16.

Die Unbekannte

[295] Meiner goldgelockten Schönen

Weiß ich täglich zu begegnen,

In dem Tuileriengarten,

Unter den Kastanienbäumen.


Täglich geht sie dort spazieren,

Mit zwei häßlich alten Damen –

Sind es Tanten? Sind's Dragoner,

Die vermummt in Weiberröcken?


Niemand konnt mir Auskunft geben,

Wer sie sei. Bei allen Freunden

Frug ich nach, und stets vergebens!

Ich erkrankte fast vor Sehnsucht.
[295]

Eingeschüchtert von dem Schnurrbart

Ihrer zwei Begleiterinnen,

Und von meinem eignen Herzen

Noch viel strenger eingeschüchtert,


Wagt ich nie ein seufzend Wörtchen

Im Vorübergehn zu flüstern,

Und ich wagte kaum mit Blicken

Meine Flamme zu bekunden.


Heute erst hab ich erfahren

Ihren Namen. Laura heißt sie,

Wie die schöne Provenzalin,

Die der große Dichter liebte.


Laura heißt sie! Nun da bin ich

Just so weit wie einst Petrarca,

Der das schöne Weib gefeiert

In Kanzonen und Sonetten.


Laura heißt sie! Wie Petrarca

Kann ich jetzt platonisch schwelgen

In dem Wohllaut dieses Namens –

Weiter hat er's nie gebracht.


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 295-296.
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