Sang der Thüringer Tannen

[218] Hoch aus Thüringer Tannen

Saust ein Sang:

»Zeiten verrannen,

Ewig währt lang.


Sahn seit tausend Jahren

Viele schon

Weltwald durchfahren,

Karren und Thron.


Prachtschimmernde Kaiser

Reiten stolz,

Armenkinder Reiser

Raffen, Hungerholz.


Goldene Zepter fielen,

Zapfen gleich –

Sturmwinde spielen

Mit arm und reich.
[219]

Mächtige Sturmwinde fegen

Volk und Land,

Wesen sich regen,

Blitzverwandt.


Forschende Menschenköpfe

Schaffen Licht:

Wirkende Geistgeschöpfe

Wandeln das Erdgesicht.


Wütende Kämpfe rasen

Immerfort,

Schalmeien blasen

Mitten durch Mord.


Milde Schalmeien schallen

Hell und klar,

Wahnfesten fallen –

Das ist wahr.


Wie die morschen Ruinen

Auf den Höhn,

Wo die Eisenschienen

Vorübergehn.


Eiserne Schienen spannen

Weit ihr Netz

Über die höchsten Tannen –

Menschenkraft ist Gesetz.
[220]

Weltverkehr ist das Zeichen,

Blitz das Band,

Fichte und Palme reichen

Sich die Hand.


Mensch will Mensch sich verbinden,

Fremder Haß

Mählich verwinden –

Wahr ist das.


Droht noch roher Gewalten

Urkraftgroll –

Feiner will sich entfalten,

Was wachsen soll.


Die sich mühen in Tiefen,

Die da frei

Wirken im Licht, sie riefen:

Not geht vorbei!


Nicht demütig hinkeuchen,

Sei das Los!

Knechtschaft kühn verscheuchen,

Macht das Leben groß.


Luft und Lichtung bereiten

Junger Saat,

Daß die Zweige sich weiten

Hoch und grad.
[221]

Bis die Wachstumsgenossen,

Lichtgekrönt,

Wahren Bund geschlossen,

Zwist versöhnt.


Bis ein heiliges Rauschen

Alles eint,

Wodans Raben lauschen,

Und der leuchtende Siegfried der Welt erscheint.«

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 218-222.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon