Fortsetzung des Dokumentes

[36] Tania, Ina, Katja, wie gut daß ihr fort und in Sicherheit seid. Ihr wißt nicht, wie furchtbar es ist, wehrlos zu sein und[36] gewaltsame Hände auf sich zu fühlen. Der Tod im Krieg muß ein Glück dagegen sein.

Als wir das Auto verlassen hatten, wurde mir in einem düsteren und unsauberen Hausgang die Binde abgenommen, darauf begann eine ziemlich lange Wanderung, treppauf, treppab, durch Korridore und Kammern, und wir kamen mehrmals an Wachtposten vorüber, denen jedesmal ein Passierschein gezeigt werden mußte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß eine Flucht durch diese verzwickten Gänge und an den vielen Posten vorbei jemals Aussicht auf Erfolg haben könnte. Unterwegs gesellte sich der Schließer zu uns, ein älterer kräftiger Mensch mit einem hängenden blonden Schnurrbart, dem Aussehen und der Aussprache nach gleichfalls ein Lette. Vor der Tür der zu meiner Aufnahme bestimmten Kammer blieben wir stehen, hier wurde ich dem Schließer offiziell übergeben, der nunmehr aufschloß, mich einzutreten aufforderte und mir in der Kammer eine hölzerne Pritsche anwies mit einem zerfetzten Strohsack darauf. Er gab mir in gleichgültigem Ton in seinem schlechten Russisch einige allgemeine Verhaltungsvorschriften und verließ die Kammer, ohne auch nur einen Blick auf meine Mitgefangenen geworfen zu haben. Nun fand ich Zeit, diesen meine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ich sah alsbald, daß ich die Zelle mit sechs anderen zu teilen hatte. Zaudernd und nicht ohne gegenseitiges Mißtrauen machten wir Bekanntschaft miteinander. Ich gebe eine kurze Liste.

1. Ein Kaufmann von mittleren Jahren, namens Wawíloff. Er trug einen guten Sakkoanzug, der freilich jetzt beschmutzt genug aussah. Er machte dabei einen wohlhabenden Eindruck, nur war sein Mund völlig zahnlos. Es erwies sich, daß die Patrouille, die seine Arretierung vollzogen, ihm die goldene Gaumenplatte aus dem Mund genommen hatte. Wawíloff besaß Frau und Kinder und war überzeugt, daß diese noch nichts von seinem Aufenthaltsort wußten. Er konnte nie von den Seinen sprechen, ohne mit den Tränen kämpfen zu müssen. Er besaß einen Teddy-Fuchs, den er am Tag seiner Verhaftung für sein Töchterchen eingetauscht hatte; diesen hielt er unter[37] seinem Kopfkissen verborgen, holte ihn zuweilen hervor und ließ seine Tränen auf das rötliche Fell tropfen.

2. Ein Hotelbesitzer, namens Stoltze. Ein dicker, dabei sehr gewandter Mensch, Junggeselle und ohne Angehörige, grob und energisch. Er hatte sich an den Gedanken seines bevorstehenden Todes gewöhnt und gönnte sich das Vergnügen, die Angestellten der Tscheká, sobald er nur mit ihnen zusammentraf, mit Witzen zu reizen und sie auf die empfindlichste Weise lächerlich zu machen.

3. Ein Geistlicher, Vater Nikolai. Er trug sein geistliches Gewand, doch hatten ihm die Tschekisten, um ihn zu ärgern, das Haar gestutzt. Ein stiller und sehr gedrückter Mensch, der viel betete und sich beständig bekreuzte. Er soll das Altargerät seiner Kirche in Petrosawódsk heimlich in der Erde vergraben haben – jetzt wurde er fast täglich zum Verhör geführt, weil er die Stelle verraten sollte. Die Leute schienen ihm arg zuzusetzen, denn er kam jedesmal furchtbar verängstigt und verschüchtert zurück.

4. Ein junger Soldat – Márkof – mit einem ziemlich einfältigen Gesichtsausdruck, aber wunderschönen tiefblauen Augen. Da er in mir den Offizier erkannte, sprang er sofort auf und stand stramm. Er hat mich auch nie anders als mit »Euer Hochwohlgeboren« angeredet. Von der ersten Stunde an schlössen wir Freundschaft und ich danke Gott dafür, mir in den letzten Tagen meines Lebens diesen rührenden Menschen zugeführt zu haben.

5. Ein jüdischer Handlungsreisender, der sich Fiálkin nannte. Blaß, verwahrlost, mit nervösen Zuckungen im Gesicht, leidenschaftlich religiös, ein tief unglückliches Wesen mit Anfällen von Verzweiflung und Todesangst, im Verlauf welcher er in ein wildes alttestamentliches Pathos verfiel.

6. Kóschkin, ein anarchistischer Agitator. Klein und schmächtig von Gestalt, mit finsterem Gesichtsausdruck und unerschütterlich ruhig. Wenn er uns seine anarchistischen Ideen auseinandersetzte, geschah es mit einer solchen Sicherheit des Tones, als verkünde er ein Evangelium.

Noch im Lauf des ersten Tages fand Márkof Zeit, mir eine[38] dringende Warnung zuzuflüstern. Er behauptete nämlich genau zu wissen, daß sich ein Beamter der Tscheká als Mitgefangener bei uns befinde, bezeichnen aber konnte er ihn nicht.

Man kann leicht einsehen, welch eine fürchterliche Stimmung der Spannung und des Mißtrauens unter uns herrschen mußte, falls Márkof recht hatte. Gewiß hat ein jeder unter uns stunden- und tagelang die Frage mit sich herumgewälzt: welcher von den sechsen ist es denn? Ich selbst konnte es doch in den Augen der anderen ebensogut sein, wie sie es in den meinigen sein mochten. Aber wer? wer denn nur? Márkof auf keinen Fall – er war auch gewiß für eine solche Aufgabe nicht gebildet genug. Und dann hing an ihm der charakteristische russische Soldatengeruch – eine Mischung von Luft, gesundem Schweiß und Machórka (etwa Knaster) – und ich kann mir eine Schlauheit nicht denken, die so weit ginge, sogar Geruch zu simulieren. – Der Geistliche konnte auch nicht in Betracht kommen ... aber wußte ich denn, ob er wirklich Geistlicher war? – Wawíloff? die Geschichte mit der Gaumenplatte konnte eine Finte sein. – Der Jude Fiálkin? er hätte ein Schauspieler höchsten Ranges sein müssen, um seine Rolle so durchführen zu können – aber ein solcher Schauspieler wäre gewiß auf der Bühne tätig und hockte nicht als elender Spion in einer elenden Gefängniszelle. – Am meisten Verdacht hatte ich gegen Stoltze und Kóschkin ... der letztere war so ungeheuer beherrscht, der erstere so ungeheuer frech gegen die Tscheká-Beamten ... ich beschloß, allen zu mißtrauen, vor den letzten beiden aber besonders auf der Hut zu sein. Eines war sicher: sollten diese Notizen unentdeckt bleiben, so sind Márkof und Wawíloff keine Spione, denn nur diese wußten um ihr Vorhandensein.

Márkof war wohl – von dem unbekannten Spion abgesehen – der einzige unter uns, der sich nicht in Lebensgefahr befand. Er hatte in einer Badestube mit einem nackten Fremden Krakehl gemacht und ihn mit verschiedenen kräftigen Schimpfworten belegt – nachher stellte sich dieser Fremde heraus als ein bolschewistischer Kommissar. Da es nur bei Schimpfworten geblieben war, konnte man sicher sein, daß Márkof in die[39] rote Armee gesteckt würde – für einen Soldaten ein immerhin erträgliches Los. Wir anderen waren schlimmer dran. Ein Offizier, ein Geistlicher, zwei Geschäftsleute und ein Anarchist, es brauchte nur irgendwo ein Attentat auf einen Bolschewikenführer zu glücken, so waren wir rettungslos verloren: wir wurden als Geiseln erschossen. Wir sahen uns also gezwungen, uns mit dem Tode innerlich auseinanderzusetzen – und ein jeder tat das auf seine Weise.

