10. Belsazar

[52] Die Mitternacht zog näher schon;

In stiller Ruh' lag Babylon.


Nur oben in des Königs Schloß,

Da flackert's, da lärmt des Königs Troß.


Dort oben in dem Königssaal

Belsazar hielt sein Königsmahl.


Die Knechte saßen in schimmernden Reihn,

Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.


Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht';

So klang es dem störrigen Könige recht.


Des Königs Wangen leuchten Glut;

Im Wein erwuchs ihm kecker Mut.


Und blindlings reißt der Mut ihn fort;

Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.


Und er brüstet sich frech, und lästert wild;

Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.
[52]

Der König rief mit stolzem Blick;

Der Diener eilt und kehrt zurück.


Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;

Das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.


Und der König ergriff mit frevler Hand

Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.


Und er leert ihn hastig bis auf den Grund,

Und rufet laut mit schäumendem Mund:


»Jehova! dir künd ich auf ewig Hohn –

Ich bin der König von Babylon!«


Doch kaum das grause Wort verklang,

Dem König ward's heimlich im Busen bang.


Das gellende Lachen verstummte zumal;

Es wurde leichenstill im Saal.


Und sieh! und sieh! an weißer Wand

Da kam's hervor wie Menschenhand;


Und schrieb, und schrieb an weißer Wand

Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.


Der König stieren Blicks da saß,

Mit schlotternden Knien und totenblaß.


Die Knechtenschar saß kalt durchgraut,

Und saß gar still, gab keinen Laut.


Die Magier kamen, doch keiner verstand

Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.


Belsazar ward aber in selbiger Nacht

Von seinen Knechten umgebracht.
[53]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 52-54.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Buch der Lieder
Buch der Lieder
Buch der Lieder: Hamburg 1827
Buch der Lieder: Vollständige Ausgabe nach dem Erstdruck von 1827
Buch der Lieder (Fischer Klassik)
Buch der Lieder.

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon