ragt eine Stadt mit steilem Thurm und Dächern.

Und sieh: herniederzüngelnd in den Thurm

einbiss der Blitz. Da springt die rothe Gluth

des Feuers jauchzend auf und greift im Tanz

berauscht umher und fasst die spitzen Giebel,

und düster leuchtets von den Wolken wieder.


– Du wendest deine heissen Augen ab.

Da siehst du rechts, im Berge einen Spalt,

ein gähnend Loch, schwarz, tief und ohne Ende.[126]

Aus rohen Blöcken ist ein Tisch gebildet

ein Grubenlicht mit grünlich mattem Schein

hängt schwelend von dem feuchten Felsen nieder:

und vor dem Tisch – auf einem Stein, wie du –

sitzt ein Skelett mit gelben, nackten Knochen,

und nur im Schoosse noch ein modernd Fleisch.

Nach vorn gebeugt, liest es in einem Buche,

und langsam wendets mit den Fingerknochen

die Seiten um. Schamlose Lasterbilder

bedecken, halbverbleicht, die braunen Blätter.

Und manchmal hält es an – klappt mit den Knien –

und knirscht und knackt mit lippenlosen Kiefern.


Ein Mädchenleib, geschändet und gemordet,

liegt nackt am Boden, neben dem Gerippe.

Unsicher nur beleuchtet ihn der Schein

der Grubenlampe, aber deutlich zittert

des alten Crucifixes schräger Schatten

auf ihren Brüsten. –

Eine dicke Kröte

klimmt aus dem Abgrund auf und kriecht gemach

nach vorn. Jetzt schlüpft sie auf die Mädchenleiche,

das Bein hinauf mit schleimig rother Spur.

Sie setzt auf ihrer Hüfte sich zurecht

und glotzt mit ihren grossen, runden Augen

in deine Augen her ...[127]

Da peitscht der Sturm

glühend vorbei. Nur eine Fackel noch,

leuchtet und raucht die Stadt von der Ebne her.

Vorwärts wüthet der Sturm, und die dorrenden Gräser

flackern in seinem Hauche. Vorwärts, vorwärts,

auf dich wälzt sich allmächtig die Fluth – vor den Augen

loht es und sprüht es – ein Meer.


Was du geschaut hast, es ertrinkt im Blut der Flammen.

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 125-128.
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