2.

[137] »Bei den Wassern Babels saßen

Wir und weinten, unsre Harfen

Lehnten an den Trauerweiden« –

Kennst du noch das alte Lied?


Kennst du noch die alte Weise,

Die im Anfang so elegisch

Greint und sumset, wie ein Kessel,

Welcher auf dem Herde kocht?


Lange schon, jahrtausendlange

Kocht's in mir. Ein dunkles Wehe!

Und die Zeit leckt meine Wunde,

Wie der Hund die Schwären Hiobs.


Dank dir, Hund, für deinen Speichel –

Doch das kann nur kühlend lindern –

Heilen kann mich nur der Tod,

Aber, ach, ich bin unsterblich!


Jahre kommen und vergehen –

In dem Webstuhl läuft geschäftig

Schnurrend hin und her die Spule –

Was er webt, das weiß kein Weber.
[137]

Jahre kommen und vergehen,

Menschentränen träufeln, rinnen

Auf die Erde, und die Erde

Saugt sie ein mit stiller Gier –


Tolle Sud! Der Deckel springt –

Heil dem Manne, dessen Hand

Deine junge Brut ergreifet

Und zerschmettert an der Felswand.


Gott sei Dank! die Sud verdampfet

In dem Kessel, der allmählich

Ganz verstummt. Es weicht mein Spleen,

Mein westöstlich dunkler Spleen –


Auch mein Flügelrößlein wiehert

Wieder heiter, scheint den bösen

Nachtalp von sich abzuschütteln,

Und die klugen Augen fragen:


»Reiten wir zurück nach Spanien

Zu dem kleinen Talmudisten,

Der ein großer Dichter worden,

Zu Jehuda ben Halevy?«


Ja, er ward ein großer Dichter,

Absoluter Traumweltsherrscher

Mit der Geisterkönigskrone,

Ein Poet von Gottes Gnade,


Der in heiligen Sirventen,

Madrigalen und Terzinen,

Kanzonetten und Ghaselen

Ausgegossen alle Flammen
[138]

Seiner gottgeküßten Seele!

Wahrlich ebenbürtig war

Dieser Troubadour den besten

Lautenschlägern der Provence,


Poitous und der Guienne,

Roussillons und aller andern

Süßen Pomeranzenlande

Der galanten Christenheit.


Der galanten Christenheit

Süße Pomeranzenlande!

Wie sie duften, glänzen, klingen

In dem Zwielicht der Erinnrung!


Schöne Nachtigallenwelt!

Wo man statt des wahren Gottes

Nur den falschen Gott der Liebe

Und der Musen angebeten.


Clerici mit Rosenkränzen

Auf der Glatze sangen Psalmen

In der heitern Sprache d'oc;

Und die Laien, edle Ritter,


Stolz auf hohen Rossen trabend,

Spintisierten Vers und Reime

Zur Verherrlichung der Dame,

Der ihr Herze fröhlich diente.


Ohne Dame keine Minne,

Und es war dem Minnesänger

Unentbehrlich eine Dame,

Wie dem Butterbrot die Butter.
[139]

Auch der Held, den wir besingen,

Auch Jehuda ben Halevy

Hatte seine Herzensdame;

Doch sie war besondrer Art.


Sie war keine Laura, deren

Augen, sterbliche Gestirne,

In dem Dome am Karfreitag

Den berühmten Brand gestiftet –


Sie war keine Chatelaine,

Die im Blütenschmuck der Jugend

Bei Turnieren präsidierte

Und den Lorbeerkranz erteilte –


Keine Kußrechtskasuistin

War sie, keine Doktrinärrin,

Die im Spruchkollegium

Eines Minnehofs dozierte –


Jene, die der Rabbi liebte,

War ein traurig armes Liebchen,

Der Zerstörung Jammerbildnis,

Und sie hieß Jerusalem.


Schon in frühen Kindestagen

War sie seine ganze Liebe;

Sein Gemüte machte beben

Schon das Wort Jerusalem.


Purpurflamme auf der Wange,

Stand der Knabe, und er horchte,

Wenn ein Pilger nach Toledo

Kam aus fernem Morgenlande
[140]

Und erzählte: wie verödet

Und verunreint jetzt die Stätte,

Wo am Boden noch die Lichtspur

Von dem Fuße der Propheten –


Wo die Luft noch balsamieret

Von dem ew'gen Odem Gottes –

»O des Jammeranblicks!« rief

Einst ein Pilger, dessen Bart


Silberweiß hinabfloß, während

Sich das Barthaar an der Spitze

Wieder schwärzte und es aussah,

Als ob sich der Bart verjünge –


Ein gar wunderlicher Pilger

Mocht es sein, die Augen lugten

Wie aus tausendjähr'gem Trübsinn,

Und er seufzt': »Jerusalem!


Sie, die volkreich heil'ge Stadt

Ist zur Wüstenei geworden,

Wo Waldteufel, Werwolf, Schakal

Ihr verruchtes Wesen treiben –


Schlangen, Nachtgevögel nisten

Im verwitterten Gemäuer;

Aus des Fensters luft'gem Bogen

Schaut der Fuchs mit Wohlbehagen.


Hier und da taucht auf zuweilen

Ein zerlumpter Knecht der Wüste,

Der sein höckriges Kamel

In dem hohen Grase weidet.
[141]

Auf der edlen Höhe Zions,

Wo die goldne Feste ragte,

Deren Herrlichkeiten zeugten

Von der Pracht des großen Königs:


Dort, von Unkraut überwuchert,

Liegen nur noch graue Trümmer,

Die uns ansehn schmerzhaft traurig,

Daß man glauben muß, sie weinten.


Und es heißt, sie weinten wirklich

Einmal in dem Jahr, an jenem

Neunten Tag des Monats Ab –

Und mit tränend eignen Augen


Schaute ich die dicken Tropfen

Aus den großen Steinen sickern,

Und ich hörte weheklagen

Die gebrochnen Tempelsäulen.« – –


Solche fromme Pilgersagen

Weckten in der jungen Brust

Des Jehuda ben Halevy

Sehnsucht nach Jerusalem.


Dichtersehnsucht! ahnend, träumend

Und fatal war sie, wie jene,

Die auf seinem Schloß zu Blaye

Einst empfand der edle Vidam,


Messer Geoffroy Rudello,

Als die Ritter, die zurück

Aus dem Morgenlande kehrten,

Laut beim Becherklang beteuert:
[142]

Ausbund aller Huld und Züchten,

Perl' und Blume aller Frauen,

Sei die schöne Melisande,

Markgräfin von Tripolis.


Jeder weiß, für diese Dame

Schwärmte jetzt der Troubadour;

Er besang sie, und es wurde

Ihm zu eng im Schlosse Blaye.


Und es trieb ihn fort. Zu Cette

Schiffte er sich ein, erkrankte

Aber auf dem Meer, und sterbend

Kam er an zu Tripolis.


Hier erblickt' er Melisanden

Endlich auch mit Leibesaugen,

Die jedoch des Todes Schatten

In derselben Stunde deckten.


Seinen letzten Liebessang

Singend, starb er zu den Füßen

Seiner Dame Melisande,

Markgräfin von Tripolis.


Wunderbare Ähnlichkeit

In dem Schicksal beider Dichter!

Nur daß jener erst im Alter

Seine große Wallfahrt antrat.


Auch Jehuda ben Halevy

Starb zu Füßen seiner Liebsten,

Und sein sterbend Haupt, es ruhte

Auf den Knien Jerusalems.
[143]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 137-144.
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