Wenn mich Tania oder mein Vater oder sonst ein geliebter und naher Mensch damals gefragt hätte, ob ich mich vor dem Tode ängstigte, so hätte ich Ja sagen müssen. Ich glaube, jedermann hat Angst vor dem Tode und wer das Gegenteil behauptet, ist ein Lügner oder ein Prahler. Aber im Krieg hatte ich an mir selbst einen Unterschied erfahren: wenn ich während einer Lebensgefahr, zum Beispiel während der Schlacht, dienstlich zu tun hatte, so kam die Angst nicht auf – man war allzu beschäftigt und hatte keine Zeit. Mußte man dagegen in Untätigkeit der Todesgefahr gegenüberstehen, so hatte man selbstverständlich Angst, und zwar zuweilen bis zum kalten Schweiß oder Schüttelfrost. In meinem Fall war es aber gerade das, was mir bevorstand: ein Tod aus der Wehrlosigkeit und der Untätigkeit heraus. Ich mußte mir also ein Tun vornehmen, eine Aufgabe stellen, um den Tod überhaupt mit der hier gebotenen Ruhe ertragen zu können. Diese Aufgabe fand ich denn auch. Ich sagte mir: mag geschehen, was da wolle, ich darf meine Angst vor diesen Bolschewikenhunden nicht zeigen, ich muß meine Mienen bewachen, um ein heiteres Gesicht sehen zu lassen, meine Hände bewachen, daß sie nicht zittern, meine Stimme bewachen, daß sie klar und ruhig klinge und nichts verrate. Diese Vorstellungen – Gesicht, Hände, Stimme – rekapitulierte ich mir während der ersten Tage so oft, daß ich immer sicherer und sicherer wurde, meinen Willen durchsetzen zu können. Schon während der ersten Verhöre hatte ich reiche Gelegenheit, mich in der Selbstbeherrschung zu üben. Nun, wenn Gott will, so wird es schon gelingen.

In unsrer Zelle wurde überhaupt viel vom Tode gesprochen. Márkof war der einzige, der für sich nicht dran glaubte. Er[40] pflegte sich am Kopf zu kratzen und zu äußern, er ginge zur Roten Armee. Kóschkin lächelte finster und meinte, die Bolschewiken könnten ihn zehnmal umbringen, aber recht bekommen könnten sie nicht – er behielte recht mit seinem klugen Anarchismus und sie blieben ewig im Unrecht mit ihrem blöden Kommunismus. Mir kam das verwunderlich vor; man muß schon einen seltsam theoretischen verschrobenen Kopf auf den Schultern tragen, um im bloßen Rechthaben einen Trost zu finden. Stoltze renommierte und machte zuweilen sogar gute Witze, über die man freilich nicht lachen konnte. Der Geistliche schlug Kreuze und betete mit zitternden Lippen. Wawíloff weinte bloß. Am schauerlichsten war es, wenn Fiálkin von der Todesangst befallen wurde. Dann drückte er sich in einen Winkel und saß da, blaß und mit brennenden Augen, die furchtbare und entsetzliche Dinge zu sehen schienen, und stieß mit hohler und brechender Stimme Verwünschungen gegen die Kinder Israels aus, die den Glauben ihrer Väter verrieten und diesen blutigen gottlosen Hunden Vorschub leisteten. Fiálkin schien es offenbar am schrecklichsten zu empfinden, daß es unter den Bolschewiken auch Juden gab, und zwar in nicht geringer Zahl; wenigstens richteten sich seine Wutausbrüche viel grimmiger gegen die jüdischen Bolschewiken als gegen die Russen, Letten oder Finnen.

Das erste Verhör. Als ich nach der ersten, sehr unruhig verbrachten Nacht ziemlich spät erwachte, sah ich den Schließer vor mir stehen, der mich wachrüttelte und mir mit grober Stimme zuschrie: »Steh auf, mach schnell, zum Verhör.« Vor der Zellentür unterschied ich die Gestalten einiger Bewaffneten. Ich machte mich rasch und notdürftig zurecht und ließ mich von der Patrouille in die Mitte nehmen. Es wiederholte sich eine ähnliche Wanderung wie die gestrige über Treppen und durch Gänge und Winkelgänge, wobei immer die gleiche Prozedur mit den Wachtposten und dem Passierschein vor sich ging, bis wir ein unbehagliches Vorzimmer erreichten, in dem ich mit den Soldaten warten mußte, während der Anführer ein Nebengemach betrat, von wo er nach etwa fünf Minuten zurückkehrte und mir den Wink gab, einzutreten. Ich tat das[41] und befand mich in einer großen kahlen Kanzleistube, deren einzigen sogenannten Schmuck die lebensgroßen Porträts Lenins und Trotzkis bildeten. Sonst hingen an der Wand nur zwei Plakate: auf dem einen größeren war die Gestalt eines Arbeiters in einer roten Lohe zu sehen und darüber die Worte: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch«; das andere kleinere enthielt nur die Weisung: »Der Händedruck ist abgeschafft.« Was mich aber vor allem interessierte, waren die Gestalten meiner »Richter« an der hinteren Seite eines großen grünbezogenen und mit Akten bedeckten Tisches. Es waren ihrer Drei: in der Mitte saß ein hagerer Mensch mit Schnurr- und Spitzbart, den ich alsbald an seiner Aussprache als Polen erkannte; links von ihm der Genosse Kristmans; rechts ein orientalisch aussehender Jüngling mit dem bläulichen Schimmer auf den rasierten Backen, der von starkem Bartwuchs zeugt Die Drei trugen schutzfarbene Uniform und hatten ernste juristische Gesichter aufgesetzt. Ich übergehe die einleitende Prozedur, Feststellung der Personalien und dergleichen. Darauf lehnte sich der Pole in seinen Sessel zurück und es entspann sich zwischen uns ungefähr das folgende Gespräch. Ich gebe gedrängt nur die Hauptpunkte wieder.

Er: Sie sind Offizier, also Konterrevolutionär. Ich: Ich bin weder Revolutionär noch Konterrevolutionär, sondern nur Offizier und tue als solcher meine Pflicht. Er: Die leider geglückte Flucht der Ihrigen beweist, daß sie sich als Konterrevolutionäre schuldig fühlten. Ich: Ich danke Ihnen für diese Mitteilung. Die Tatsache der geglückten Flucht war mir bis jetzt unbekannt geblieben. Übrigens beweist die Flucht der Meinigen nur, daß sie nicht unschuldig ermordet zu werden wünschten. Er: Bei uns werden keine Unschuldigen ermordet, wohl aber Schuldige gerichtet. Ich: Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Er: Wollen Sie damit sagen, daß ich lüge? Ich: Gewiß. Bei Ihren Anschauungen ist doch der Hang zur Wahrheit nichts als ein bürgerliches Vorurteil. Er: Da Sie diesem Vorurteil noch anzuhängen scheinen, werden Sie gewiß geneigt sein, uns den Aufenthaltsort der Ihrigen wahrheitsgemäß anzugeben. Ich: Ich kenne ihn nicht, aber es kommt für Sie auf[42] das gleiche hinaus. Selbst wenn ich ihn wüßte, würde ich Ihnen natürlich nichts sagen. Er: Dieses Geständnis genügt. Ich werde Sie also jetzt hinausführen und erschießen lassen. Ich: Dann ist es eben schnell vorbei. Er: Wir hätten vorher auch noch andere Mittel. Ich: Nun? Er: Wir könnten Ihnen zum Beispiel vorher ... die Handschuhe ausziehen. Ich: Was heißt das? Er: Genosse Kristmans, erklären Sie. Kristmans: Die Arme werden auf fünf Minuten in siedendes Wasser gesteckt, dann erfolgt ein Rundschnitt über dem Ellenbogen, worauf sich die Haut ganz leicht bis über die Fingerspitzen herabziehen läßt. Ich: Haben Sie das persönlich ausgeführt, Genosse Kristmans? Kristmans: Ich nicht. Dazu sind Chinesen da. Ich: Und wagen Sie es, solche Methoden menschlich und einer sozialistischen Republik würdig zu nennen? Er: Nein – wenn wir es mit Genossen, also mit Menschen zu tun hätten. Ja, wenn es sich um Bourgeois und Aristokraten handelt. Der wissenschaftliche Ausdruck dafür ist in einem solchen Fall: Vivisektion.

Dieses Gespräch, so unwahrscheinlich es klingt, hat wirklich so stattgefunden. Ich begriff natürlich die Absicht: mir sollte ein Todesschreck eingejagt werden. Ich war ja doch im Grunde davon überzeugt, daß meine kleine Person diesen Menschenschindern durchaus nicht so wichtig war. Sie hätten sich gewiß gar nicht so lange mit meiner Folterung aufgehalten, es war viel rascher und einfacher, mir gleich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Aber die moralische Folter gehörte zum System. Nachdem die Drei eine Weile miteinander geflüstert hatten, begann der Pole von neuem.

Er: Vorläufig können wir von der Folter und dem Erschießen absehen, denn wir wissen auch ohne Ihr Geständnis, wo Ihre Familie sich aufhält. Ich: Wo denn? Er: Hinter Schloß und Riegel. Ich habe von der angeblich geglückten Flucht nur gesprochen, um Ihre Gesinnungsweise festzustellen. Ich: Ah, Sie wollen Ihren Fehler gutmachen. Selbstverständlich lügen Sie. Er: Soll ich Ihnen die Ihrigen hier gegenüberstellen? Ich: Ja, tun Sie das nur. Da steht die Glocke, bitte, läuten Sie. Er: Am kommenden Montag sollen Sie das Vergnügen haben. Ich: Bis[43] dahin werde ich das Vergnügen haben, Sie für einen jämmerlichen polnischen Lügner zu halten ... und auch noch lang über diesen Montag hinaus. Er: Sofern Sie dann überhaupt noch die Fähigkeit haben, irgendwen für irgendwas zu halten. Ich: Das steht in Gottes Hand. Er: Oh, der Genosse Jehovah kann hier ohne meinen Passierschein nichts ausrichten. Aber lassen wir diese Späße. Wir wünschen von Ihnen über Ihre politischen Gesinnungen und Ansichten unterrichtet zu werden. Ich: Sie wissen recht gut, daß ich Offizier, und als solcher verpflichtet bin, keine politischen Ansichten zu haben. Er: Das ist veraltetes Gewäsch. Ein reifer Mensch hat eben politische Ansichten. Ich: Wenn Sie reif sind und ich unreif, dann lassen Sie mich bitte doch gleich jetzt erschießen, damit ich nicht in die grausige Gefahr gerate, so reif zu werden wie Sie. Er (sich erhebend): Nicht wahr, Genossen, wir wollen ihm doch noch einige Gelegenheit dazu geben?

Und da seine Spießgesellen nickten, klingelte er und befahl dem gleich darauf eintretenden Patrouillenführer, mich in meine Zelle zurückzubringen. Im Vorzimmer blieb ich betroffen stehen. Ich fand hier auf Bänken herumlagernd eine zweite Patrouille wartend sitzen, und in ihrer Mitte eine weibliche Gestalt, die mir sofort lebhaft auffiel. Über mittelgroß, dunkelhaarig, jetzt sehr blaß, mager und augenscheinlich von großer Schönheit, wenn nicht ein nervöses Zittern die edlen Züge immer wieder entstellt hätte. Sie war schwarz gekleidet und sah ungeachtet der in einem solchen Gefängnis selbstverständlichen Verwahrlosung außergewöhnlich vornehm aus. Ich trat unwillkürlich einen Schritt auf sie zu, wurde aber sofort zurückgezogen und mit unflätigen Worten zum Rückmarsch aufgefordert. Ich fragte meinen Begleiter: »Wer ist das?« – worauf er nur mit den Achseln zuckte. »Und wer ist dieser lausige Pole dort am grünen Tisch?« fragte ich weiter. Die Antwort war ein so heftiger Kolbenstoß in meinen Rücken, daß ich stolperte und hingefallen wäre, wenn ich mich nicht an der Wand hätte auf den Füßen halten können. Ich schwieg also nun und wurde nachher von meinen Zellengefährten wie ein vom Tode Erstandener begrüßt.[44]

Die Überlegungen, die ich in der nun folgenden Zeit anzustellen Muße hatte, waren sehr ernster Natur. Vor allem bewies mir die Heftigkeit des empfangenen Kolbenstoßes, daß der Vorsitzende Pole ein großes Tier gewesen sein mußte. Wir standen aber damals so ziemlich im Anfang der Revolution und kannten die Namen dieser durch nichts hervorragenden Leute kaum. Natürlich hatten wir von Lénin, Kámenew, Trotzki und Sinówjew gehört, dazu war mir einmal der Name eines gewissen Unschlicht als der eines besonders niedrigstehenden, grausamen, widerwärtigen Bolschewikenführers genannt worden ... sonst kannte ich keine Namen. Ich konnte also irgendeinen mir unbekannten Bolschewikenkaiser oder Tschekistenpapst gröblich beschimpft und gereizt haben – das war gefährlich genug. Wichtiger aber war etwas anderes.

Nach meiner Rückkehr vom Verhör war ich vollkommen überzeugt, in äußerster Todesgefahr zu schweben. Ich war durchaus keine irgendwie militärisch oder gesellschaftlich oder politisch bedeutsame Persönlichkeit – warum also kümmerten sich diese Leute überhaupt um mich? Und da gab es nur eine Antwort: wenn sie in mir ein gefügiges gewissenloses Werkzeug entdeckt hätten, aus dem sich mit der Zeit ein guter Sowjet- oder Tscheká-Arbeiter hätte herausbilden lassen, so wäre ich den Leuten von Vorteil und darum sicher gewesen. Da ich das nicht war, sparten sie mich nur auf, um mich bei passender Gelegenheit und als abschreckendes Beispiel als Geisel erschießen zu lassen. Diese Überzeugung drängte sich mir als bald mit solcher Sicherheit auf, daß ich mich von der Stunde an mit dem Todesgedanken vertraut zu machen begann. Es wird mir nicht leicht, ich weiß das nur zu gut. Ich glaube auch zu wissen, worin das eigentlich Fürchterliche liegt. In der Hoffnungslosigkeit, in der absoluten Unentrinnbarkeit. Im Kampf ist das anders, da glaubt man nicht daran, nicht alle Kugeln treffen und tausend Wege der Rettung stehen immer offen. Solange noch eine Hoffnung bleibt, braucht man nie ganz unglücklich zu sein. Hier aber in diesem finsteren Loch sind alle Türen zu, und wenn sie sich eines Tages auftun, so wird der Tod draußen stehn. Draußen? Vielleicht nicht einmal das.[45] Vielleicht wird man nur hier im Haus in eine Kammer geführt, darin es nach Blut und Moder riecht, und da steht ein Kerl mit Verbrecherohren, der einen Revolver in der Hand trägt, und dieser Kerl ist der Henker. Er sagt: »Dreh dich um«, und dann fühlt man die Mündung des Revolvers an seinem Hinterkopf und gleich darauf ... Gott sei Dank, Gott sei Dank! ... fühlt man überhaupt nichts mehr und alles Böse ist vorüber und man wacht irgendwo auf, wo es ein Wiedersehen gibt. Tania, wenn man das nur sicher wüßte, wie leicht wäre das dann! Eins aber kann man wissen: kommt das Erwachen nicht, so kommt heilig gewiß die ewige Ruhe. Das wäre doch auch wieder gut und es ist nur das Hinübergehen, was uns unheimlich er scheint. Freilich wird uns wohl noch etwas anderes schwer: das Zurücklassen. Tania und die Eltern, Ina und Katja, die Häuser am Strand und in Petersburg, der Druck von Tanias Händen, ihre sanften Lippen, die Spaziergänge mit den drei Mädchen, Inas ernsthafte Gespräche und Katjas Lachen, der Morgenkaffee bei den Eltern mit dem frischen Weiß- und Schwarzbrot und der finnischen Butter (für einige solche Bissen gäbe ich jetzt viel, nur habe ich nicht mehr viel zu geben), und die Arbeit in der Schwadron und die Hoffnungen alle, und das Sichausmalen einer glücklichen Zukunft ... Ich wollte zum Generalstab gehen und später ein Regiment kommandieren und noch später eine Division bekommen, vielleicht sogar ein Korps. Und jetzt bin ich heute Kornett1, und vielleicht in einer Woche bin ich tot. Das sitzt mir auch wie ein Wurm im Herzen – obgleich ich wohl fühle, wie dumm das ist –, daß ich so banal sterben muß. Es wäre so viel schöner, mit der Aureole des Kämpfers in den Tod zu gehen. Was aber sind im Grunde alle Aureolen, Lorbeerkränze und Festfackeln! Wird es nicht einzig an mir selbst liegen, wenn ich mein banales Schicksal nicht in ein großes und festliches umwandle? Wenn ich aber die Alltäglichkeit scheue, so ist es mir in die Hand gegeben, die letzten kurzen Tage meines nicht langen Lebens so zu benutzen, daß ich auf der Leiter noch möglichst hoch hinauf gelange, an deren Fuß Gott mich hingestellt hat.[46]

Nun kommt mir ein glücklicher Gedanke; ich will versuchen, ihm Ausdruck au geben. Ein Druck von oben nach unten bedeutet: Druck, – ein Druck jedoch von unten nach oben bedeutet: Erhebung. Wenn ich demnach mein Schicksal als Druck empfinde, so brauche ich mich nur innerlich darüber zu stellen und verwandle dadurch sofort den Druck in Erhebung. Ich muß darüber nachdenken, ob man so ohne weiteres die physikalischen Gesetze auf das seelische Leben anwenden darf. Warum eigentlich nicht? Wie gesagt, ich muß nachdenken.

Jetzt sind mehrere Tage seit meiner letzten Einzeichnung vergangen und mancherlei ist unterdessen geschehen. Ich bin von Verhör zu Verhör geschleppt worden, wobei immer neue Versuche gemacht wurden, mir Schreck einzujagen. Dies gelang nur deshalb nicht, weil ich glücklicherweise die Absicht früh genug durchschaut hatte. Auch das gefangene Mädchen sah ich zweimal wieder und erfuhr seinen Namen – Maria –, der Patrouillenführer redete es einmal in meiner Gegenwart höhnisch mit »Genossin Mascha« an. Fialkin erkrankte und lag zwei Tage lang im Delirium, ohne daß man es deshalb für nötig hielt, ihn aus unsrer Zelle zu entfernen. Er schwatzte wild im Fieber, meistens in hebräischer Sprache. Er ist also wohl nicht der bei uns spionierende tschekistische Agent, sonst wäre er doch gewiß in das Krankenhaus übergeführt worden. Und noch ein anderer wurde auf entsetzliche Weise von dem gleichen Verdacht befreit – Stoltze ist in diesen Tagen fast vor meinen Augen erschossen worden. Dies geschah folgendermaßen.

