Klage der Jünglinge

[244] Sank die Erde sonnenfern

Nachtwärts, nebelblind?

Weh, auf welchem kalten Stern

Wir geboren sind!

Warum gab der Mutter Schoß

Uns dem Leben preis?

Diese Welt ward seelenlos,

Weide fürs Geschmeiß.
[244]

Sind die Gluten ganz verloht,

Hoher Ahnen Licht?

Ist der Gott der Jugend tot,

Starr sein Angesicht?

Ward der Genius zum Hohn,

Rechtlos, schutzberaubt?

Ist der Edelsinn entflohn,

Der an Größe glaubt?


Unsres Geistes Augen schaun

Ringsum schreckenklar,

Unsern Sinn beschleicht das Graun

Wie ein wüster Mahr.

Höchstes Heiligtum versinkt

In des Weltschlamms Flut,

Der Gemeinheit Sumpf verschlingt

Unschätzbares Gut.


Wehe, die Verzweiflung frißt

Mählich Mut und Kraft,

Zwar das Fähnlein bleibt gehißt,

Doch der Arm erschlafft.

Daß ein Sturmwind zu uns stößt,

Der den Bann zerreißt!

Rings verröchelt unerlöst

Der lebendige Geist.
[245]

Keine Traube wird uns freun,

Keiner Rose Duft,

Trauerblumen laßt uns streun

Auf der Liebe Gruft!

Heute noch ein kleiner Bund

Wider ekle Schmach,

Gehen einsam wir zu Grund –

Unser Reich zerbrach.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 244-246.
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