[170] Vor meinem Fenster schräg empor
steigt eines grauen Hauses Wand,
Hart an ihr drückt den Blick ein Baum,
kohlschwarz und wie von Glut verbrannt.
Ich seh den Baum, ich seh die Wand,
das ist so schwarz und grau und tot,
Mein Auge zürnt und flieht und sucht
ein lebend Grün, ein leuchtend Rot.
Da sieh! Im Winkel fast versteckt
winkt mir ein sprossendes Gebüsch,
Mit welcher Lust hab ich's entdeckt!
Wie wird mir frei und froh und frisch!
Aus jedem Ästchen schlüpft hervor
und trinkt den Tropfen, der ihm träuft,
Ein Blättchenvolk, ein grüner Quirl,
dem Wonne durch die Adern läuft
Das ist der schönste Frühling ja,
der mir vom Hofe Meldung bringt,
Und morgen ist der Mai schon da,
der hold an meine Seele klingt.[171]
Der erste Mai, der erste Mai,
nun lebt es grün, nun leuchtet's rot,
Nun seh ich kein Kasernengrau,
kein kahler Baum ragt schwarz und tot.
Der erste Mai, der grüne Mai,
von roten Wimpeln flutet's drein,
Nun bin ich frisch und froh und frei
und will mein Lied dem Frühling weihn.
Dem Menschheitsfrühling will ich's weihn,
der jubelnd durch die Lande zieht,
Der Hoffnung in die Herzen gießt,
daß Völkerfrost und Elend flieht.
Der Sonne in die Seelen streut,
daß sich verkriecht die Nacht der Not,
Der Blüten lockt am Lebensbaum
mit siegesläutendem Gebot.
Nun kommt zuhauf und feiert all,
die ihr mit Hirn und Muskel schafft,
Nun lobt mit lautem Jubelschall
den Siegeszug der Arbeitskraft!
Das ist ein herrlich Hochzeitsfest
der triumphierenden Idee,
Wie bin ich fröhlich bis ins Mark,
daß ich den Flug der Freiheit seh![172]
Einst mühsam nur, mit schwerem Schlag,
langsam von Haupt zu Haupt sie zog,
Heut mit gewaltigem Fittich schwebt
sie durch der Massen Weltgewog.
Und was der klaren Denker Mut
als waltendes Gesetz erkannt,
Nun wird es Fleisch, nun wird es Blut,
nun wird es Mensch von Land zu Land.
Unüberwindlich groß und stark,
so wächst der Wahrheit Wort zur Tat,
Wie bin ich fröhlich bis ins Mark!
Ich seh der neuen Menschheit Saat.
Ich weiß ein lockend Liebchen mir,
mit dem ich tausche Gruß und Kuß,
Des Maien freuet sich mein Herz,
lebendiger blüht nun der Genuß.
Wenn durch die blauen Lüfte weich
und wonnevoll der Vögel Sang
Sich senkt in unser Liebesreich,
so wollustsüß und sehnsuchtsbang ...
Wie pocht mein Herz, wie leb' ich reich!
Doch höher schlägt mein Herz empor,
Und reicher leb' ich tausendmal,
klingst du, o Weltmai, an mein Ohr.[173]
Du Jubellied der Menschheit du,
die ihrer Freiheit Lenz empfängt,
Du Kraftgesang der neuen Zeit,
die durch die alte Hülle drängt!
O grüner Mai, o blauer Mai,
von roten Bannern voll durchflaggt,
Sei mir gegrüßt in aller Welt,
wo dein Symbol die Herzen packt!
Von Jahr zu Jahr nun streb empor
und dorre und verschwinde nicht,
Und immer kühner sei dein Blick
und lieblicher dein Angesicht!
Du junges Fest der neuen Welt,
deut in die Zukunft licht und groß!
Wir grüßen dich, wir feiern dich,
wir ruhn beglückt in deinem Schoß.
Buchempfehlung
Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«
74 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro