Ein Oster-Requiem

[236] Der Jünger am Grabe


Was stehst du trauernd,

Ewiger Sehnsucht Freund,

Am Grab des Liebsten,

Welchen der Tod verschlang?

Was birgst dein Haupt du,

Schmerzbeschattet,

Und suchst des Menschen

Göttlich Antlitz,

Ach, vergebens?


Der selbst sein Kreuz trug,

Dornengekrönter Held,

Gepeitscht mit Ruten,

Weil in der Wahrheit Wehr

Er zeugen mußte

Wider Weltwahn

Vom innern Himmel-

Reich der Liebe,

Fürst des Lebens.
[237]

Der auch der Schönheit

Rose gesegnet – sieh!

Die Schwester brachte

Blühenden Abschiedsgruß

Dem sonnenmilden

Herzerlöser.

Betaut von Tränen

Irrt Maria

Bleich im Garten ...


Auf Schöpferschwingen

Freudegefilden zu,

Du gramgebeugter

Freund des Erhabenen,

Schwebt der geschmähte

Menschen-Meister

Und thront zur Rechten

Gottes, wo die

Strahlend-Unsterblichen warten.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 236-238.
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