[241] Eine alte Fabel
»Ich laß nicht die Kindlein, wie Pharao,
Ersäufen im Nilstromwasser;
Ich bin auch kein Herodestyrann,
Kein Kinderabschlachtenlasser.
Ich will, wie einst mein Heiland tat,
Am Anblick der Kinder mich laben;
Laß zu mir kommen die Kindlein, zumal
Das große Kind aus Schwaben.«
[241]
So sprach der König; der Kämmerer lief,
Und kam zurück und brachte
Herein das große Schwabenkind,
Das seinen Diener machte.
Der König sprach: »Du bist wohl ein Schwab'?
Das ist just keine Schande.«
»Geraten!« erwidert der Schwab', »ich bin
Geboren im Schwabenlande.«
»Stammst du von den Sieben Schwaben ab?«
Frug jener. »Ich tu abstammen
Nur von einem einz'gen«, erwidert der Schwab',
»Doch nicht von allen zusammen.«
Der König frug ferner: »Sind dieses Jahr
Die Knödel in Schwaben geraten?«
»Ich danke der Nachfrag'«, antwortet der Schwab',
»Sie sind sehr gut geraten.«
»Habt ihr noch große Männer?« frug
Der König. »Im Augenblicke
Fehlt es an großen«, erwidert der Schwab',
»Wir haben jetzt nur dicke.«
»Hat Menzel«, frug weiter der König, »seitdem
Noch viel Maulschellen erhalten?«
»Ich danke der Nachfrag'«, erwidert der Schwab',
»Er hat noch genug an den alten.«
Der König sprach: »Du bist nicht so dumm,
Als wie du aussiehst, mein Holder.«
»Das kommt«, erwidert der Schwab', »weil mich
In der Wiege vertauscht die Kobolder.«
[242]
Der König sprach: »Es pflegt der Schwab'
Sein Vaterland zu lieben –
Nun sage mir, was hat dich fort
Aus deiner Heimat getrieben?«
Der Schwabe antwortet: »Tagtäglich gab's
Nur Sauerkraut und Rüben;
Hätt meine Mutter Fleisch gekocht,
So wär ich dort geblieben.«
»Erbitte dir eine Gnade«, sprach
Der König. Da kniete nieder
Der Schwabe und rief: »O geben Sie, Sire,
Dem Volke die Freiheit wieder!
Der Mensch ist frei, es hat die Natur
Ihn nicht geboren zum Knechte –
O geben Sie, Sire, dem deutschen Volk
Zurück seine Menschenrechte!«
Der König stand erschüttert tief –
Es war eine schöne Szene; –
Mit seinem Rockärmel wischte sich
Der Schwab' aus dem Auge die Träne.
Der König sprach endlich: »Ein schöner Traum! –
Leb wohl, und werde gescheiter;
Und da du ein Somnambülericht,
So geb ich dir zwei Begleiter,
Zwei sichre Gendarmen, die sollen dich
Bis an die Grenze führen –
Leb wohl! Ich muß zur Parade gehn,
Schon hör ich die Trommel rühren.«
[243]
So hat die rührende Audienz
Ein rührendes Ende genommen.
Doch ließ der König seitdem nicht mehr
Die Kindlein zu sich kommen.
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