II

[57] Als wir eine Stunde später zu dreien im Löwenbräu saßen und der Vetter sich auf einen Augenblick entfernt hatte, beugte sich Lore zu mir herüber und fragte eifrig:

– Ist er dein richtiger Vetter?

Ich dachte nach und improvisierte à la Shakespeare:


Meist ist man ja vom Richtigen entfernt:

Drum laß uns das Entfernte richtig nennen

Und richtig – grade den entfernten Vetter!


– Aber du – er ist doch aus guter Familie?

– Aber Lore – ich bitte dich: wie würd' ich mir denn sonst erlauben, ihn mit dir zusammenzuführen! Er ist sogar Vizefeldwebel.

Das zog. Sie hatte es – mir eigentlich nie verzeihen können, daß ich trotz meiner Schulterbreite als Reichskrüppel durchs Leben irrte; als der Vetter jetzt mit seinen großen, strammen Schritten sich dem Tische wieder näherte, empfing ihn die Lore mit einem so hellen Blick offenherziger Bewunderung, daß er mit einer eckigen, unfreiwilligen Bewegung ihre Hand faßte und herzlich drückte. – Die Situation fing an, stumm sentimental zu werden. Ich hielt es für passend, den Herrschaften eine Geschichte aus dem Soldatenleben zum besten zu geben. Mein Freund Malmos, der neulich auch den Vizefeldwebel erklettert, hatte sie mir erst vor kurzem berichtet.

Zwischen Soldaten seines Regiments und Arbeitern[58] war es zu einer Schlägerei gekommen, bei der ein Arbeiter totgestochen war. Der Herr Hauptmann von So und So nahm daraus am andern Morgen die Veranlassung zu einer kurzen Ansprache an die Soldaten. Dabei sagte er:

– Übrigens ist es mir einfach unverständlich, wie so etwas überhaupt passieren kann! Ein anständiger Mensch sollte sich doch mit diesen Viechkerlen von Zivilisten überhaupt nicht gemein machen. Wenn mir einer auf dem Trottoir entgegenkommt, mach' ich sofort einen weiten Bogen über den Fahrdamm.

Diese Geschichte amüsierte die liebe Lore ganz fabelhaft. In einem drolligen, phantastischen Leutnantsschnarrton wiederholte sie immer wieder: mit ›diesen Viechkerlen von Zivilisten‹ ... Entzückend fand sie das.

– Aber du – wandte sie sich dann zu mir – du solltest das lieber nicht erzählen – du verulkst dich ja selber!

Entweder sie war dem Vetter – oder er der Lore nähergerückt – so nahe, daß ihre Arme nicht mehr nebeneinander auf dem Tische Platz hatten und er ihre Finger bequem in der Hand behalten konnte. Ich hatte meinen Stuhl nach meiner Gewohnheit schräg an den Tisch gestellt – ihnen gegenüber – und zurückgelehnt betrachtete ich die beiden ›jungen Leute‹ wohlwollend von der Seite. Ich versuchte mich in jene bewußte Liebenswürdigkeit hineinzufühlen, die weiland König Marke – nur leider zu spät[59] – für die Liebenden zu empfinden gelernt hatte. Es ging ganz gut ...

– Aber recht hat sie – dacht ich bei mir – das Soldatische hätt ich nun doch schlauerweise aus dem Spiele lassen sollen. Ich Schaf.

Nach einiger Zeit kam die Reihe, sich ein Weniges zu entfernen, an die Lore. Mein Vetter legte die Stirn in Falten, und nach einer ernsten Pause ›zwischen zwei Männern‹ fragte er, mich gerade anblickend, gewichtig und korrekt:

– Oder legst du noch Wert darauf?

Drauf ich in düsterer Entschlossenheit:

– Nein. – Ne bis in idem. –

Ein stummer Händedruck, als wollte er mich in meiner Fassung bestärken – aber da stand ja die Lore schon! Sie hatte die letzten Worte gehört. Mißtrauisch fragte sie:

– Was heißt das: ne bis in idem?

– Das heißt – sagte ich schwermütig – des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder ...


Wir standen auf dem Gensdarmenmarkt. Es war ein Uhr.

– Von der Bergstraße bis zur Hollmannstraße – nein, mein lieber Freund – das wäre ja nachher ein unmenschlicher Weg für dich. Abgesehen davon – dein Vetter ist ja so freundlich und ...

– Und einer genügt wohl – fügte dieser hinzu.

Ich unterdrückte die Bemerkung, daß von der Bergstraße nach Charlottenburg doch auch ein[60] ganz tüchtiger Weg sei und schien mich der Ansicht meines logischeren Vetters zuzuneigen:

– Ja – wenn du wirklich meinst, daß einer genügt ...

– Gewiß, gewiß. Gute Nacht, gute Nacht.

Und indem sie lachend den Arm des Vizefeldwebels nahm, rief sie zurück:

– Überhaupt – ein anständiger Mensch soll sich mit diesen Viechkerlen von Zivilisten nicht gemein machen!


Fort waren sie. Ich ging allein nach Hause, die menschenleere Charlottenstraße entlang.

Und während ich so einsam heimwärts wanderte, macht' ich mir meine eigenen Gedanken über – na, vorzugsweise wohl über ›den Eigentumserwerb des Finders‹. Er fing an, mir problematisch zu werden.

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Berlin 1913, S. 57-61.
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