Eines Tages kam Stoltze vom Verhör in unsre Kammer zurück, totenblaß, mit zerrissenen und blutigen Kleidern, aber unter wildem Lachen. Er hatte sich während des Verhörs auf den Vorsitzenden – eben jenen lausigen Polen, der Beschreibung nach – geworfen und es war ihm gelungen, dem Polen mit geballter Faust fünf bis sechs Ohrfeigen zu erteilen, bevor er von ihm weggerissen wurde. Während er das erzählte, kam von seinen Lippen ein wahrer Wasserfall von Verwünschungen und Witzen. Dann hatte man ihn geprügelt, und zwar bis aufs[47] Blut, und für morgen wurde ihm das Todesurteil angekündigt. Als ich an diesem nächsten Tag vom Verhör kam, wurde ich wohl mit Absicht auf einem anderen als dem gewohnten Weg in meine Kammer zurückgeführt. Unterwegs scholl mir ein verworrener Lärm entgegen, den ich bald als Schluchzen und Geschrei erkannte, und als wir um die nächste Ecke bogen, mußten ich und meine Patrouille stehenbleiben, weil wir eine aus neun Personen bestehende Gruppe vor uns sahen, die uns den Durchgang versperrte. In der offenen Tür einer Kammer stand ein roh aussehender Kerl, der, gerade wie ich es mir vorgestellt, einen großen Armeerevolver in der Hand hielt. Auf dem Boden rutschte eine dicke blasse Frau mit aufgelöstem Haar weinend und schreiend auf den Knien von einem zum anderen und flehte immer mit den gleichen jammervollen Ausdrücken um ihr Leben. In der Mitte stand Stoltze mit gebundenen Händen und im Kreis um die beiden herum hielten sechs bewaffnete Rotarmisten Wache. Bei unserem Anblick gab der Henker dem Wächter einen Wink und sagte: »Nun gebt mir einmal das Weibsbild her.« Die Frau verdoppelte ihr Geschrei, da trat Stoltze, wie von Ungeduld erfaßt, plötzlich auf den Henker zu und wechselte mit ihm einige Worte, die ich wegen des Lärms nicht verstand. Ich sah den Henker nicken und mit Stoltze in der Kammer verschwinden. Gleich darauf übertönte ein in diesem engen Raum überlaut dröhnender Schuß das Gejammer der Unglücklichen. Ich stand wie im Traum, einzig nur krampfhaft bemüht, diese Mörder meine Erregung nicht merken zu lassen. Die Frau wurde von drei Soldaten in die Kammer gezerrt, wo ein zweiter Schuß sogleich ihrem Geschrei ein Ende machte. Vom Führer meiner Patrouille erfuhrt ich die Geschichte dieser Frau, die einfach genug war. Sie hatte eine Büchse mit Goldstücken in ihrem Garten vergraben und war von einer neidischen Nachbarin verraten worden.

In meine Kammer zurückgekehrt, beschloß ich, alle Schlauheit daran zu setzen, unserem heimlichen Spion auf die Spur zu kommen. Ich ersann mir zu diesem Zweck das folgende. Wir wurden meistens in einer bestimmten Reihenfolge zum Verhör geführt, so daß wir annähernd wissen konnten, wer an der[48] Reihe war. Nun machte ich jedesmal dem Betreffenden unter dem Siegel der Verschwiegenheit irgendeine Mitteilung, hauptsächlich den Aufenthaltsort meiner Familie betreffend, wobei ich natürlich nie die richtige Adresse angab. So teilte ich Wawíloff mit, daß sich meine Familie in Stockholm befinde und daß ich viele schneidige Jagdrennen geritten hätte. Dem Vater Nikolai will ich etwa Paris nennen und ihm irgendein angebliches Laster beichten, zum Beispiel eine unüberwindliche Sehnsucht nach schwedischem Punsch und Champagner. Für Kóschkin würde ich dann auch etwas Ähnliches erfinden, nur Fiálkin kam im Augenblick für diese Methode nicht in Betracht. Ob ich Erfolg haben werde, kann ich heute selbstverständlich nicht wissen.

Seltsame Erfahrungen mache ich seit einiger Zeit. Seit dieses »Todesgefühl« (ich will es nun einmal kurz so nennen) über mich gekommen ist, erlebe und denke ich fortwährend Dinge, die ich nie vorher erlebt und gedacht. Sonderbar, ich fühle mich innerlich reicher, als je vorher. Das, was einen völlig arm macht, indem es einem alles nimmt, was man im Leben geliebt – gerade das macht einen reich. Das ist widersinnig, und dennoch könnte ich mein Empfinden nicht anders ausdrücken. Wenn ein Wunder geschähe und ein Bote Gottes mich fragte, ob ich mein sorglos-schönes Leben von früher wieder leben wolle, doch ohne die Erfahrung von heute, so würde ich ... zwar nicht »Nein« antworten (dazu lockt das Leben doch viel zu sehr), wohl aber würde ich nur mit einem gewissen Zögern »Ja« sagen. Das, was ich jetzt erlebe, will ich erlebt haben, und dann sollte das Wunder geschehen, das mich rettete. So wäre es am schönsten. Aber auch wenn ich sterben muß ... es ist doch wunderbar, daß das Todesgefühl all diese Dinge in mir erweckt. Ich nehme jetzt etwas mit in den Tod hinein, was ich vorher nicht besessen habe. Gott weiß, wie dankbar ich ihm dafür bin.

Worin besteht nun aber dieses neue »Todesgefühl«, das ich ebensogut ein neues »Lebensgefühl« nennen könnte? Ich bin im Denken sehr ungeschult und der schriftliche Ausdruck macht mir große Mühe. Es ist vor allem ein Gefühl der Ruhe[49] – der Gewißheit, sicher zu sein. Kein Mensch oder Ding in der Welt kann mir etwas antun. Alles Tun ist Gottes. Leute wie der Genosse Kristmans oder jener Pole oder jener Henker oder wie unser unbekannter Spion bilden sich nur ein, daß sie etwas tun ... auch ihr Tun ist Gottes ... Gott braucht sie zu irgendeinem uns dunklen Zweck, wie er ja auch Wanzen und Läuse im Haushalt der Natur irgendwie nötig hat. Mein Leib kann getötet werden, nicht mein Denken und nicht mein Herz. Wohin ich immer gehe, immer gehe ich nach Hause. Ein jeder Schritt, den ich tue, bedeutet eine neue Stufe auf jener Leiter. Kein Mensch kann mir die Ehre rauben ... nur ich selbst. Das Beste in mir ist völlig unanrührbar, nur ich selbst kann es verschandeln. O Gott, wenn ich nur von alledem mit Tania sprechen dürfte!

Dies alles ist gewiß gar nicht so besonders neu ... wer wäre ich denn, daß ich neue Gedanken haben dürfte! Mir ist jetzt auch, als hätte ich Ähnliches in der Bibel gelesen, oder sonst irgendwo. Für mich aber ist es trotzdem neu, weil ich das jetzt erlebt habe ... nicht bloß mit dem Ohr aufgefangen, oder mit dem Auge gelesen. Es ist, als hätte ich alle meine Kleider verkehrt getragen, jetzt habe ich sie umgewendet und bin zum erstenmal in meinem Leben richtig gekleidet. Seltsam, daß auch menschliche Läuse und Wanzen als Werkzeug dienen können, um solche Wandlungen hervorzurufen. Und dann ... ich verstehe jetzt auf einmal, wie einen Menschen die Lust anwandeln kann, Hymnen zu singen. Dachte ich früher in meinem Junker- und Regimentsleben an Lieder und ähnliche Dinge, so fiel mir ein »Ulanen, Ulanen« oder »Dieses Glas für Ssascha, Ssascha, den Geliebten« ... und jetzt, wenn ich dasitze und nachdenke, fallen mir Worte ein, die ich auf eine mir unverständliche Weise zusammenlege, als wollte ich sie singen ... dann aber wieder erweist sich das Singen als unnötig, denn wie die Worte zusammenstehen, singen sie schon ganz von selbst.»O guter Tod«, sage ich dann vor mich hin, oder »o gutes Gefühl des guten Todes«, oder »ich möchte Gott werden, ich darf Gott werden, Gott will, daß ich Gott werde« ... solche und ähnliche Sprüche kann ich mir bis zur[50] Ermattung innerlich vorsagen. Das ist auch nicht überheblich, wenn ich sage »Gott will, daß ich Gott werde«, denn es bedeutet nur: Gott ist alles, ich muß nur zusehen, daß ich würdig werde, ein Teil von diesem Ganzen zu sein, so wenig lausähnlich wie möglich und so viel Gott-ähnlich wie möglich.

Ich wurde verhindert, weiterzuschreiben, und da ich jetzt das Geschriebene überlese, sehe ich ein, daß ich von den bolschewistischen »Läusen und Wanzen« doch mit einer gewissen Überhebung gesprochen habe. Ich muß das jetzt als falsch ansehen. Von einem gewissen Standpunkt aus betrachtet, sind Läuse, Löwen und Elefanten einander völlig gleich ... ein jedes handelt durchaus seiner Natur gemäß, und mehr kann kein Ding und kein Geschöpf auf Erden tun ...


O gutes Gefühl des guten Todes,

Es ist, als wolltest du mich sterben machen,

Du aber machst mich leben.

Unholde kreisen böse um mich her,

Doch immerzu, immerzu,

In jedem, jedem seligen Augenblick

Werden aus Unholden Holde.

Es ist allzu wunderbar, allzu wunderbar.

Das Böseste will gut sein,

Das Schwärzeste will leuchten,

Das Reißende will sich binden,

Das Schleudernde schleudert gen Himmel,

Alles was wankt, will feststehn,

Alles was fällt, will fliegen,

Jeder Sturz ist Flug,

Jeder Flug geht zur Sonne empor,

Jede Wunde strebt zur Heilung,

Jeder Tod geht dem Leben entgegen ...


Heute abend sagte ich dem Schließer, der uns Brot und Wasser brachte, ein ungeduldiges Wort, weil er grob war. Er schlug mich dafür ins Gesicht. Ich gab ihm den Schlag zurück.

Heute früh bin ich dafür geschlagen worden. Mit einem Stock.[51] Selbst wenn diese Leute mich nicht umbringen ... ich könnte nicht weiterleben, ich müßte mich erschießen. Schläge empfangen haben und weiterleben ... wer könnte das?

Doch, doch, doch, doch kann und soll man weiterleben. Keine Unehre kann mich entehren, es sei denn, ich hätte sie selbst mir zugefügt. Ich hatte das bloß vergessen. Dinge sind geschehen, die mich glauben machen, daß ich in einigen wenigen Tagen tot sein werde. Ich habe unsren Tscheká-Spion entdeckt. Das kam so.

Ich wurde wieder einmal zum Verhör geführt. Der Pole saß wieder am Tisch mit dem Genossen Kristmans und einem Dritten, den ich noch nicht kannte. Auf dem Tisch standen einige Gläser und eine Flasche Rum. Nach einigen Kreuzfragen fragte der Pole mit höhnisch verzogenen Mundwinkeln: Und nun, Genosse Leutnant, wie denken Sie über Paris? – Ich verstand nicht, was er andeuten wollte, und erwiderte, ich sei noch nicht Leutnant, sondern bloß Kornett. Nun gut, Genosse Kornett, sagte er, wie denken Sie über Paris? – Sonderbarerweise begriff ich immer noch nicht die Tragweite seiner Worte – meine Nervosität mochte wohl erklärlich sein. Ich besann mich einen Augenblick und entgegnete: Paris ist mir lieber als Petersburg-dort hat Ihre verfluchte Kommune nur ein paar Wochen lang regiert, hier aber wütet sie schon zwölf Monate lang. – Der Pole lächelte darauf – mir gefiel aber das Lächeln nicht – und sagte unvermittelt: wünschen Sie nicht einen Schluck Rum, Genosse Kornett? – Nein, ich danke, – sagte ich, – und überhaupt, was hat der Rum mit Paris oder Petersburg zu tun? – Nun, war die Antwort, wenn Sie wollten, könnten Sie jeden Tag solch eine Flasche Rum oder Kognak haben. Oder glauben Sie im Ernst, Ihre Vorliebe für Spirituosen wäre uns ein Geheimnis? – Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen ... meine Familie angeblich in Paris ... meine angebliche Leidenschaft für Punsch oder Wein ... wem hatte ich denn solche Dinge gestanden? Keinem anderen als dem Vater Nikolai – der natürlich kein Priester war- und sein angeblich von den Bolschewiken abgeschorener Kopf war ein Bluff – und er selbst gewiß ein verbummelter und ausgestoßener[52] Seminarist, dem die geistliche Sprechweise und Haltung geläufig waren.

Nach einigen Augenblicken hatte ich mich soweit gefaßt, daß ich jenem Schinder den Spott zurückzugeben versuchte, indem ich sagte: und wie denken Sie über Popen, die keine Popen sind? – Ich verstehe Sie nicht, Genosse Kornett. – Und wie, – fuhr ich fort, – denken Sie über einen jämmerlichen Spion, der dumm genug ist, sich so kläglich überlisten zu lassen? Ja, ja, nehmen Sie Ihren Vater Nikolai nur zu sich in Ihre Gesellschaft, da gehört er hin. –

Kristmans stieß einen langgezogenen Pfiff aus und der Pole schlug mit der Faust auf den Tisch. Ohne sich weiter um mich zu kümmern, steckten die Drei die Köpfe zusammen und flüsterten erregt und hastig miteinander, doch glaubte ich zu bemerken, daß ihr Zorn sich noch weit mehr gegen den ertappten Spion richtete als gegen mich. Nach einer Weile klingelte der Pole und gab dem Patrouillenführer einen stummen Wink, mich fortzuführen. Mehr als die ärgsten Drohungen es vermocht hätten, überzeugte mich dieser stumme Grimm, daß die Leute mir die gelungene Überlistung nicht verzeihen würden. Den falschen Popen hatte ich nicht mehr in unsrer Zelle vorzufinden erwartet, dem war aber nicht so. Er saß bei meinem Eintritt auf seiner Pritsche mit demselben bekümmerten und frommen Gesichtsausdruck wie immer. Als die Tür der Zelle sich hinter mir geschlossen hatte, blieb ich stehen und sagte: ich habe euch etwas zu erzählen, Gefährten – ich habe unsren Spion entdeckt. Sie fuhren alle auf und starrten mich an. Nun berichtete ich ihnen den ganzen Vorgang. Als ich geendet hatte, schwiegen alle.

Der Spion saß zitternd da, in eine Ecke gedrückt, und flüsterte nur: es ist nicht wahr, es ist nicht wahr ... Da erhob sich Kóschkin mitten aus dem Schweigen heraus und schlich langsam mit katzenartigen Tritten auf den Priester zu. Ich stellte mich ihm in den Weg. – Was wollen Sie tun, Kóschkin? – Ihn töten, flüsterte er, und sein Ton war dabei von einer seltsamen nüchternen Sachlichkeit. Der Spion schrie auf, ich aber hielt Kóschkin zurück. – Warten Sie nur, Kóschkin – sprach ich –,[53] jene Hunde werden besser für seine Bestrafung sorgen, als wir das könnten, denn sie wissen, sie wissen durch mich, daß er sich von mir überlisten ließ! – Das Verhalten des falschen Popen bewies uns sofort, daß meine Mutmaßung allen Grund hatte, denn bei meinen Worten sank er förmlich in sich zusammen und begann zu weinen. Kóschkin nickte nur und ging stumm auf seinen Platz zurück, von wo aus er den schwer atmenden und schluckenden Verräter wohl eine Stunde lang schweigend, aber mit böser Schadenfreude betrachtete, bis die Zellentür von neuem aufging und die grobe Stimme des Schließers ihr »Der Vater Nikolai zum Verhör« in den Raum hineinrief. Der Pope ging nicht von selbst, zwei Soldaten mußten eintreten und ihn hinausführen. Er ist nicht zu uns zurückgekehrt und wer weiß, welch ein Empfang ihm bereitet worden ist.

Sehr verwirrende Gedanken sind mir seitdem durch den Kopf gegangen. Ich hatte es mir vorher nie so recht klargemacht, welch eine ungeheuerliche Wandlung sich in unserer russischen Welt vollzogen hatte. Lag es denn etwa so weit zurück, das freie, schöne, natürliche Leben von früher? ich weiß noch, wie ich mit Tania Himmelschlüssel pflückte! und die sauberen lustigen Soldaten hinter mir, wenn ich meinen Zug über das sonnenbeschienene Feld führte! Gewiß gab es auch damals Schweres und Trauriges ... Menschen starben oder wurden krank ... einer meiner Schulfreunde ist damals einmal wegen politischer Umtriebe verhaftet worden, aber seine Eltern erzählten mir, wie höflich und rücksichtsvoll sich die betreffenden Gendarmerieoffiziere während der Verhaftung benommen hatten, und der arme Junge soll auch im Gefängnis über nichts zu klagen gehabt haben. Später kam er übrigens frei. Aber wenn auch noch viel Ärgeres vorgekommen sein mochte – es war doch nicht so scheußlich, nicht so abgründig häßlich, wie jetzt alles ist. Der Krieg war oft grausig, aber doch nicht ekelhaft, nicht schleimig abscheulich. Eine dicke graue Schicht von Scheußlichkeit und Häßlichkeit liegt jetzt über der russischen Welt. Muß denn das so sein? Wir waren doch nur unser sieben in diesem Gefängnis, und welch eine Fülle von Gemeinheit, Schrecken, Niedertracht, seelischem und körperlichem[54] Schmutz, Versklavung, Vergewaltigung jeder Art bis zum nackten Mord ist über uns hereingebrochen! diese elenden Führer, diese jämmerlichen Spitzel, diese Bestie von Henker, diese Horden von dreckigen und vertierten Tschekisten und Rotarmisten! und außer uns liegen doch noch gewiß Hunderte hier gefangen, und ein jeder von ihnen hat Ähnliches erlebt! dabei weiß ich nicht einmal, wer mehr zu bedauern ist – wir, die beraubten, freudlosen Sklaven oder sie, die wüsten freudlosen Gewaltherrscher. Möchte ich denn um den Preis des Lebens etwa in der Haut jenes Polen stecken? Gewiß nicht. Was muß das für ein Leben sein, das solch ein Mensch führt! Tagaus, tagein, jahraus, jahrein immer derselbe Schmutz, dieselbe Kanzlei, dieselben Verhöre, immer mit Mißtrauen, Grausamkeit, Verhöhnung operieren müssen, immer Menschen quälen, dazwischen Vereinssitzungen beiwohnen und Tausende von Gemeinplätzen tausendfach breitwälzen, eine Öde, so grausig und tödlich, daß Revolverkugel und Strick daneben wie schöne rettende Engel erscheinen. Der Tod ist selbstverständlich tausendmal besser als ein Leben, das keines ist. Ja, der Tod ist sogar nicht nur vergleichsweise gut, sondern überhaupt gut. Und noch mehr: ich glaube, Leben und Tod sind ein und dasselbe. Früher hielt ich diesen Satz für eine sinnlose Redewendung. Jetzt verstehe ich ihn. Ja, es ist wirklich so. Warum aber? ja, wenn ich nur besser schreiben könnte und ausdrükken, was ich meine. Ich muß es nur versuchen und mich nicht schämen vor Beurteilern, die mich vielleicht falsch verstehen könnten.

Also. Der Tod ist ein völliges Aufhören. Wenn der Tod da ist, so ist überhaupt nichts mehr da. Gerade das aber kann nie vorkommen, denn wir wissen, daß immer wieder etwas da ist, wenn etwas anderes fortging. Also ist der Tod nicht da, und wir müssen nicht »Tod« sagen, sondern »Sterben«. Weiter. Was heißt Sterben? offenbar heißt »Sterben« nur: aus einem Zustand in einen anderen hinübergehen. Sterben ist somit nichts anderes als eine Tür, durch die man geht. Weiter. Vielleicht war das Wort »Zustand« falsch. Vielleicht steht diese Tür nicht zwischen Zustand und Zustand, sondern[55] gerade in der Mitte eines solchen Zustands. Also heißt Sterben immer noch ein Sich-fort-bewegen, und wo Bewegung ist, da ist Leben. Also ist Tod so viel wie Sterben, und Sterben so viel wie Leben. Ist das nun recht gedacht und werde ich noch vor dieser Tür erfahren, ob ich recht gedacht habe, oder falsch?

Ich stehe schon gar nicht weit von dieser Tür. Heute mittag trat der Schließer in unsre Zelle, schüttelte die Faust und sagte: ihr Hunde habt den Urizki ermordet. – Wer ist Urizki? – fragte ich. Er wurde wütend und schrie: Hunde! Lumpenpack! Urizki nicht zu kennen! vielleicht kennt ihr auch Wolodarski nicht, den ihr auch ermordet habt! – Wir sahen einander verwundert an. Nie hatten wir etwas von diesen Kerlen gehört. Weil die anderen schwiegen, machte ich wieder einmal den Stimmführer und sagte: wer kann einen Menschen ermorden, den er überhaupt nicht kennt? wir haben wohl unsre Kutscher und Stiefelputzer gekannt, aber keiner davon hieß Wolodarski oder Urizki. – Da brüllte der Kerl mit verblüffender Logik: ach was, ihr steckt doch alle unter einer Decke – und schlug hinter sich mit einem Krach die Zellentür zu.

Fünf Menschen saßen noch in der Zelle – Wawíloff, Márkof, Fiálkin, Kóschkin und ich. Fiálkin hatte sich soweit erholt, daß er an unsren Gesprächen teilnehmen konnte. Wir überlegten miteinander, was für eine Bedeutung dieser Vorfall für uns haben konnte. Zwei unbekannte Leute waren ermordet worden. Wann? wer weiß es. Von wem? wer weiß es. Vielleicht aber war Wolodarski der neue Kaiser und Urizki der neue Papst oder. Patriarch von Rußland. Nun mußte jemand zur Strafe dafür erschossen werden: vielleicht ich – oder Wawíloff – vielleicht auch Kóschkin. Ich glaube, das war uns allen jetzt schon gleichgültig, Wawíloff freilich ausgenommen, der immer zu weinen anfing, wenn von unsrer Hinrichtung die Rede war.

Mein Gott, wie unsinnig ist das alles!

Ich habe zum Schreiben nur noch vier Farbtäfelchen übrigbehalten: zwei Sepia, eine gelbe, eine dunkelgrüne. Was kommen soll, muß also bald kommen.[56]

Tania, geliebte Tania, ich grüße dich. Ich habe in diesen Wochen immer an dich gedacht und mich immer nach dir gesehnt. Höre, Tania. Wenn diese Blätter jemals in deine geliebten Hände fallen sollten, so mußt du wissen, was ich mir für dich wünsche.

Vielleicht heiratest du nie, weil du an mich denkst. Du sollst ruhig an mich denken und doch heiraten. Man muß irgendeinen Menschen lieben und muß irgendeinen Menschen zur Welt bringen. Glaube mir das, Tania. Ich weiß das jetzt. Daß man mit einem Menschen Himmelschlüssel pflückt, will noch nichts heißen. Daß man mit einem Menschen, der Wáwa heißt, und seinen Schwestern Katja und Ina über Gott und Welt und Himmel und Erde philosophiert, will auch noch nicht viel bedeuten. Aber einen Menschen richtig lieben und Kinder richtig zur Welt bringen, – das allein heißt und ist etwas. Wenn ich es nicht sein kann, so muß es eben ein anderer sein. Vielleicht in Deutschland – die Deutschen sind gute Leute, glaube ich. Wer dich aber jemals liebt, soll dich so lieben, wie ich dich liebe – das ist es, was ich mir wünsche. Und dann, Tania, dann freilich kannst du sehr glücklich werden.

Tania, wenn du diese Blätter jemals bekommst, so merke dir eines: geliebtwerden ist wunderbar, aber lieben – ich meine selbst lieben – ist das Allerwunderbarste. Nur würde ich dir so gern noch etwas sagen ... ach Gott, hätte ich nur Zeit dazu. Sieh einmal, Tania, Lieben ist nämlich zunächst ein Kunststück, und später, wenn man einige Dinge weiß, wird es sehr einfach und sehr unbeschreiblich schön. Merke nur auf. Wen und was soll man eigentlich lieben? Das ist die erste Frage. Sich selbst ... auf die richtige Weise ...sichlieben um Gottes willen, verstehst du? – Dann die Anderen – und zwar Menschen und Dinge – indem man dabei zuerst an diese Anderen denkt und an sich möglichst überhaupt nicht. Aber die Hauptsache kommt erst: man soll das lieben, was einem geschieht, sogar ein Mißgeschick, sogar ein Unglück. Solange uns nur schöne und leichte Dinge begegnen, ist das nicht schwer – anders aber wird das bei allem Unheilvollen, das wir erfahren. Wirst du es mir glauben, Tania? Aber nicht[57] nur bei großem Unheil – auch bei kleinen, häßlichen, langweiligen Dingen. Ich weiß, das läßt sich schwer vorstellen. Aber wer es erlebt hat, der kann es sich unmöglich anders vorstellen. Weil es nämlich da, wo Gott und die Engel leben, oder die Natur, oder die Ewigkeit, nicht Groß und Klein, Schön und Häßlich, Wichtig und Unwichtig, Kurzweilig und Langweilig, Klug und Dumm noch all dergleichen geben kann. Weil dort auch die Gegensätze Gut und Böse nicht bestehen können, Recht und Unrecht, Tugend und Laster, Frömmigkeit und Gottlosigkeit – ein für allemal nicht bestehen können!


Jetzt ist alles zu Ende ... morgen oder übermorgen geht alles zu Ende. Vielleicht habe ich grade noch Zeit, die Erlebnisse dieses gestrigen Tages und dieser Nacht hinzuschreiben. Ich muß kurz sein. Denn wer weiß, wann sie kommen.

Gestern gegen Abend Verhör. Jener Pole als Vorsitzender und zwei mir fremde Genossen, mit Schnurr- und Spitzbärten, alle drei in Uniform. Gleich zu Beginn zündete sich der Pole eine Zigarette an, lehnte sich in seinen Sessel zurück und sagte absichtlich nachlässig: Genosse Kornett, ich habe die betrübliche Pflicht, Ihnen mitteilen zu müssen, daß das revolutionäre Kriegstribunal Sie unwiderruflich zum Tode verurteilt hat. Morgen oder übermorgen wird die Exekution vollzogen werden. –

Nun hatte ich eine solche Eröffnung tagtäglich erwartet und mich darauf gefaßt gemacht – und war doch in diesem Augenblick wie mit eiskaltem Wasser überschüttet und es schien mir, als bräche die Zimmerdecke über mir zusammen. Es gelang mir aber, mich zu fassen – notdürftig genug, wie ich leider sagen muß – und ich entgegnete:

Lieber morgen als übermorgen. Aber könnten Sie mir vielleicht sagen, welcher Schuld ich überführt worden bin? – Er: Genosse Lénin ist verwundet, die Genossen Urizki und Wolodarski schändlich ermordet worden. Wir müssen ein Exempel statuieren. – Ich: Sie wissen sehr gut, daß ich das nicht getan haben kann. Wissen Sie denn überhaupt, wer es getan hat? – Er: Ich weiß. Einige verfluchte Sozialrevolutionäre.[58] Aber was kümmert Sie das? – Ich: Ich bin doch kein Sozialrevolutionär. – Er: Das ist uns gleichgültig, es handelt sich jetzt nur um das Beispiel. Sie werden Ihr Schicksal mit etlichen Tausenden zu teilen haben. –

Ich schwieg darauf, denn was hatte es jetzt für einen Sinn, mit Trotz oder Todesmut noch besonders zu prahlen. Aber einen kleinen Zug, über den ich mich wunderte, möchte ich noch mitteilen. Der Pole fügte nämlich hinzu: letztwillige Verfügungen niederzuschreiben, ist Ihnen verboten; auch Briefe würden unbestellt bleiben; aber sollten Sie vor der Exekution auf einen Imbiß und eine Flasche Wein Wert legen, so tun wir Ihnen gern den Gefallen. – Nun gut, entgegnete ich, dann bitte ich Sie, diesen Imbiß und diese Flasche Wein meinen Mitgefangenen zu geben, als letzten Gruß von mir. Wollen Sie das? – O gewiß, ganz wie Sie wünschen. –

Ob meine Mitgefangenen das Versprochene erhalten haben, werde ich natürlich auf Erden nicht wissen. (Anmerkung des Herausgebers: der überlebende Soldat Márkof hat mir auf meine Frage gesagt, daß die Mitgefangenen von Imbiß und Wein nichts zu sehen bekommen hätten.)

Danach ließ ich mich in meine Zelle zurückführen. Und jetzt erlebte ich noch kurz vor der »Exekution«, wie es so widerwärtig heißt, etwas Aufregendes und Merkwürdiges, das ich gern noch erzählen möchte. Wenn ich nur noch Zeit habe.

Tania, Ina, Katja, ihr wißt und habt mich zuweilen deshalb ausgelacht, daß ich oft auf irgendeinen Impuls hin ganz plötzliche und unerwartete Entschlüsse zu fassen imstande sein kann. Etwas Ähnliches geschah mir jetzt auf dem Rückweg von dem Zimmer des Verhörs nach meiner Zelle. Während ich ging, war beständig ein blinder, hoffnungsloser und rasender Drang in mir, mich zu retten, mich zu verstecken, irgendwohin zu entlaufen. Denn was konnte einem noch Schlimmes zustoßen, wenn man doch morgen oder übermorgen erschossen werden sollte. Ich wagte also nichts mehr, wenn ich jetzt ein Äußerstes wagte. Hoffnungslos blieb es immerhin, denn aus diesem Gewirr von Gängen, Treppen und Kammern mit den[59] Wachtposten an jeder Ecke gab es keine Rettung. Aber der natürliche Drang war stärker, aller Überlegung zum Trotz.

Als wir beinahe bis zu meiner Zellentür gelangt waren, sah ich, daß eine Tür weiter unten im Gang, schräg der meinen gegenüber, halb offen stand. Entweder war diese Zelle unbenutzt, oder der betreffende Gefangene war zum Verhör geführt worden und man hatte vergessen, die Tür zu schließen. In der Nähe unsrer Tür befand sich eine elektrische Birne im Gang – ihr Schein hatte mir geholfen, meine Notizen aufzuzeichnen. Während der Schließer mit dem Schlüssel an meiner Zellentür beschäftigt war, stieß einer der Soldaten meiner Patrouille im Versehen mit dem Gewehrlauf an die Birne, die mit einem leisen Knacken zerbrach, worauf undurchdringliche Finsternis uns umhüllte. Jetzt war der Augenblick da für einen jener jähen Entschlüsse, die ich oben erwähnte. Ich duckte mich, schlüpfte zwischen den verdutzten Leuten hindurch und gelangte glücklich bis zur Tür jener fremden Zelle. Draußen brach ein Höllenlärm los. Ich trat ein und zog die Tür hinter mir zu. Jetzt galt es rasch und ruhig zu überlegen. Wo sollte ich mich verstecken? Es war stockfinster um mich herum, aber solange diese Leute da draußen nicht eine Lampe oder Laterne herbeigeschafft hatten, war diese Finsternis mein Schutz. Die Zelle war offenbar leer. Irgendwo mußte es eine oder mehrere Pritschen geben, aber dort durfte ich mich nicht verstecken, denn dort würde man selbstverständlich zuerst suchen. Die Tür der Zelle ging nach innen auf. Ich beschloß also, alles zu wagen, hinter der Tür stehen zu bleiben und mich darauf zu verlassen, daß die Leute die Tür erst dann wieder schließen würden, sobald sie beim Schein ihrer trüben Laterne alles abgesucht hätten. Es waren verzweifelte Minuten, die ich hinter dieser Türe verbrachte. Draußen hörte ich zunächst Gestampf, Geschrei und Geschimpf, dann wurde es still, dann wieder ein Getrappel, durch das Guckfenster fielen wirre und laufende Lichter in den Raum, dann stand auf einmal schräg ein stiller weißer Lichtstreif in der Zelle ... im Gang draußen hatte jemand eine neue Birne eingeschraubt. Dann hörte ich Schlüssel rasseln, Türen auf- und zuschlagen[60] ... endlich waren die Schritte und das Schlüsselgerassel auch vor meiner Tür. Der Schließer mußte es glücklicherweise beim Öffnen nicht gemerkt haben, daß die Tür nicht verschlossen gewesen war – er äußerte jedenfalls keine Verwunderung und rief nur mit seiner groben Stimme: »Genossin Mascha!« – Eine Stimme draußen erwiderte: »Laß nur, die Genossin Mascha ist drüben beim Verhör« – und nun hatte ich wirklich das Glück, daß der Schließer mit seiner Laterne ohne weiteres zurücktrat und die Türe verschloß. Jetzt konnte ich mich mit Hilfe des Lichtes vom Gange her ein wenig in der Kammer orientieren. Der Raum enthielt nichts als eine Pritsche, einen hohen Schemel und einen Tisch, auf dem schon das Abendessen der Genossin Mascha bereitstand – ein Blechkrug mit Wasser und ein Stück Brot. In der Ecke links von der Tür stand ein Nachtgeschirr, daneben ein Waschgefäß – das war alles. Da war ich nun in der Kammer dieses fremden Mädchens und versuchte zu überlegen. Natürlich gab es auch hier keine Hoffnung für mich zu entkommen; wenn sie mich auch nicht jetzt gleich bei Maschas Eintritt entdeckten – was das Wahrscheinlichste war, denn schon die Überraschung des Mädchens konnte mich verraten – so wurde ich sicher am nächsten Morgen gefunden, sobald es hell geworden sein würde. Die Tür war verschlossen, das Fenster zu klein. Selbst wenn es mir gelungen wäre, den Schließer lautlos zu überwältigen, so hätte ich das gleiche hinterher noch mit zehn bis zwölf Wachtposten vollbringen müssen und wäre schließlich doch einer Patrouille oder sonst einer Übermacht in die Arme gelaufen. Nein, das, was ich versucht hatte, war nichts als ein lächerlicher verzweifelter Jungenstreich und ich konnte nur abwarten und allenfalls wieder irgendeine unwahrscheinliche Gelegenheit benutzen. Aber wenn ich schon keine Hoffnung mehr zu haben glaubte, warum blieb ich dann noch in dieser Zelle? Warum ging ich dann nicht gleich dem mit der »Genossin Mascha« eintretenden Schließer entgegen und überlieferte mich ihm nicht mit irgendeiner mehr oder minder einleuchtenden Erklärung? – Jetzt, da ich darüber nachdenke, weiß ich, was mich zurückhielt. Es war Neugier ... so wunderlich das[61] klingt. Ich hatte hier und da das schöne und elende Gesicht der »Genossin Mascha« erblickt und war, einige Stunden vor meinem Tode, neugierig, noch irgend etwas von einem anderen Menschenleben zu erfahren. Wenn man darüber nachdenkt ... könnte man da nicht verrückt werden? – Morgen soll ich sterben – und heute verlangt mich noch danach, etwas vom Leben zu wissen. – Warum? zu welchem Zweck? – Ich kann mir so etwas Unsinniges gut vorstellen – also zum Beispiel so etwas: ich stehe schon vor einer Kirchhofsmauer – drüben die Soldaten, die mich erschießen sollen – vielleicht fragt mich da ein anwesender Kommissar, ob ich noch einen letzten Wunsch hätte – und weil grade in diesem Augenblick etwa ein Zeitungsjunge vorüberläuft, der irgendeine merkwürdige oder wichtige Nachricht ausschreit, so antworte ich dem Kommissar: lassen Sie mich eben noch hören, was da geschehen ist! Ich weiß ganz sicher, so etwas könnte ich tun. Drei Minuten später ist man tot, im Augenblick aber wäre es doch noch eine Art Trost, zu wissen, ob Lénin seiner Wunde erlegen ist oder nicht, ob der Admiral Koltschák die Stadt Perm besetzt hat oder nicht, oder was es sonst immer sein möge. Dieses Wissenwollen – was ist das? – ist es vielleicht nur das Lebenwollen – ganz ohne Sinn und Verstand und Logik nur das Lebenwollen? ... Ja, ja, das allein muß es sein. Sonst nichts. Lieber Gott, wie traurig, wie schauerlich, wie wunderbar!

Jetzt kamen wieder die Schritte heran, wieder das Gerassel der Schlüssel. Ich drückte mich hinter die Tür. Jemand trat ein – Stimmen – Lichter – oh, ich sah und hörte jede Einzelheit. Dann wurde es draußen still und ich wußte: Jemand war da. Mascha mußte es sein. Dieser Jemand ging auf seine Pritsche zu. Ich entschloß mich rasch und ließ einen zischenden Ton hören. Die Gestalt blieb stehen und lauschte. Ich flüsterte: Mania, verzeihen Sie. – Es klang zurück: wer ist da? – Ich darauf: erschrecken Sie nicht, ich erkläre alles gleich, ich bin auch gefangen, ich soll morgen sterben. – Dann die Stimme: warum nennen Sie mich Mania? – Dann ich: weil ich diese Bestien Sie »Mascha« nennen hörte, ich wollte Sie anders nennen.[62] – Nach einer kurzen Pause sagte die Gestalt: kommen Sie hierher in das Licht und sagen Sie alles. – Ich gehorchte. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Heute, da ich dieses niederschreibe, muß ich sterben – oder doch spätestens morgen – aber wenn ich noch hundert Jahre lebte, so würde ich nie den Anblick und den Augenblick vergessen, wie Manias Gesicht mir gegenüber in diesem kümmerlichen Lichtstreif erschien. Das Gesicht war schön und sehr blaß und sehr elend und das Haar dunkel. Manias Augen sahen aus wie brennend, aber von einem schwarzen Feuer. Doch unser gegenseitiges Schauen und Staunen konnte nichts mit Verliebtheit zu tun haben. Du darfst doch nicht vergessen, Tania: – ich war mir immerzu bewußt, daß ich nach einigen Stunden sterben mußte. Ich würde aber gewiß gern zwei-, dreimal sterben, wenn ich jedesmal vorher dieses über alle Beschreibung hinaus wunderbare Gesicht zu sehen bekäme. Du darfst mich jetzt nicht mißverstehen, Tania. Für mich bist du gewiß viel schöner, aber um Schönheit allein handelt es sich hier nicht. Man muß versuchen, das mitzuerleben, was ich in diesen Augenblicken erlebte. Zum Tode verurteilt, in eine dunkle Kammer gesperrt mit einem anderen mindestens ebenso gequälten Geschöpf, und beide ohne Hoffnung zu sein – und dann auf einmal so etwas vor sich zu sehen – nichts als ein Gesicht – aber in diesem Gesicht Schönheit, Jugend, Elend, Adel, Herz, Bitterkeit und äußerstes Zertretensein – alles auf einmal – wie mit einem Schlag alles auf einmal da ... ach ihr Menschen alle, die ich liebe, könnte ich nur ein paar kurze und starke Worte finden, um euch zu schildern, was für himmlische und höllische Heerscharen von Schönem und Traurigem, von Erleben und Entsetzen uns in einem einzigen Augenblick aus einem einzigen solchen Gesicht entgegenspringen können! aber ich kann's nicht, ich kann's ja doch nicht. Und was nützen überhaupt so unmögliche Wünsche in letzter Stunde.

Also da standen wir nun im Lichtstreif und schwiegen und sahen einander an. Dann wurden Manias Augen feucht – sie mußte wohl in meinem Gesicht etwas Ähnliches gesehen[63] haben wie ich in dem ihren – sie machte plötzlich eine heftige Bewegung mit dem Kopf und wiederholte: erzählen Sie alles. Und das tat ich denn auch.

Später saßen wir nebeneinander auf der Pritsche und sprachen immer noch. Bald wußten wir alles Hauptsächliche von einander. Aber wir nannten uns nur Mania und Wáwa, die gesellschaftlichen Formen waren so unwichtig geworden. Mania war das einzige Kind eines in Kronstadt ermordeten Admirals, ihre Mutter war zum Glück schon vor Beginn des Krieges gestorben. Den Familiennamen verschweige ich, wir hatten ihn alle bei der Armee gut genug gekannt. Mania konnte mir nicht sagen, zu welchem Zwecke sie im Gefängnis gehalten wurde. Man vermochte sich eigentlich nur drei Gründe zu denken. Der erste: weil sie einen sehr bekannten Namen führte, konnte sie eines Tages ebenso wie ich als Geisel erschossen werden. Der zweite: sie sollte zur Spionin erzogen werden, die Roten brauchten Damen und Mädchen der guten Gesellschaft für solche Dienste. Der dritte Grund war grausig, ich muß ihn aber doch erwähnen: Mania war die erzwungene Geliebte verschiedener Führer der Tscheká geworden. Es war furchtbar zu hören, mit welcher harten Ruhe und Gleichgültigkeit das Mädchen von diesem Punkt sprach. Hierbei fiel noch etwas vor, was mir als besonders grausig erschien. Mania sagte, nämlich zu mir: wenn es Sie trösten sollte, Wáwa, noch einmal vor Ihrem Tode eine Frau zu besitzen, so können Sie mich haben, es kommt mir auf einen mehr nicht an. – Ich aber konnte ihr nur die Hand küssen und erwidern: ich danke Ihnen, Mania – aber ich habe Ihnen von Tania erzählt – und vor allem, lassen Sie mich nicht teilhaben an der Schändlichkeit, die an Ihnen verübt worden ist. – Sie nickte nur und verstand.

Wie soll ich nun diese seltsame Nacht schildern, die nun folgte, diese Gespräche, dieses Schweigen! Selbst wenn ich es könnte, ich hätte ja doch keine Zeit mehr dazu. Sie können ja in jedem Augenblick kommen. Ich möchte nur noch kurz von der eisigen Kälte, Starrheit und Härte sprechen, worin Mania wie in einem Panzer zu stecken schien. Ganz selten nur brach etwas durch, was mir zeigte, daß eine verschüttete Fülle lebendiger[64] Welt hinter diesem Panzer begraben lag. Selbst wenn unser Gespräch meine bevorstehende Hinrichtung berührte, verriet Mania keine Auflehnung, kein weibliches Mitgefühl. Sie sprach davon ganz sachlich, aber – wie ich genau fühlte – mit ein wenig Neid. Das heißt, sie war freundlich, sie gönnte es mir, aber sie wäre gern an meiner Stelle gewesen. Sonderbar, was alles ein bolschewistisches Gefängnis aus einem Menschen machen kann!

Am Morgen wurde ich natürlich entdeckt und seltsamerweise – von einigen Püffen und Kolbenstößen abgesehen – ohne weitere Mißhandlungen in meine frühere Zelle zurückgebracht. So habe ich jetzt noch Zeit gehabt, von meiner Begegnung mit Mania zu erzählen. Ich weiß auch nicht, wieviel Zeit mir noch übrig bleibt.

Jetzt noch einen Gruß an die Eltern, an Tania, Ina, Katja und Márkof. Nur an diese sechs will ich jetzt noch denken und zwischendurch immer an das gute Sterben.

Fußnoten

1 Sekondleutnant in der russischen Kavallerie.


Quelle:
Henry von Heiseler: Gesammelte Werke. 3 Bände, Band 1, Leipzig 1938 [1937], S. 65.
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